Published 31.05.2022

Doing together braucht Begriffsklärungen

Perspektiven auf Souveränitätskonzepte bei kollaborativen Stadtentwicklungsprozessen

Doing Together Needs Explanations

Perspectives on Concepts of Sovereignty in Collaborative Urban Development Processes

Keywords: Transformative Wissenschaft; Souveränität; Kollaboration; Designforschung ; transformative research; sovereignty; collaboration; design research

Abstract:

Der vorliegende Text stellt die Frage, wie partizipatorische und kollaborative Ansätze in Stadtentwicklungsprozessen mit einer Neurahmung von Souveränitätskonzepten als Katalysatoren für transdisziplinäre Forschung besser beschrieben werden können. Der Text rahmt (digitale) Souveränität von Individuen und Kollektiven als flexible Form der Selbstorganisation und der Raumaneignung jenseits formalisierter Planungsprozesse. Er bringt dabei verschiedene disziplinäre Perspektivierungen zusammen, vorrangig aus der Raumsoziologie und der praxisbasierten Designforschung, unter Bezugnahme aktueller Souveränitätsdiskurse – vor dem Hintergrund, dass komplexe kollaborative Prozesse in Forschung, Planung und Gestaltung interdisziplinär zu adressieren sind, um robuste Erkenntnisse zu generieren.

This text asks how participatory and collaborative approaches in urban development processes can be better described by reframing of sovereignty concepts as catalysts for transdisciplinary research. The text frames (digital) sovereignty of individuals and collectives as a flexible form of self-organisation and appropriation of space beyond formalised planning processes. It brings together different disciplinary perspectives, primarily from the sociology of space and practice-based design research, with reference to current discourses on sovereignty - against the background that complex collaborative processes in research, planning and design need to be addressed in an interdisciplinary way in order to generate robust insights.

Implikationen gestalterischer Eingriffe in die Stadt

In Zeiten globaler Veränderungen geraten neue soziale Zusammenhänge im Verhältnis zu physischen Raumanordnungen und Infrastruktursystemen immer mehr ins Blickfeld der städtischen Planungs- und Designdisziplinen. Vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen stellt sich mit neuer Dringlichkeit die Frage nach der sich ständig ändernden Bedeutung der Interaktion und Aushandlung zwischen Individuen und Communities sowie der politischen Öffentlichkeit bei Bauvorhaben. Die aktuellen Debatten um individuelle, lokal verankerte Souveränität – jenseits nationalstaatlicher und territorialer Verständnisse von Souveränität – adressieren Möglichkeiten des selbstbestimmten Handelns und Agierens an der Schnittstelle zwischen Selbstorganisation, gestalterisch-planerischen Interventionen und politischen Entscheidungen. In einem solchen Zusammenwirken unterschiedlicher Positionen und Interessen stellt sich uns die Leitfrage, wie neue Souveränitätspraktiken dazu beitragen, weniger Konfliktlinien und -potenziale prominent zu behandeln, sondern Aushandlungsprozesse kollaborativer und dialogischer zu gestalten, damit diverse Interessen, Bedürfnisse und Wissensdesiderate produktiv aufeinander bezogen werden können.

Designer:innen und Planer:innen greifen durch die Gestaltung von Räumen und Objekten in soziale Beziehungen ein, wobei die Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt in ihrer Komplexität oft kaum angemessen bedacht oder antizipiert werden können.

Eine kritische Betrachtung stellt Fragen nach der Verantwortung gestalterischer Praktiken, nach Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen und nach den Werten von Gestaltung an sich. Zentral ist dabei, wer für wen, was und wofür gestaltet – eine Frage, die leider allzu oft vernachlässigt wird, die jedoch in transdisziplinären und partizipativen Forschungskontexten immer mehr Aufmerksamkeit erfährt (Kern und Haupt 2021).

Ein veranschaulichendes Beispiel dafür findet sich in Venedig: die vom Stararchitekten Santiago Calatrava 2007-2008 entworfene Verfassungsbrücke (Ponte della Costituzione, siehe Titelbild). Die Fußgänger-Brücke, die über den Canal Grande führt, verbindet den Bahnhof Santa Lucia mit dem Piazzale Roma. Bereits während ihrer Planungsphase hat sie Kritikpunkte aufgeworfen, vor allem in Bezug auf formal-ästhetische Entscheidungen, aber auch bezüglich ihrer Funktionalität – die Brücke war zum Beispiel nicht barrierefrei (Süddeutsche Zeitung 2022). Bereits nach ihrer Einweihung wurde das Fehlen einer Rampe für Rollstuhlfahrer:innen kritisiert, ebenso wie das rutschige Material, mit dem die begehbare Fläche belegt war (Baublatt 2022). Hohe Instandsetzungskosten, bauliche Anpassungen, die bereits kurz nach der Einweihung vorgenommen werden mussten – die Stadt Venedig hat sich der funktionalen Mängel stufenweise angenommen. Nun wurde für das Jahr 2022 ein umfangreicher Umbau der Brücke beschlossen.

