Published 27.07.2022

Zuzug auf Zeit

Wege zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung durch einen experimentellen Ansatz

Temporary In-Migration

Towards Sustainable Urban Development by an Experimental Approach

Keywords: Nachhaltige Stadtentwicklung; Klimaneutralität; Migration; Mittelstädte; Sustainable urban development; climate neutrality; migration; medium-sized cities

Abstract:

Für eine Nachhaltigkeitstransformation von Städten nutzt man zunehmend experimentelle Ansätze. In sogenannten Reallaboren wird trans- und interdisziplinär neues Wissen generiert und angewandt. Ein solch experimenteller Ansatz wird in Görlitz mit der Projektreihe des Probewohnens verfolgt. Die Stadt war in den letzten 30 Jahren von großen Bevölkerungsverlusten betroffen, seit einiger Zeit stabilisiert sich die Einwohnerzahl. Mit Blick auf die zukünftige demographische Entwicklung ist die Stadt aber auch weiterhin auf Zuzug angewiesen. Mit dem vorgestellten Projektansatz schaffen Kommune, Wohnungsbaugesellschaft, Wissenschaft und im Verlauf auch lokale Initiativen und Unternehmen zusammen eine Möglichkeit für interessierte Personen, das Leben in einer Mittelstadt auszuprobieren. Im aktuellen Projekt Stadt der Zukunft auf Probe – Ein Wohn- und Arbeitsexperiment für ein klimaneutrales Görlitz wird das Thema nachhaltige Stadtentwicklung fokussiert.

To accelerate sustainability transformation in cities experimental approaches are increasingly being applied. In so-called real-world laboratories, new knowledge is generated and applied in a trans- and interdisciplinary way. Such an experimental approach has been pursued in Görlitz with the project series testing the city. The city has been affected by high population loss over the last 30 years, while recently the number of inhabitants has been stabilising. In view of the future demographic development, however, the city is dependent on inmigration. By the project approach presented here, the municipality, the housing association, science and, in the course of time, local initiatives as well as companies together create an opportunity for interested people to try out life in a medium-sized city. The current project Testing the City of the Future - A living and working experiment for a climate neutral City of Görlitz focuses on sustainable urban development.

Experimentelle Ansätze in der Stadtforschung

Das vor allem im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen aufgebrachte Konzept zur Großen Transformation stellt die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit in den Vordergrund und basiert auf einer Einhaltung planetarer Grenzen. Das Ziel ist ein Übergang in eine klimagerechte und nachhaltige Gesellschaft. Dabei werden vor allem Städte als zentrale Akteure in die Pflicht genommen, da sie besondere Potenziale für die angestrebte Transformation besitzen (WBGU 2016).

Städte sind auf der einen Seite zu einem großen Teil verantwortlich für nichtnachhaltige Prozesse unserer Zeit, zum anderen sind sie aber auch Orte, an denen neue Verhaltensweisen erprobt und implementiert werden. Sie können als Motoren oder auch Initiatoren für eine nachhaltige Entwicklung wirken (BBSR 2020; Nevens et al. 2013; WBGU 2016).

Eine prominente Methode der Nachhaltigkeitsforschung vor allem in Städten ist die experimentelle Erkenntnisgewinnung durch sogenannte Reallabore (Nevens et. al. 2013: 111). Das Konzept basiert auf der Annahme, dass Ausprobieren der beste Weg ist, Fehler zu erkennen und weiteres Wissen zu generieren (Groß et al. 2005: 12). Eine eindeutige Definition und Abgrenzung von Reallaboren wird in der Literatur derzeit intensiv diskutiert, jedoch werden bestimmte Charakteristiken übereinstimmend dieser Methode zugeschrieben. Dabei sollen Reallabore transdisziplinär und ko-produktiv angelegt sein. Neben Forschenden sind dies auch Personen aus der Praxis oder aus Initiativen und ehrenamtlich Engagierte, die sich auf Augenhöhe begegnen. Reallabore zielen darauf ab, Veränderungen in der Praxis zu erreichen, stellen aber gleichzeitig einen Anspruch an die wissenschaftliche Arbeit. Neben der gemeinsamen Entwicklung von Forschungsfragen und Forschungsdesign erfordert ein solch lernender Prozess auch eine kontinuierliche Reflexion der eigenen Methodik. Reallabore können auf den verschiedenen räumlichen Ebenen, Haushalt – Quartier – Stadt, erfolgen (Beecroft und Parodi 2016; Schäpke et al. 2018; Schneidewind 2014).

