Published 2.04.2025

Versteckte Werte im Bestand

Das UmBauLabor, ein Projekt von Baukultur Nordrhein-Westfalen

Hidden Values in Existing Buildings

UmBauLabor, a Project by Baukultur Nordrhein-Westfalen

Keywords: Reallabore; Umbauen; Werte; Beteiligung; Transformation; Real-world laboratories; conversion; values; participation; transformation

Abstract:

Unsere Gesellschaft strebt ständig nach Neuem und vernachlässigt oft den Wert des Alten. Die Wertschätzung für Bestehendes, sei es im Alltag oder in der Gestaltung unserer Lebensräume, geht verloren. Allmählich bemerken wir, dass das (Neu-)Bauen im Ungleichgewicht zum Gebauten steht und dass Umbauen oft mehr Chancen bietet als Abriss und Neubau. Dieser Artikel widmet sich der Wertermittlung eines mehr als 100 Jahre alten Gebäudes in Gelsenkirchen-Ückendorf. Baukultur NRW hat dort sein UmBauLabor eingerichtet und erprobt darin bis 2026 mit unterschiedlichen Akteur:innen klimagerechtes und nachhaltiges Umbauen. Was macht ein Gebäude aus baukultureller Perspektive aus? Welche Werte wohnen dem Alten inne? Das UmBauLabor bietet Raum zur Analyse und Plattform für eine Neubetrachtung des Bestands. Dort werden monetäre Dimensionen, verwendete Materialien und historische Nutzungen untersucht. Neben ökonomischen und ökologischen Werten werden auch emotionale und soziale Werte begutachtet, die eng an dem lokalen Kontext und der Strahlkraft ins Quartier verknüpft sind. Die Wertbestimmung eines Bauwerks ist dynamisch und unterliegt einem ständigen Wandel.

Our society is constantly striving for the new and often neglects the value of the old. The appreciation of the existing, whether in everyday life or in the design of our living spaces, is being lost. We are gradually realizing that (new) construction is out of balance with existing buildings and that renovation often offers more opportunities than demolition and new construction. This article is dedicated to the valuation of a more than 100-year-old building in Gelsenkirchen-Ückendorf. Baukultur NRW has set up a UmBauLabor there and is testing climate-friendly and sustainable conversions with various stakeholders until 2026. What defines a building from a Baukultur perspective? What values are inherent in the old? The UmBauLabor offers a space for analysis and a platform for a fresh look at the existing building stock. Monetary dimensions, materials used and historical uses are examined here. In addition to economic and ecological aspects, emotional and social values are also considered, which are closely linked to the local context and the impact on the neighborhood. Determining the value of a building is dynamic and subject to constant change.

Wertewandel in der Gesellschaft: Vom schnellen Konsum zur Umbaukultur

Unser modernes Wirtschaftssystem, das häufig auf schnellen Konsum ausgelegt ist, hat unsere Gesellschaft stark verändert. Anstatt den Wert im Alten zu sehen und Dinge wertzuschätzen, zu reparieren und zu erhalten, neigen wir stärker dazu, etwas Neues zu kaufen. Durch den kontinuierlichen Konsum und dem angestrebten Wachstum stehen wir heute vor großen Herausforderungen: Die Weltbevölkerung wächst rasant und mit ihr auch die Nachfrage an Wohnraum und Gebäuden. Gleichzeitig müssen wir uns mit der Ressourcenknappheit, Klimakrise, Zuwanderung und sozialem Ungleichgewicht auseinandersetzen.

Die Baubranche hat sich lange Zeit auf Neubauten konzentriert, unterstützt durch Gesetze, Lobby-Arbeit und die Baustoffindustrie, die auf die Herstellung von neuen Produkten ausgerichtet ist. Die Folge: Oft müssen Bestandsgebäude weichen, um an derselben Stelle einen Neubau zu setzen, der den aktuellen Ansprüchen gerechter wird. Wir gewinnen scheinbar neuen Raum, versiegeln aber zugleich wieder den Böden und überlasten unsere Deponien durch die erhöhte Abfallproduktion. Der verschwenderische Umgang mit unseren Bestandsgebäuden erzeugt damit nicht nur ein Logistik- und Umweltproblem, vielmehr folgen weitere Herausforderungen, wie Gentrifizierung, Feinstaubbildung, Verlust von Biodiversität und erhöhter Ressourcenverbrauch. Wieso fällt es uns so schwer, den Wert und die Potenziale in unseren Bestandsgebäuden zu sehen?