Weniger präsent in der Rezeption der Brücke ist aber ein ganz anderes Problem, das durch die Top-down-Entscheidung des Baus auf das Verhältnis zwischen lokaler Bewohnerschaft, Geschäfts- und Gewerbetreibenden einerseits und dem lokalen Staat andererseits ausgelöst wurde: Wie in einem Brennglas eröffnet die Brücke und die diskursiven Reaktionen durch deren Bau einen Blick auf die sich dadurch herausgehobenen kollektiven Beziehungs- und Konfliktlinien in der Stadt. Die bauliche Intervention der Brücke hat enorme Veränderungen des bestehenden sozialräumlichen Beziehungs- und Ökosystems um die Brücke herum ausgelöst (Corriere del Veneto 2009; La Voce di Venezia 2011): Die direkte Verbindung des Bahnhofs mit dem Piazzale Roma, als kürzester Weg und als neue Möglichkeit der Kanalüberquerung, wurde zum Drehpunkt für Tourist:innen. Die „verhängnisvolle Attraktion“, wie sie die Lokalzeitung Corriere del Veneto bereits 2009 bezeichnet (Corriere del Veneto 2009), trug zu einer massiven Fokussierung sowie Umlenkung der Besucherströme bei. Dabei blieb der Fußgängerverkehr dort aus, wo sich über Jahrzehnte ein Milieu aus Nachbarschaft, lokaler Ökonomie mit langjährigen Ladenbesitzer:innen, Dienstleistungsanbietern und Kleinbetrieben etabliert hatte (Corriere del Veneto 2009). Das Eingreifen in die Besucherströme – durch das Hinzufügen der Verfassungsbrücke (Ponte della Costituzione) – führte dazu, dass den Geschäftstreibenden Tourist:innen und Einnahmen entgangen sind. Als Antwort auf die Proteste der Geschäftstreibenden wurden Umleitungsschilder eingefügt, als De-Bugging-Maßnahme, also als Fehlerbehebung, die darauf hinweisen, wie man auf anderen Wegen als der Strada Nuova zu verschiedenen Plätzen und Attraktionen gelangen kann. Dieses Beispiel gibt Hinweise darauf, was Stadtentwicklungsprozesse heutzutage mitbedenken sollten und welche Implikationen ein derartiges Eingreifen in das soziale Gefüge einer Stadt mit sich bringt. Die Beobachtung dieses Falls führt uns zum Erkenntnisinteresse des Beitrags: Wie können aktuell partizipatorische und kollaborative Ansätze in Stadtentwicklung und -forschung diskutiert werden und welche Wirkungszusammenhänge von Souveränitätspraktiken gilt es nachzuzeichnen?

Letzteres bedeutet herauszuarbeiten, wie neue Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten von Individuen und Kollektiven für die Agenda kollaborativer Forschungs- und Transferkontexte bei Stadtentwicklung zu berücksichtigen sind. Wir beziehen uns dabei auf Ansätze der transdisziplinären und transformativen Forschung (WBGU 2016) und stellen Souveränitätsverständnisse vor, die in der Lage sind, über Kollaboration und Ko-Produktion in Stadtentwicklungskontexten zu informieren. Unser konzeptionelles Ziel ist es, entlang einer Neu-Rahmung des Begriffs (digitale) Souveränität, zum einen auf die Rolle kollektiver Handlungsfähigkeit und die dadurch geschaffenen Handlungsspielräume für erweiterte Kollaborationen bei Stadtentwicklungsvorhaben hinzuweisen. Zum anderen zeigen wir, wie Prozesse der Ko-Produktion unterschiedlich gelagerte Interessen produktiv aufeinander beziehen können, sodass neues Wissen entsteht, das zu nachhaltigeren Entscheidungen in Forschung und Praxis führen kann.

Nach einer kurzen Einführung in aktuelle Diskurse um (digitale) Souveränität widmen wir uns Raumnutzungs- und Raumaneignungspraktiken. Die anschließend gestellte Frage nach dem Recht auf Stadt eröffnet den Boden für eine Neurahmung von Souveränität in der Stadtentwicklung, die in einem Verständnis von Stadt mündet, welches weniger die Konfliktlinien betont, sondern die Betrachtung von Ebenen der kollaborativen, integrativen und letztlich gesellschaftspolitischen Praxis vorschlägt. Die interdisziplinäre Zusammenführung verschiedener Diskurslinien, wie sie hier vorgenommen wird, soll zu einem praxeologischen Verständnis der städtischen Komplexität beitragen.

Die Herausforderung Souveränität bei kollaborativen Stadtentwicklungsprozessen

Der Begriff der Souveränität hat eine lange Tradition und wird im politischen Diskurs zumindest dann erneut bemüht, wenn Governance-Strukturen, in denen private und städtische Akteure zusammenwirken, neu verhandelt werden. Klassischerweise wird Souveränität als die höchste Autorität über ein eigenständiges Gebilde beschrieben (Philipott 2016). Vor dem Hintergrund neuer Governance-Formen im Zuge einer sich durch Globalisierung und Digitalisierung neuformierenden politischen Praxis gewinnen verschiedene Souveränitäts-Konzepte erneut an Bedeutung. Spätestens seitdem die Digitalisierung alle Bereiche unseres Lebens erreicht hat, wird die Frage der digitalen Souveränität und damit der Souveränität im 21. Jahrhundert im öffentlichen wie im wissenschaftlichen Diskurs verstärkt verhandelt (Pohle und Thiel 2021) – als Spannungsbogen zwischen Top-down-Entscheidungen, Selbstbestimmungsansprüchen und Handlungsspielräumen in der analogen und digitalen Sphäre. Souveränität ist aktuell zu einer Schlüsselkategorie in Bezug auf die digitale Welt geworden, wobei das Konzept in der Literatur oft als eine diskursive Praxis verhandelt wird (Pohle und Thiel 2020).