Transformative Veränderungsprozesse und Reallabore stehen häufig im Gegensatz zu formalisierten Verwaltungsabläufen mit klar abgrenzbaren Schritten. Transformationen sind aufgrund ihrer Vielschichtigkeit nicht umfassend planbar und betreffen häufig sehr viele und diverse Handlungsfelder (BBSR 2017: 69). Was sich jedoch zunehmend neben der formellen Planung vieler Stadtverwaltungen etabliert, sind informellere Projekte, welche Ansätze eines Reallabors haben und von unterschiedlichen Akteursgruppen nicht selten auf erfinderische Art und Weise durchgeführt werden. Auch hier sind Charakteristiken, wie das gemeinsame Lernen und Verbessern oder der Einbezug von verschiedenen Personengruppen und Interessensvertretenden wichtige Aspekte.

Immer öfter wird in sogenannten Stadtlaboren eine Zusammenarbeit zwischen Verwaltungen, Forschungseinrichtungen und lokalen Akteursgruppen praktiziert, mit dem Ziel, Wissen zu erzeugen, welches den Bedürfnissen der Stadtgesellschaft entspricht und möglichst schnell in Handlungen umgesetzt werden kann.

Die lokalen Akteursgruppen treten zunehmend selbstbewusster und gut organisiert für ihre Belange ein. Oft übernehmen sie mit ihrem Einsatz Aufgaben der Daseinsvorsorge, die Kommunen aufgrund knapper Finanzhaushalte nicht mehr leisten können. Diese Projekte aus unterschiedlichen sozialen Gruppen stehen vor allem in geschrumpften Städten oft in Zusammenhang mit der Nutzung von zumeist leerstehenden Räumen. Aus einem guten Zusammenspiel von Bürgerschaft und Verwaltungs- sowie Bildungsinstitutionen können sich dabei zukunftsfähige Projekte entwickeln (Bulkeley et al. 2019; Willinger 2015).

Der vorliegende Beitrag stellt einen solch experimentellen Ansatz vor, welcher seit einigen Jahren in der Stadt Görlitz praktiziert wird. Nach einer kurzen zeitlichen und inhaltlichen Einordnung der Projektreihe des Probewohnens/ Stadt auf Probe wird detaillierter auf erste Erkenntnisse und Erfahrungen des aktuell laufenden Projektes der Reihe Stadt der Zukunft auf Probe – Ein Wohn- und Arbeitsexperiment für ein klimaneutrales Görlitz eingegangen, bei dem ein thematischer Fokus auf nachhaltiger Stadtentwicklung liegt.

Die Projektreihe des Probewohnens: Stadt auf Probe in Görlitz

In der Stadt Görlitz wird bereits seit dem Jahr 2008 ein experimentelles Vorgehen im Zusammenspiel von Wissenschaft, Verwaltung und lokaler Wohnungsbaugesellschaft erprobt und weiterentwickelt (Pfeil 2014). In der Projektreihe des Probewohnens/ Stadt auf Probe, steht vor allem die Gewinnung neuer Erkenntnisse über Bedarfe und Anforderungen an einen zukunftsfähigen Standort im Vordergrund (siehe Tabelle 1). Daneben geht mit der Gewinnung neuer Einwohner:innen eine Wiederbelebung und Revitalisierung der bauhistorisch wertvollen und denkmalgeschützten Bausubstanz in der Innenstadt einher. Die östlichste Stadt Deutschlands ist vor allem aufgrund dieser wertvollen Bausubstanz überregional bekannt. Gebäude aus verschiedenen Stilepochen (Gotik, Renaissance, Barock und Gründerzeit) finden sich in der Innenstadt von Görlitz. Im zweiten Weltkrieg blieb die Stadt von Zerstörungen nahezu verschont und somit hat sie heute mit ihren 4.000 Einzeldenkmälern eine der am besten erhaltenen Stadtkerne Mitteleuropas. Während die Altbauten zu DDR-Zeiten größtenteils vernachlässigt worden sind, wurde nach der deutschen Wiedervereinigung mit Hilfe von viel öffentlichem und privatem Engagement ein Großteil der historischen Altstadt denkmalgerecht saniert (siehe Abbildung 1 und Abbildung 2).