Bei der Debatte um die Gestaltung unserer zukünftigen Lebensräume ist es unumgänglich darüber nachzudenken, was uns zusammenhält, was uns Orientierung gibt und welche Wege wir als Gesellschaft gemeinsam beschreiten können. Werte helfen dabei Entscheidungen zu treffen, geben uns Orientierung und fördern einen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Aber was verstehen wir darunter, wenn wir von Werten sprechen und wie entstehen sie? Welche Werte sind von Dauer und wann spricht man von einem Werteverlust?

Der Verein Baukultur NRW beschäftigt sich mit der Qualifizierung und Wertschätzung unserer gebauten Umwelt, stets mit einem hohen Anspruch und dem Bewusstsein für ihre gesellschaftliche Bedeutung. Seit 2020 initiiert, organisiert und vernetzt Baukultur NRW Projekte aus den Bereichen Architektur sowie Stadt- und Landschaftsentwicklung und kommuniziert diese in die Gesellschaft, Politik, Bildung, Wirtschaft und Kultur. Durch Kampagnen, Ausstellungen und weitere Formate fördert Baukultur NRW den Dialog zwischen Fachwelt und interessierter Öffentlichkeit und kooperiert dazu mit verschiedenen Partnern. Dabei wird die gesellschaftliche Relevanz der Baukultur betont, um aktuelle Herausforderungen zu adressieren. Mit dem UmBauLabor beteiligt sich Baukultur NRW an der aktuellen Diskussion über den Erhalt von Bestandsgebäuden und unterstützt die Forderung, dass Erhalt Vorrang vor dem Abriss und anschließenden Neubau haben sollte.

Dieser Artikel erläutert zunächst den Begriff des Wertes. Welche Werte gibt es und wie entstehen diese? Im Anschluss werden die gängigen Bewertungsverfahren von Bestandsimmobilien vorgestellt und kritisch beleuchtet. Im nächsten Teil wird das Projekt UmBauLabor von Baukultur Nordrhein-Westfalen vorgestellt. Nicht bekannte Werte oder versteckte Werte, die zunächst im Verborgenem liegen, sollen aufgespürt, erfasst und bewertet werden. Welche Werte wohnen dem mehr als hundert Jahre alten Haus inne und was macht die kulturelle Identität des Gebäudes aus? Untersucht werden verschiedene Wertaspekte aus unterschiedlichen Betrachtungsebenen. Zum Schluss wird auf Möglichkeiten einer Wertvermittlung eingegangen. Erste Erkenntnisse aus der Projektphase des UmBauLabors dienen hier als Praxisbericht. Wie können wir verborgene Werte wieder sichtbar machen? Wie können wir diese Werte vermitteln?

Was sind Werte?

Allgemein betrachtet bezieht sich der Begriff Wert auf ein Konzept von tief verankerten Überzeugungen und Zielvorstellungen, die Menschen Motivation und Orientierung bieten und dadurch ihr Verhalten leiten. Werte können aus emotionalen und moralischen oder mathematischen und analytischen Komponenten bestehen. Unter moralischen Werten versteht man Werte und Normen, die in einer Gesellschaft als richtig oder falsch angesehen werden. Diese Werte entwickeln sich aus sozialen und kulturellen Kontexten und sind entscheidend für das Zusammenleben und Verhalten von Menschen. Sie werden durch Erziehung und dem sozialen Kontext bereits in Kindesalter vermittelt (Jungbauer 2017: 137).