Im Diskurs zur Stadt- und Regionalentwicklung wird die wissenschaftliche Debatte um die Souveränität von Orten und Räumen meist mit Begriffen wie territoriale Souveränität oder regionale Souveränität verbunden (Agnew 2020). Konzeptualisiert man Souveränität nicht im Sinne nationalstaatlicher Autorität, sondern als (kollektive) Handlungsfähigkeit und als Handlungsspielraum für Kollaborationen, können Prozesse der Ko-Produktion von Wissen auf ihr transformatives Potenzial hin besser analysiert und im Dialog mit Politik und Öffentlichkeit zukunftsfähiger gestaltet werden. Anhand von Skizzen kollaborativer Prozessgestaltung diskutieren wir, wie ein neu gerahmter Begriff der Souveränität von Individuen und Kollektiven auf Stadtentwicklungsprozesse angewendet werden kann.

Veränderte städtische Raumnutzungsdynamiken

Bauliche Infrastrukturvorhaben wie am Beispiel der Verfassungsbrücke in Venedig eingangs nachgezeichnet geben Anlass, über erwartete und unerwartete Effekte in der Raumorganisation, der Besucher:innenstromlenkung und der Verlagerung von Aufmerksamkeit nachzudenken. In derartigen Stadtentwicklungsvorhaben zeigen sich exemplarisch auch neue Formen der Grenzziehung und der Raumaneignung, die die Bedingungen an eine gerechte Stadt (Sharifi 2021) stellen. Das Beispiel kann als Ausdruck überlagernder individueller und kollektiver Raumverständnisse fungieren, an denen sich unterschiedliche Interessen zunächst als Konflikte manifestieren: Anwohner:innen, Gewerbetreibende und Tourist:innen haben unterschiedliche Raumnutzungsverständnisse, mit denen je unterschiedliche individuelle und kollektive Grenzziehungen einhergehen, innerhalb derer die Menschen ihr je spezifisches Raumgefühl vermessen.

Flexible und alltägliche Grenzziehungen

Die lokal gebaute Brücke wirkt über ihre Brückenfunktion hinaus als Symbol und kommunikatives Vehikel für Modernität und Innovation, sodass sich die Stadt im Tourismus- und Besucher:innenmarkt weiter platzieren kann. Die Attraktion Brücke erzielt eine globale symbolische Reichweite (NYT 2022), sie konterkariert aber auch gleichzeitig gewachsene alltägliche Grenzen des Lokalen, die sich durch Bewegungs- und Nutzungsgewohnheiten im Laufe der Zeit als selbstverständlich und unverrückbar etabliert haben. Alltagspraktisch gesprochen wird das im Alltag erworbene (habituelle) Souveränitätsverständnis, wie eben die einzelnen Anwohner:innen ihren Lokalraum verstehen, durch die Raumnutzung Brücke verändert. Neue Nachfrage- und Nutzungsgewohnheiten stoßen auf Grenzverständnisse und Grenzziehungen der alltäglichen Inanspruchnahme von Raum. Wenn Grenzen nicht mehr fixiert, sondern mobil sind und neu ausgerichtet werden, so bedeuten sie für verschiedene Menschen je unterschiedliche Dinge (Balibar 2002). Damit entkoppelt sich der Begriff des Maßstabs (lokal-regional-national) von festen räumlich-territorialen Kategorien fixierter Grenzziehungen. Wenn letztere nicht allgemeingültige, sondern unterschiedliche Effekte auf soziale Gruppen haben, entsteht durch einen nicht mehr territorial zu beschreibenden Souveränitätsbegriff – verstanden als eine durch alltägliche Nutzungspraktiken erworbene Aneignung des Raums zum Beispiel in Gestalt von meinem Viertel, meiner Community – eine Lücke in der theoretischen Reflexion zu eben diesem.

Die variierenden subjektiven, über den physischen Raum hinausreichenden Grenzverständnisse, die sich oft überlagern oder entgegenwirken, sind dann Chiffre für alltägliche Raumaneignungen (im Physischen wie Digitalen), im Sinne einer Selbstermächtigung in der Raumaneignung, die andere Grenzen markieren als etwa ein administrativ-territorial begrenzter Raum. Ansätze zum Prozess des Bordering betonen zum Beispiel die flexible Art und Weise, in der sich Akteure auf situierte soziale und räumliche Elemente ihrer Lebenswelt beziehen (Johnson und Jones 2014). In der Folge zeigt die Beschreibung differenter sozialräumlicher Reichweite von Grenzen – des fixierten Lokalen wie ebenso des Globalen –, welche Unschärfen sich dadurch ergeben: zum einen in Bezug auf territorial definierte Verständnisse von Souveränität, der darin handelnden Menschen und Institutionen, zum anderen in Bezug auf alltagspraktische Verständnisse selbstbestimmten Nutzens meines Raums.

Formen der Raumaneignungen

Derartige Prozesse der Raumaneignung als Gegenstand der Raumwissenschaften haben seit einigen Jahren Konjunktur (Löw 2008, Löw und Knoblauch 2020). Dabei standen zum einen oftmals pionierartige Akteure mit speziellen Ausdrucksformen (Lange 2007) im Vordergrund sowie zum anderen aber immer öfter soziale Milieus, zivilgesellschaftliche Initiativen und (selbstorganisierte) Akteursgruppen. Die Perspektive auf ihre je situativen und kontextspezifischen Formen der Inanspruchnahme von städtischem Raum nimmt konzeptionelle Anleihen bei subjekt-orientierten Betrachtungen und Sichtweisen auf Stadt
und Raum. Dadurch rücken weniger universalistische als ortsspezifische Verständnisse und Nutzungsformen von Stadt in den Vordergrund.