Görlitz hatte in den letzten 30 Jahren aber auch große Einwohnerverluste zu verzeichnen. Bereits vor der deutschen Wiedervereinigung verlor die Stadt Menschen. Dieser Verlust verstärkte sich jedoch massiv nach der Wende. In den 15 Jahren nach der Wiedervereinigung hat die Stadt circa ein Viertel ihrer Bewohnerschaft von 1990 verloren (Stadt Görlitz 2009: 4). Ursache für die hohen Bevölkerungsverluste waren, wie in vielen ostdeutschen Städten, Arbeitsplatzverluste aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels, die Abwanderung vor allem junger Menschen, die Verlagerung des Wohnsitzes in umliegende Gemeinden sowie niedrige Geburtenraten. Eine Auswirkung dieser Abwanderungen zeigt sich in vielen Leerständen sowohl in Wohn- als auch Gewerbeeinheiten vor allem in der gründerzeitlich geprägten Innenstadt. Seit einigen Jahren stabilisiert sich die Bevölkerungszahl wieder und steigt sogar leicht an. Aktuell leben circa 56.500 Menschen in der Stadt Görlitz (Stadt Görlitz 2021: 3). Mit Blick auf die demographische Entwicklung bleibt die Stadt jedoch weiterhin auf Zuzug angewiesen, wenn die Einwohnerzahl nicht wieder sinken soll.

Die Stadt Görlitz hat sich zum Ziel gesetzt bis zum Jahr 2030 klimaneutral zu werden. Der im Jahr 2020 veröffentlichte Leitfaden Klimaneutralität beschreibt auf Basis einer Ist-Analyse Effizienzpotenziale für die Stadt, die vor allem für die Sektoren Stromerzeugung, Wärmeversorgung, Industrie und Verkehr herausgestellt werden. Der Leitfaden zeigt aber auch die Herausforderungen auf, die auf die Stadt Görlitz zukommen und nur gemeinsam mit Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Bürgerschaft bewältigt werden können. Darüber hinaus braucht es Input und Fachwissen von außen, damit die Stadt ihr ambitioniertes Ziel erreichen kann (Stadt Görlitz 2020). Die Transformation hin zu einer nachhaltigen, klimaneutralen Stadt erfordert neben dieser fachlichen Kompetenz in verschiedenen Handlungsfeldern auch nachhaltige Arbeits- und Lebensweisen.

Kern der Projektreihe des Probewohnens/ Stadt auf Probe ist immer die Möglichkeit des Ausprobierens des Standortes Görlitz für einen bestimmten Zeitraum (vergleichsweise Tabelle 1). Im Verlauf der Jahre entwickelte sich der Ansatz vom reinen Ausprobieren des Wohnstandortes (vergleichsweise Pfeil 2014, Zöllter et al. 2017) hin zum Ausprobieren des Wohn- und Arbeitsstandortes (vergleichsweise Zöllter et al. 2019). Für diesen Ansatz benötigt es eine kooperative Zusammenarbeit zwischen der Forschungseinrichtung für die wissenschaftliche Begleitung, der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft, für die Bereitstellung der Wohnungen, sowie der Stadt Görlitz mit der Offenheit für solch einen Ansatz und der fachlichen Expertise zu Fragen der Stadtentwicklung. Mit der zusätzlichen Komponente Arbeitsstandort kamen drei lokale Initiativen hinzu, welche ihre Arbeitsräume für eine probeweise Nutzung kostenfrei zur Verfügung stellten: Der Verein KoLABORacja e. V. betreibt seit vielen Jahren einen Co-Working-Space in der Görlitz Innenstadt, das Kühlhaus Görlitz ist ein etabliertes Projekt der Wiedernutzbarmachung eines alten Industrieareals, in dem heute verschiedene Werkstätten genutzt werden können und in dem Ausstellungsraum, welchen der Wildwuchs e. V. in der Görlitz Altstadt anbietet, können Künstler:innen ihre Projekte und Werke präsentieren. Im Rahmen des ersten Projektes, welches nehmen der Wohn- auch die Arbeitskomponente mit betrachtete, nahmen vor allem Personen teil, die ortsungebunden arbeiten konnten und die schwerpunktmäßig in der Kreativwirtschaft tätig waren.