Bezieht man die relationale Perspektive des Placemaking als Prozess des (An-) Ordnens von sozialen Gütern und Menschen ein (Löw 2008), so wird klar erkennbar, dass auch im direkten Umfeld der Brücke Ponte della Costituzione signifikante Ordnungs- und Anordnungsprozesse von raumrelevanten Praktiken wirksam wurden. Es liegt auf der Hand, dass sich durch enorme raum-zeitliche Kompressionen – einerseits alt-eingesessener Nutzer:innengewohnheiten und andererseits Besucher:innenströme in Bezug zur Brücke – auffallende Konfrontationen entstehen können: Visuell-symbolische Selbstverständnisse des historischen Stadt- und Raumbildes sowie alltägliche Nutzungs- und Konsumgewohnheiten ergeben konflikthafte Reibungspunkte. Sie sind als Ausdruck unterschiedlicher Raumaneignungsverständnisse sowie distinkter Praktiken zu verstehen, die Raum als heterotopen Bezugspunkt aus der Sicht der alltäglichen Nutzungspraktiken zu erkennen geben. Um von einer vorrangigen Betrachtung der Konflikte und Reibungspunkte wegzukommen, sollten fixierte Konzepte von Grenzen und Maßstäbe (etwa lokal versus global) befragt werden. Integrative Ansätze geben konzeptionell zu erkennen, wie sich fließende Orte und flexible Formen der sozialen und sozio-technischen Konstruktion innerhalb „horizontaler“ sozialer Felder „hybridisieren“ und wie sich Prozesse der sozialen Praxis sowie ihrer Materialitäten immer wieder neu ins Verhältnis setzen lassen (Löw 2008).

Diese Verschiebung der sozialräumlichen Verhältnisse wird durch die digitale Transformation und die Neujustierung von lokal versus global erneut befeuert, was zu einer erhöhten Hybridisierung und Komplexität der Wirkungsfelder einzelner Raumaneignungspraktiken führt.

Entgegen der Auffassung von fixierten Grenzen und damit einhergehenden verschachtelten und gestapelten Hierarchie-Verständnissen sowie vorgegebener Maßstabsebene, zeigt der Blick auf die je unterschiedlichen Konstruktionsformen von Grenzziehungen, dass sozialräumliche Kontexte jeweils andere kontingente Handlungsräume eröffnet. Ein solches Verständnis eröffnet den Weg für Ansätze zu einer integrativen und konfliktminimierenden Entwicklungsstrategie, wie sie sich am Beispiel der Ponte della Costituzione nicht zu erkennen gab. Die relationale Perspektive auf je differente Raumaneignungsformen weist da den Weg, unterschiedliche Nutzungserwartungen und -interessen zu erkennen und ins Verhältnis zur politischen Frage zu stellen, wem denn die Stadt eigentlich gehört.

Von der Frage der Raumaneignung und -nutzung zu Fragen der gerechten Stadt?

Orte, wie exemplarisch die Ponte della Costituzione, geben sich immer eindringlicher als das strittige und durch unterschiedliche Interessensgruppen umkämpfte Terrain der globalisierten Stadträume des 21. Jahrhunderts. Sie zeigen Konfliktfelder auf, wenn lokale Akteursgruppen für sie wichtige und bedeutsam gewordene Orte im Verbund mit spezifischen kulturellen Errungenschaften bewahren oder für sich konfigurieren und prägen wollen. In einer globalisierten, durch analoge und digitale Netzwerkstrukturen radikal multiplizierten und hybridisierten Welt, trachten Stadtbewohner:innen immer vehementer danach, sich eine Welt zu erhalten, bei der Kanten und Ecken, Spitzen und Kerben gegenüber der Haptik des digitalen Zeitalters eine neue, gleichsam alte Griffigkeit beibehalten können. Das Beispiel Ponte della Costituzione zeigt auch, wie in ausnahmslos unterschiedlichen Kontexten Menschen um die Sicherstellung des Zugangs zu öffentlichen Orten im Städtischen, als Ausdruck gesellschaftlicher Teilhabe und der Wahrung sozialer Infrastrukturbedürfnisse, ringen (müssen): politisch, planerisch, kulturell, sozial und ökonomisch. So versuchen verschiedene Initiativgruppen mit neuen Formen der spontanen und temporären Raumaneignung auf derartige sozioökonomische Verwerfungen, soziale Fragmentierungen und kulturelle Exklusionen zu reagieren oder hinzuweisen. Nicht zuletzt zeigt diese temporäre Praxis der Raumaneignung und der Umcodierung, dass das lange Zeit eindeutige und immerwährende fixierte Verhältnis der Stadtbewohner:innen zu ihrem Ort zersprungen ist: Es sind immer mehr teilkollektive, temporäre, wenngleich ortsbezogene und partikulare Interessensgruppen und nicht mehr homogenisierte Ortsansprüche der Stadtnutzer:innen, die sich für ihre generellen spezifischen Interessen einsetzen (Lange et al. 2020).

Gerechtigkeits- und Zugangsfragen zur Stadt sowie Fragen räumlicher Teilhabe unterliegen somit nicht mehr einheitlichen Anliegen, wenn es um die Ausgestaltung von städtischen Orten geht. Vielmehr durchziehen Effekte disruptiver globaler Verwerfungen derartige thematische Assemblages:

Klimawandel, Energiekrise, Digitalisierung, Mobilitätsumbau, wirtschaftlicher Strukturwandel veranlassen gezwungenermaßen eine immer größere Anzahl von Menschen, über neue Formen der Rückgewinnung des Städtischen nachzudenken und nach neuen sozialen Sinnstiftungsprozessen in der Stadt zu suchen.

Welches Wissen transformiert Stadt?

Da sich Stadtentwicklung – wie oben vorgestellt – durch multiple Prozesse in Gestalt von heterogenen Erwartungen und Interessen räumlich und sozial fragmentiert, wird der Ruf nach einer prozessorientierteren und -ortsspezifischen Ausrichtung von Stadtentwicklung lauter. Damit steht aber konzeptionell die Frage im Raum, wie sich im Verlauf derartiger Prozesse die Rollensituation von Entscheidungsträger:innen ändert und wie damit umgegangen werden kann. Bottom-up-Beteiligungen, Nutzer:innenorientierung, kollaborative Stakeholderprozesse und transformative Forschungskonzepte geben sich als stetig wandelnde Meinungsführerschaften zu erkennen. Dadurch ergibt sich das Problem, wie neue Formen der Kollaboration und der Zusammenarbeit – jenseits des formalisierten Planungsrechts – in Stadtentwicklungsprozessen in ein erweitertes demokratisches Teilhabeverständnis zu bringen sind.

Wir richten unser Augenmerk daher darauf, welche konzeptionellen und begrifflichen Konsequenzen sich für ein Verständnis von Souveränität ergeben, wenn vermehrt offene und neu ausgerichtete Interessensfelder zu gänzlich veränderten prozessualen Entwicklungsdynamiken führen. Um derartige kollaborative Multistakeholdersituationen adäquat anzusprechen, bringen wir ergänzende transdisziplinäre Forschungsperspektiven auf Stadtentwicklungsprozesse. Konkret bedeutet dies, zu erläutern, welche Wissensformen und Transformationspraktiken hier zu berücksichtigen sind, um Debatten des Stadtmachens zu verstehen. Wir differenzieren dabei ein erweitertes Souveränitätsverständnis, wobei wir den Fokus auf das Doing together legen, um die dabei hergestellten Wissensbestände und ihre Implikationen zu verstehen. Wir beziehen uns mit der Eröffnung des erweiterten prozessbasierten Souveränitätsverständnisses auf die Rolle transformativen Forschens im Kontext der Stadtentwicklung und zeigen erste Brückenideen, welche Anschlussfähigkeiten sich für Stadtentwicklung ergeben.

Doing together: Neurahmung von Souveränitätspraktiken in transdisziplinärer Forschung

Souveränität als Schlüsselbegriff liegt vielen politischen und wissenschaftlichen Diskursen zugrunde, als ein Streben nach mehr Unabhängigkeit und Selbstbestimmung (Pohle 2020). Die „an der Trias von Bevölkerung, Territorium und Staatsgewalt orientierte Souveränität“ (Thiel 2020: 48) wird heute, angesichts sich ändernder Vorstellungen von relationalen, dynamischen und kollaborativen Praktiken des Sich-Organisierens und der damit einhergehenden Re-Konfiguration von Herrschaftsbeziehungen, aber auch in Bezug auf das Digitale neu herausgefordert.

Für uns stellt sich die Frage, wie eine Neurahmung von Souveränität helfen kann, Prozesse der Selbstermächtigung, Selbstbestimmung und Autonomie durch kollektive und kollaborative Governance-Formen – hier im Feld der Stadtentwicklung – besser zu verstehen und zu beschreiben. Das Spannungsverhältnis zwischen Staat und Bürger:innen, die Machtverhältnisse zwischen dem öffentlichen, dem privaten und dem dritten Sektor (nicht-gewinnorientierte Organisationen) können durch ein erweitertes Verständnis von Souveränitätsbehauptungen neu betrachtet werden – als Möglichkeitsräume für kollektive und kollaborative Governance-Strukturen, für neue Formen der Wissensproduktion und der Zusammenarbeit in transdisziplinären Forschungskontexten. Die Verschiebung, die darin enthalten ist, führt weg von Konflikten und das Gegeneinander von top-down gegen bottom-up, Entitäten wie politische Entscheidungsträger:innen versus zivilgesellschaftliche Initiativen, hin zu einem Vereinen der Kräfte und Allianzbildungen, die Dialog- und Verhandlungsräume eröffnen und verschiedene Wissensarten konstruktiv aufeinander beziehen (Autor:innen-Kollektiv INTERPART 2021).

Damit einher geht nicht nur die gleichberechtigte Anerkennung von Expert:innenwissen, Alltagswissen der Erfahrungswissen verschiedener Akteursgruppen, sondern auch die Anerkennung unterschiedlicher Souveränitätsansprüche und -praktiken im Kontext des Stadtmachens. Das impliziert auch die Förderung und Gestaltung von Teilhabe und Inklusion, da Souveränität als eine performative Praxis begriffen wird, die ständige Überlegungen, Neuverhandlungen von Rechten, Bewertungen von Risiken, Chancen und Fähigkeiten erfordert (Pierri und Herlo 2021). Das bedeutet mitunter, das gerade in transdisziplinären Kontexten Souveränitätsbehauptungen nicht gegen eine Entität gerichtet werden, sondern Interessensgruppen miteinander Souveränitätsansprüche aushandeln.