Tabelle 1: Übersicht Projektstaffeln der Projektreihe ab 2015. Quelle: Eigene Darstellung.

Das Projekt Stadt der Zukunft auf Probe

Die gesamte Projektreihe ist geprägt von einer ko-kreativen Zusammenarbeit eines etablierten Partnerkreises, der kontinuierlich neue Fragestellungen und Ansätze für das Projektdesign einbringt und entsprechend inhaltlicher Neuerungen erweitert wurde (siehe Tabelle 1). Nach den erfolgreichen Projekten Probewohnen Görlitz – Altstadt (2015 - 2017) und Stadt auf Probe – Wohnen und Arbeiten in Görlitz (2018 - 2020), wurde seitens der Stadtverwaltung eingebracht, Aspekte eines gezielten Zuzugs in die Stadt zu adressieren. Vor dem Hintergrund, dass für die zukünftige Entwicklung und den ambitionierten Plan bis 2030 klimaneutral zu werden auch spezifische Zielgruppen gewonnen werden müssen, sollte das neue Projekt eine Verknüpfung mit der Zielsetzung der Klimaneutralität erhalten. Um über den Kunst- und Kulturbereich hinaus vielfältige Arbeitsmöglichkeiten anzubieten, wurden lokale Unternehmen und weitere Forschungseinrichtungen mit in den Projektpartnerkreis einbezogen: Die lokalen Lehr- und Forschungseinrichtungen Hochschule Zittau/ Görlitz und CASUS- Center for Advanced Systems Understanding, die Unternehmen Stadtwerke Görlitz AG und Siemens Energy konnten als Projektbeteiligte gewonnen werden. Diese Einrichtungen stellen ein Arbeitsumfeld, welches den Teilnehmenden erste Anknüpfungspunkte geben soll, zur Verfügung. Die Beteiligung der Initiativen, welche Arbeitsräume und der Wohnungsbaugesellschaft, welche drei möblierte Wohnungen in der Stadt zur Verfügung stellte, konnte ebenfalls aufrechterhalten werden.

Mit diesem Ansatz können in der aktuellen Staffel über einen Zeitraum von 18 Monaten je dreimonatige Aufenthalte für jeweils drei Haushalte ermöglicht werden. Am Ende werden somit 18 Teilnehmende in Görlitz zur Probe gearbeitet und gelebt haben, die (hoffentlich) in die Institutionen und Initiativen und im besten Fall in die breitere Stadtgesellschaft hinein gewirkt haben und deren Erfahrungen wissenschaftlich ausgewertet werden können.

Der erweiterte Projektansatz und die Anforderung, sich mit einer konkreten Idee oder einem Konzept für das Projekt zu bewerben, erforderte ein verändertes Projektdesign und stellte höhere Anforderungen an die Koordinierung und Kommunikation.