Die Förderung von Diskussionen und Verhandlungen über die Art und Weise, wie Zusammenarbeit und Kooperation praktiziert werden, ist ein zentraler Bereich der praxisbasierten Designforschung, die gezielt auf die Gestaltung von materiellen und immateriellen Situationen und experimentellen Formaten der Teilhabe blickt (Ehn 2009). Vor allem in der partizipatorischen Gestaltung sind von Objekten und sozio-materielle/ sozio-technische Anordnungen getragene Prozesse, in denen Multi-Stakeholder-Debatten ermöglicht werden, von entscheidender Bedeutung, um eine ausgewogene Sichtweise auf Stadtmachen und auf kollaborative Stadtentwicklung zu erreichen. Da diese Aushandlungen ortspezifisch und situativ sind, braucht es die Gestaltung entsprechender Räume und Interaktionen, die eine Auseinandersetzung und den Austausch auf Augenhöhe ermöglichen (Autor:innen-Kollektiv INTERPART 2021).

Die Rolle von Zeit, Ortsspezifika und Praktiken

Löst sich – wie oben beschrieben – das Verständnis von Souveränität aus seiner territorialen Fixiertheit, so rücken prozessuale Aspekte von Zeit, Raumaneignung und Ortsspezifika sowie das Doing – die Praktiken zur Herstellung von Souveränität – in den Vordergrund der Debatte. Praktiken der proaktiven Herstellung von Souveränitätsmomenten finden sich beispielsweise in transdisziplinären Stadtentwicklungs-Projekten. In der transdisziplinären Forschung wird theoretisch-wissenschaftliches Wissen und Erfahrungswissen aus der Praxis verknüpft (Schneidewind 2016). Vor allem im Forschungsansatz “Reallabor” (Bergmann et al. 2021) können Fragen der Stadtentwicklung aus unterschiedlichen Perspektiven adressiert werden, um neues, stadtrelevantes Wissen zu generieren. Reallabore sind in ihrem Grundverständnis partizipativ – sie binden möglichst unterrepräsentierte Stimmen und Perspektiven ein; transdisziplinär – sie beziehen Wissen aus Wissenschaft und Praxis aufeinander; und transformativ – greifen in die lokalen Kontexte und Praktiken ein und verändern diese (Autor:innen-Kollektiv INTERPART 2021).

Reallabore schaffen einen temporären Raum der kollaborativen Zusammenarbeit, in dem auf die Ortsspezifika eingegangen und ein kommunikativer Raum geschaffen wird und in dem ein Prozess der Wissensproduktion entsteht, der auch implizites Alltags- und Erfahrungswissen einbindet und explizit macht. Das neu entstandene, kollaborative Wissen informiert die akademische Forschung und eröffnet idealerweise Möglichkeits- und Handlungsspielräume für alle Beteiligten, als eine Praktik zur Herstellung von Souveränität für die involvierten Akteursgruppen.

In der stadtentwicklungsorientierten Designforschung beschäftigt man sich seit geraumer Zeit mit partizipativen und kollaborativen Möglichkeiten der Wissensproduktion (Herlo et al. 2022). ‚Participatory Design’ und ‚Social Design’ als Arbeitsbereiche innerhalb der Designdisziplin streben ein Mindset (Sanders 2013) an, das kollaborative, transdisziplinäre und partizipative Formate im Sinne einer sozial gerechteren und ökologisch nachhaltigeren Zukunft entwickelt und gestaltet. In diesem Prozess der Wissensproduktion und der Befähigung spielen menschliche wie nicht-menschliche Akteure eine wesentliche Rolle, wie eingangs am Beispiel der Verfassungsbrücke als Artefakt dargelegt. Der Fokus richtet sich also auf die Gestaltung von Beziehungen, mit Fokus auf gestaltete Artefakte und auf Objekte als epistemische Objekte (Mareis 2011). Denn technische, politische, soziale und ästhetische Wissensformen werden im Objekt selbst und mittels gestalteter Objekte verhandelt. Im Umgang mit Objekten oder Dingen entsteht zum einen praktisches Erfahrungswissen (Hörning 2001), zum anderen kann Erfahrungswissen im und durch den Umgang mit Dingen explizit gemacht werden.

Die Gestaltung sozialer Interaktionen unter bewusster Einbeziehung von Dingen und Artefakten kann die Inklusion verschiedener Erfahrungen und Wissensformen fördern und dadurch Teilhabe ermöglichen.

Möglichst viele Perspektiven aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft in den Forschungsprozess einzubinden und insbesondere Menschen Gehör zu verschaffen, die unterrepräsentiert sind, heißt im Grunde, demokratische Selbstbestimmung und Empowerment in der Stadtentwicklung zu fördern – als Doing sovereignty.