Die fachliche Erweiterung führte dazu, dass sich das wissenschaftliche Projektteam bei der Auswahl der sich bewerbenden Personen stärker mit den Partnerinstitutionen austauschen musste, um Passfähigkeit herstellen zu können. In einer engen Zusammenarbeit mit den Partnerinstitutionen wurden mögliche Arbeitsmodelle abgestimmt. Neben dem weiterhin möglichen Neu-Start und Kreativ Sein in Form von ortsungebundener oder freiberuflichen Tätigkeit ermöglichte der Partnerkreis auch die Modelle des Einstiegs in Form von beispielsweise Praktika oder Hospitationen oder des Austauschens bei dem sich Personen von ihrem Unternehmen entsenden lassen können, um neue Kontakte und eventuell Geschäftsfelder erschließen zu können. Im Projektverlauf stellte sich heraus, dass es sowohl für die aufnehmende Seite als auch die potenziell Teilnehmenden zielführend war, auf Grundlage der Bewerbung vertiefte Gespräche zu führen, um Erwartungen, Projektoptionen und Anknüpfungsmöglichkeiten zu diskutieren. Dieser zunächst nicht eingeplante Schritt stellte sich als unbedingt notwendig, aber auch gewinnbringend für alle Beteiligten heraus.

Auf den offenen und – mit Hilfe der Netzwerke der Partnerinstitutionen – weit gestreuten Bewerbungsaufruf gingen 70 Bewerbungen ein. Auch wenn teilweise die konkrete Anknüpfung an die thematische Fokussierung der Klimaneutralität beziehungsweise nachhaltigen Stadtentwicklung nicht oder nur bedingt gegeben war, stellten die Bewerbungen doch durchweg ein ernsthaftes Interesse an der Stadt Görlitz dar. Das Projekt sprach mehrheitlich Personen an, die sich derzeit intensiv mit einem Wohnstandortwechsel auseinandersetzten. Das schon aus den Vorgängerprojekten bekannte große Interesse von Personen aus Großstädten und Ballungsräumen zeigte sich auch in der Bewerberlage in diesem Durchgang. Zwei Drittel der Bewerbungen kamen von Personen, die aktuell in einer Großstadt mit mehr als 100.000 Menschen lebten (siehe Abbildung. 3). Dabei waren vor allem Berlin und die sächsischen Großstädte vertreten. Darüber hinaus gab es mit 30 Prozent auch einen hohen Anteil an Bewerbungen aus dem Ausland, hier vor allem aus Polen, aber auch aus Österreich sowie Brasilien und den USA.

Herkunft der Bewerber:innen im Projekt Stadt der Zukunft auf Probe – Stadtkategorie.
Abbildung 3: Herkunft der Bewerber:innen im Projekt Stadt der Zukunft auf Probe – Stadtkategorie. Quelle: Eigene Darstellung.

Die Altersstruktur der Bewerber:innen war recht ausgeglichen (siehe Abbildung 4). Neben Personen, die sich auf den Berufseinstieg vorbereiten, sprach das Projekt auch junge Familien an, die über einen Standortwechsel nachdachten sowie bereits wirtschaftliche etablierte Personen, die einen beruflichen Wechsel oder eine Erweiterung ihres Arbeitsfeldes in Erwägung zogen.

Altersgruppen der Bewerber:innen im Projekt Stadt der Zukunft auf Probe.
Abbildung 4: Altersgruppen der Bewerber:innen im Projekt Stadt der Zukunft auf Probe. Quelle: Eigene Darstellung.

Bereits in der Vielfalt der Bewerbungen zeigte sich die Komplexität der Thematik nachhaltige Stadtentwicklung und Klimaneutralität. Die Tätigkeitsfelder und damit einhergehenden Projektideen der Bewerber:innen spiegelten sehr unterschiedliche Disziplinen und Perspektiven wider. So gab es Personen, die sich vor allem wissenschaftlich-technisch mit den Herausforderungen der Transformation einer Stadt hin zu mehr Nachhaltigkeit beschäftigten. Einige setzten dies auch noch in den Kontext des regionalen Strukturwandels. In einer Vielzahl von Kultur- und Kreativprojekten sollte eine künstlerische Annäherung an das Thema erfolgen. Aber auch ganz konkrete Projektideen aus den Bereichen nachhaltiger Konsum, Mobilität oder Wohnen wurden formuliert. Ein weiterer Strang war die Beschäftigung mit dem bereits vorhandenen Wissen und zivilgesellschaftlichen Engagement in der Stadt und deren Ausbau und eventuelle Unterstützungsmöglichkeiten.

Im Bewerbungsformular wurden die Interessierten gefragt, welche Themen sie mit nachhaltiger Stadtentwicklung und Klimaneutralität verbinden. Hier zeigte sich ebenso ein breites Spektrum an Antworten. Aus einem eher sozial-gesellschaftlichen Blickwinkel wurden beispielsweise ein gesellschaftliches Miteinander, die Generationengerechtigkeit und Beteiligung im Prozess genannt. Aus einer ökologischen Sichtweise heraus fielen häufiger Begriffe wie Umweltfaktoren oder auch Stadtgrün. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten nannten die Bewerber:innen beispielsweise die Kreislaufwirtschaft, Ressourcennutzung, aber auch Verkehr und Mobilität innerhalb der Stadt bis hin zu erneuerbaren Energien und neuen Technologien.

Mit Zuzug auf Zeit zur nachhaltigen Stadt?!

Derzeit ist der erste von insgesamt sechs Durchläufen, in denen jeweils drei Haushalte parallel in Görlitz zu Gast sind, abgeschlossen. In einer ersten Reflexion zeigt sich, dass der Aufenthalt von nun drei Monaten die Möglichkeit bietet, sich auf den Standort einzulassen und auch längerfristige Aktivitäten zu entfalten. Einzelne Personen beschäftigen sich bereits im Vorfeld ihrer Aufenthalte intensiver mit der Stadt, treffen Vorbereitungen und knüpfen Kontakte. Somit entstehen auch über die eigentlichen Probezeiträume hinaus Wirkungen in der Stadt.

Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitung erfolgte unter anderem eine Diskussionsrunde zwischen den Teilnehmenden und verschiedenen Personen aus der Stadtgesellschaft. Hier konnten ko-produktiv erste Anhaltspunkte gewonnen werden zur Wirkung der Profilierung der Stadt Richtung Klimaneutralität sowie zur Aufnahmebereitschaft der ansässigen Stadtgesellschaft.

Deutlich wurde dabei bereits, dass eine durch die Stadtspitze gesetzte Zielsetzung der Klimaneutralität in der Umsetzung vor allem Kommunikation und Kooperation zwischen den Sektoren der Stadtgesellschaft erfordert, damit gemeinsames Engagement entsteht und diese Zielsetzung mit Leben gefüllt wird.

Darüber hinaus zeigt sich, dass die Teilnehmenden an die Profilierung der Stadt Erwartungen knüpfen und diese nicht alleinig dazu führt, den Standort als attraktiven Wohn- und Wirkungsstandort wahrzunehmen. Die Offenheit, sich auf neu hinzukommende Ideen, Konzepte und Wirtschaftspraktiken einzulassen, muss ebenso vorhanden sein wie ein attraktives Wohnangebot und Wohnumfeld. Die Teilnehmenden des ersten Durchgangs betonten ebenso wie lokal Ansässige und Tätige, dass nur ein Miteinander von Stadtpolitik, Verwaltung und aktiven Menschen aus breiten Schichten der Stadtgesellschaft zum Erreichen des Ziels der Klimaneutralität führen kann.

Aufgrund der andauernden Corona-Pandemie und damit einhergehenden verschiedenen Beschränkungen wird das Vernetzen in der Stadt – vor allem außerhalb der aufnehmenden Partnerinstitution – erschwert. Viele Termine und Austauschgespräche finden digital statt und bieten daher wenig Raum und Möglichkeiten für informellen Austausch. Das Projektteam versucht zumindest die Vernetzung mit den Teilnehmenden, der Teilnehmenden untereinander und der am Projekt beteiligten Partnerinstitutionen bestmöglich zu unterstützen. Der kontinuierliche Lern- und Auswertungsprozess der Projektbeteiligten sowie die Entwicklung und Verbesserung einzelner Aspekte im Projektablauf ist durch digitale Zusammentreffen des Partnerkreises möglich, wenngleich ein ungezwungener Austausch eingeschränkt ist.