Erkenntnisse für transformative Forschung und Stadtentwicklung

In Co-Forschungs-Prozessen, bei denen sich die Beteiligten möglichst auf Augenhöhe begegnen, finden Aushandlungsprozesse über die Art und Weise statt, wie wir unsere Praktiken der Stadtentwicklung und Infrastrukturen für Zusammenarbeit neu formen (Autor*innen-Kollektiv INTERPART 2021). Im Vordergrund steht die partizipative Einbindung von Stimmen, die sonst nicht in der Stadtentwicklung zu Wort kommen, beziehungsweise die Einbindung von relevantem, unterrepräsentiertem Wissen. In einem solchen Zusammenhang bedeutet Doing Sovereigty genau gemeinsame Praktik der Einbindung relevanter Wissensbestände, die dazu beitragen, nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren, sondern auch Teilnehmer:innen in ihrer eigenen Selbstwirksamkeit zu unterstützen, gemeinsam Souveränitätspraktiken auszuüben und Ermächtigungsmomente dadurch zu erfahren. Doing Sovereigty betont den Prozess, das gemeinsame „Machen“ und die Erfahrungsdimension von Souveränitätsmomenten, die erst in einer kollaborativen Praktik Transformationspotential entwickeln.

Was leistet eine Souveränitätsperspektive auf doing together in der Stadtentwicklung?

Mit einem prozessorientierten Konzept von Souveränität können wir die Beziehungen zwischen Governance-Kapazitäten im Raum und neuen kollaborativen Prozessen zwischen Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft präziser einordnen. Indem wir Souveränität über ihren traditionellen politischen (Grimm 2015) und technologischen (Couture und Toupin 2019) Diskurs hinaus erweitern, bieten wir konzeptionell einen Ansatz an, wie Souveränität praktiziert werden kann. Handlungsfähigkeit, Empowerment und Praktiken, die Selbstbestimmung und Handlungsmöglichkeiten fördern – aufgrund der sich ständig ändernden Bedeutung der Interaktion zwischen Individuen, der politischen Öffentlichkeit und Governance (Ritzi und Zierold 2019), werden als Teilziele transdisziplinärer Forschung betrachtet. Wir haben Souveränität nach Kukutai und Taylor (2016) als ein Konzept aufgefasst, das die Befähigung von Akteuren und Gemeinschaften betont, Entscheidungen im kollektiven Interesse zu treffen. Dementsprechend weisen wir auf die Rolle lokaler Praktiken (Formen, Ausdrucksformen) der Selbstorganisation und der kollaborativen Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren zum Umgang mit aktuellen Herausforderungen hin – und wie sie für transdisziplinäre und transformative Forschung nutzbar gemacht werden können.

Ein prozedurales Verständnis von Souveränität auf Zeit eröffnet auf der Ebene der Stadt die Chance, kleinere Gruppeneinheiten nach ihren je distinkten Praktiken und Absichten zur Herstellung von Souveränitätsbehauptungen in Augenschein zu nehmen. Ein derart nicht-normatives und entessentialisiertes Verständnis von Souveränität fragt daher auch aus der Sicht einer transformativen Forschung im Städtischen, welche kontingenten Gruppenmanifestationen, prozeduralen Handlungsweisen, kommunikativen Praxen und alternativen Durch- und Umsetzungsformen sich zu erkennen geben. Der jeweils unfertige Charakter derartiger Manifestationen ist aus der Sicht der etablierten und formalen Stadtentwicklungspraxis mitunter wenig beachtet. Gerade in ihren unfertigen, situativen Ausdrucksformen besteht jedoch auch aus der Sicht von Passgenauigkeit und mitunter Zukunftsausrichtung eine enorme Chance, angemessenere Perspektiven auf Stadt zu generieren.

Anpassungsfähigkeit und Inkrementalität basieren zum einen auf Prozessen sozialer Reibung, Konflikt und Konsensfindung, bergen jedoch zum anderen die Chance, im Tun des regelmäßigen Abgleichens einen Mehrwert von Reibung wirksam werden zu lassen. Das Verständnis des Tuns (Doing) von Souveränität hilft, Wege zur Analyse wie Gestaltung von Souveränitäts-Prozessen und zur Verschiebung von Souveränitätsregimen vorzuschlagen. Souveränität als Konzept ist in dieser Perspektive nie territorial gebunden oder fixiert, sondern dynamisch und fließend und muss immer wieder neu aufgebaut werden. Souveränität ist folglich das Ergebnis verschiedener Governance-Arrangements, die sich im Laufe der Zeit herausbilden und Praktiken der Partizipation und Selbstbestimmung mitbestimmen.

Aushandeln ist bis dato im Bereich der kommunikativen Stadtentwicklungsplanung als verbalisierter Beteiligungsprozess seit Dekaden gesetzt und im Baugesetzbuch verankert.

Während – vereinfacht gesagt – miteinander sprechen bis dato die Norm war, avanciert miteinander machen, also das doing together, zu einer teilhabeermöglichenden und integrativeren Praxis kollaborativer Stadtentwicklung.

Der damit einhergehende “Material turn”, also die Aufwertung nicht-sprach-basierter Artefakten und diese generierende boundary-objects-Methodiken, rücken immer deutlicher in das Zielfeld analog-digitaler Entwurfspraxis. Schlüsselfaktoren sind dabei zunächst boundary spanners (Noble und Jones 2006), also Übersetzungspersonen, die zwischen sprachlich-verbalen, körperlich-leiblichen und nicht zuletzt materialisierten Ausdrucksformen zu navigieren, zu verstärken, zu artikulieren und rückübersetzen in der Lage sind. Intermediarität und Schnittstellen sind daher als ein Schlüssel zu sehen, mit der Übersetzungsleistungen – auch bezüglich der Vermeidung von Silo-Denken – als Gegenstand der transformativen Stadtentwicklung zu Tage treten.