Es ist deutlich geworden, dass das aktuelle Vorhaben zum Zuzug auf Zeit in Görlitz sowie die gesamte Projektreihe des Probewohnens/ Stadt auf Probe experimentellen Charakter hat und die wesentlichen Merkmale eines Reallabors trägt. Das lebensweltliche Ausprobieren eines Standortes ermöglicht den Teilnehmenden das Treffen einer im Hinblick auf harte und weiche Standortfaktoren fundierten Entscheidung eines etwaigen Umzugs. Weiterhin hat sich die Ko-Produktion von Wissen unter Zusammenwirkung von Wissenschaft, den Teilnehmenden sowie den weiteren Partnerinstitutionen bereits jetzt als fruchtbar erwiesen.

Eine transformative Wirkung geht zudem vom Wirken der Teilnehmenden während ihrer Aufenthalte in der Stadt aus. Von ihnen initiierte Kunstausstellungen, Workshops oder Kulturbeiträge ergänzen etablierte Angebote und bereichern das Stadtleben temporär. Einige angestoßene Aktivitäten sind auch von lokalen Agierenden übernommen worden und damit in der Stadt geblieben, zum Beispiel eine Marktschwärmerei zur Direktvermarktung regional produzierter Lebensmittel. In den beiden abgeschlossenen Projekten ist ungefähr jeder zehnte Haushalt im Anschluss an den Probeaufenthalt nach Görlitz umgezogen. Die Neugörlitzer:innen nutzten den Standort als Inspiration für ihre schreibende Tätigkeit, erschlossen sich neue Räume, um eigene Produkte herzustellen und anzubieten oder etablierten ein neues künstlerisches Format in der Stadt und Region. Auch nach dem ersten Durchlauf des aktuellen Projektes zog eine Person bereits in die Stadt und baute eine mittelfristige Kooperation mit der lokalen Hochschule auf.

Die auf Langfristigkeit angelegte kooperative Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Stadtverwaltung und lokalen Initiativen und Handelnden stellt ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal solch experimenteller Ansätze dar und fördert maßgeblich das Vertrauen aller Beteiligten in eine gute Zusammenarbeit. Darüber hinaus entsteht ein geschärftes Bewusstsein über Stärken und Schwächen der Stadt für transformativen Wandel durch und mit Zuzug, welches die Grundlage für eine zukunftsgerichtete Stadtentwicklungspolitik ist.

About the author(s)

Constanze Zöllter, Diplom-Geographin, Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) / Interdisziplinäres Zentrum für transformativen Stadtumbau (IZS). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mittelstädte, Revitalisierung und Innenstadtentwicklung.

Constanze Zöllter, Geographer, PhD candidate and research associate at Leibniz Institute of Ecological Urban and Regional Development (IOER) / Interdisciplinary Centre for Transformative Urban Regeneration (IZS). Her research focuses on medium-sized cities, revitalisation and inner city development.

Stefanie Rößler, Dr.-Ing. Seniorwissenschaftlerin und Projektleiterin am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IOER) / Interdisziplinäres Zentrum für transformativen Stadtumbau (IZS). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Instrumente der Stadt-, Freiraumplanung und Stadterneuerung.

Stefanie Rößler, Dr.-Ing. senior researcher at Leibniz Institute of Ecological Urban and Regional Development (IOER) / Interdisciplinary Centre for Transformative Urban Regeneration. Her research focuses on instrument of urban and green space planning and urban regeneration.

Robert Knippschild, Prof. Dr.-Ing. Raumplaner, ist Leiter des Interdisziplinären Zentrums für transformativen Stadtumbau (IZS) am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) und Universitätsprofessor am Internationalen Hochschulinstitut (IHI Zittau) der Technischen Universität Dresden.

Robert Knippschild, Prof. Dr.-Ing. spatial planner, head of the Interdisciplinary Centre for transformative urban regeneration (IZS) at the Leibniz Institute of Ecological Urban and Regional Development (IOER) and professor at the International Institute (IHI Zittau) of Technische Universität Dresden.

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