Damit verbindet sich keine hervorgehobene Bedeutung der Institution Wissenschaft oder Forschung, ebenso wenig der Besonderung von Fachexpert:innen. Vielmehr zeigt sich dabei eine Form transformativen Forschens, die im Modus-2 Aspekte der Ortsspezifika und lokale Problemfindungskompetenz gegenüber globalen Standardisierungen priorisiert. Die damit im Raum stehende Perspektive Third Mission avanciert als dritte akademische Mission zu den beiden Basisaufträgen Lehre und Forschung zu einer auf Transition ausgerichteten Grundhaltung. Mit ihr geht, so Rössler et al. (2015) einher, dass Forschende sich bereits heute deutlich stärker in Bereichen engagieren, die nicht ausschließlich der Lehre oder der Forschung zuzurechnen sind (ebd.). Dabei geht es um den Auftrag, akademische Forschung mit der Zivilgesellschaft und Unternehmen sinnfällig-transformativ zu verknüpfen (ebd.). Zur Third Mission gehören etwa Kooperationsprojekte mit Partnern außerhalb der Hochschullandschaft, Netzwerke und regionale Arbeitskreise, zum Beispiel mit Kommunen, oder auch Angebote im Bereich der Weiterbildung.

Welche Wissensformen rücken beim transformativen Forschen in den Vordergrund?

Transformatives Wissen entsteht relational zwischen Lokalraum, Akteuren und ihren materiellen Äußerungsformen in Bezug auf eine konkrete städtische Fragestellung. Die Bezugnahmen auf eine städtische Fragestellung verbinden sich mit einem Souveränitätsmandat, das nicht deliberativ, sondern kollaborativ erwirkt werden kann. Ihre Verfasstheit ist prozessartig und situativ. Der situative und fluide Charakter derartiger Wissensformen macht es erforderlich, zum einen materielle Artefakte (zum Beispiel erste bauliche Anordnungen, Beziehungsmappings, lokale Portraits, Geschichten) als zugleich kollaborativ erwirkt, aber auch ausschließlich Zwischenstationen zu verstehen. Zum anderen zeigen gerade materielle Artefakte (Prototypen, Skizzen und andere), dass diese als boundary objects (Star 2010) auch eine immaterielle Rolle einnehmen. Sie verbinden mehrere Bedeutungsebenen (lokal-global, zeitlich, sozial) wie auch verschiedene Wissensebenen (institutionelles Wissen, fachliches Wissen, alltägliches Wissen).

Derartige materielle Artefakte erfahren ihren Mehrwert aus der Sicht transformativen Forschens in kollaborativen Prozessen, in dem sie Anlässe für verschiedene Menschen geben, sich zu eben diesen ins Verhältnis zu setzen und wiederum eigene und fremde Sichtweisen zu erfahren und sich anzueignen. Vielfalt, Diversität und Teilhabe sind demzufolge nicht nur Plattitüden, sondern entscheidende Ressourcen, um partikulare und situative Souveränitäten zu erkennen und in ihrer Wirkung auf aktuellen und zu planenden Raum zu erfahren.

Für neue Möglichkeitsräume

Die begriffliche Auseinandersetzung mit erweiterten Souveränitätsverständnissen weist auf eine heuristische Brücke zu Fragen transformativen Forschens im Bereich der Stadtentwicklung hin. Ein derart gewendetes Verständnis von Souveränität trägt weiter dazu bei, kollaborative Perspektiven des Stadtmachens als eine integrative und letztlich gesellschaftspolitische Praxis in den zukunftstauglichen Umbau der Städte stärker einzubeziehen. Klimagerechte, sozial ausgewogene und gemischte Städte mit kurzen Wegen benötigen zukünftig derartige kollaborativ agierende Souveräne mehr denn je.

Am Beispiel der Ponte della Constituzione hätte man erwarten können, dass die Namensgebung der Brücke sowie die Idee einer Verbindungsinfrastruktur Brücke sich im Städtischen genauer mit den heterogenen Verfasstheiten und Souveränitätsartikulationen zwischen unterschiedlichen Stadtgesellschaften auseinandergesetzt hätte. Transdisziplinäre Forschungsansätze bergen das Potenzial, genau hier Wege aufzuzeigen, wie kollaborative Formate zu einer systemischen Betrachtungsweise der Möglichkeitsräume führen.

About the author(s)

Bastian Lange, Dr. phil., ist Privatdozent an der Universität Leipzig. Im Jahr 2008 gründete er das unabhängige Forschungs- und Beratungsbüro Multiplicities in Berlin, das Politik, Wirtschaft und Kreativszenen im europäischen Kontext auf dem Weg zu nachhaltigen Stadtregionen unterstützt.

Bastian Lange, Dr. phil., adjunct professor at the University of Leipzig. In 2008 he founded the independent research and consultancy office Multiplicities in Berlin supporting politics, business and creative scenes in the European context on ways to sustainable urban regions.

Bianca Herlo, Dr. phil., ist Designforscherin an der Universität der Künste Berlin und leitet die Forschungsgruppe „Ungleichheit und digitale Souveränität“ am Berliner Weizenbaum-Institut. Seit 2021 ist sie Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung (DGTF).

Bianca Herlo, Dr. phil., is a designer, researcher and lecturer at the Berlin University of the Arts and leads the research group „Inequality and Digital Sovereignty“ at the Berlin Weizenbaum Institute. She has been chair of the German Society for Design Theory and Research (DGTF) since 2021.

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