Die Entwicklung von Werten aus einer emotionalen Perspektive ist ein komplexer Prozess, der tief in der menschlichen Psyche und den sozialen Interaktionen verwurzelt ist. Der deutsche Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas (2006) betont den Unterschied zwischen Normen und Werten. Normen sind „restriktiv“ und schreiben uns vor, was richtig ist, und schränken dadurch auch ein. Werte hingegen bezeichnet er als „konstruktiv“, sie lösen Emotionen aus. Durch das Auslösen von Emotionen und das Gefühl des „Ergriffenseins“ lassen uns Werte reflektieren und leiten unser Selbstbild, indem wir Dinge bewerten. Laut Joas lassen uns Werte wachsen und Grenzen überschreiten, was für die Entwicklung unseres Selbstbildes entscheidend ist (Joas 2006: 3).

Auch in der Entwicklungspsychologie geht man davon aus, dass wir durch Gefühle bestimmte Situationen bewerten und als fair oder gemein beschreiben können und diese Gefühle im Gedächtnis abspeichern (Jungbauer 2017: 138). Werte, die aus einer tiefen Überzeugung entstehen, beeinflussen damit unser alltägliches Handeln und wirken nicht nur auf unser Verhalten, sondern auch auf unsere Wahrnehmung, unser Selbstbild und somit auch auf unsere soziale Interaktion. Sich moralischen Normen entsprechend zu verhalten, erfordert „Mut, Willensstärke und Selbstkontrolle“ und gründet auf ein persönliches Wertesystem (Jungbauer 2017: 146–147). Emotionale und moralische Werte beziehen sich auf die Gefühlswelt und formen Prinzipien oder Überzeugungen, an die wir uns orientieren (Joas 2006: 4). Dabei haben besonders diese Werte eine große Strahlkraft, denn sie prägen unser Denken, unsere Wahrnehmung und die Entscheidungen, die wir treffen.

Bernadette Droste beschreibt in ihrem Beitrag Werte – was uns verbindet in Deutschland und Europa, welche Bedeutung Werte in der Rechtswissenschaft haben. Dabei behauptet sie, dass unser moderner Staat auf gemeinsamen Werten und Vorstellungen von Gerechtigkeit basiert. Der Rechtsstaat, wie im Grundgesetz verankert, hat keine spezifische Ethik, sondern ist das Ergebnis unterschiedlicher ethischer Ansichten, die von den Menschen eingefordert wurden (Droste 2019: 10). Die Auslegung der Verfassung ist dynamisch und eng mit dem Zeitgeist einer Gesellschaft verbunden. Der Wandel subjektiver Werte in der Gesellschaft beeinflusst die Grundwerte der Verfassung, da sich die Rechtsprechung zeitversetzt entsprechend anpasst. Daraus folgt, dass Veränderungen in den Werten der Menschen auch die Rechtsprechung beeinflussen (Dorste 2019: 18–19). Ein Beispiel aus Deutschland ist die Barrierefreiheit, welche seit 2002 durch das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG 2024) geregelt. Gesetze, welche sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Räumen und Dienstleitungen erhalten, haben mit der Zeit zunehmend an Bedeutung gewonnen. Auslöser für die Entwicklung dieses Gesetzes war das Gefühl der Ungerechtigkeit, durch die nicht vorhandene Teilhabe und der Ausgrenzung von einer bestimmten Gruppe sowie der Wunsch nach Inklusion.

Werte sind nicht statisch, sondern veränderbar. Nicht alle Werte erhalten eine öffentliche Gültigkeit. Geteilte Werte bringt Menschen zusammen und erzeugen Verbundenheit. Wenn sich widersprechende Werte gegenüberstehen, können diese auch Konflikte auslösen. Werte werden von Kultur, Religion und Politik wechselseitig geprägt. Solange eine Akzeptanz und Anpassungsfähigkeit bestehen, können unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Wertevorstellungen in Frieden miteinander leben. Des Weiteren tragen Erziehung, Bildung in Ethik, Recht und Kultur maßgeblich zur Entstehung von Werten bei, verändern und vermitteln sie (Dorste 2019: 12–13).

Mathematische Werte sind präzise Messungen, die das Verständnis von Strukturen und Systemen erleichtern. Der Wert-Begriff findet beispielsweise Anwendung in der Ökonomie, in den Naturwissenschaften, der Mathematik oder in der Medizin (Droste 2019: 10). Diese Disziplinen werden oft als objektiv und messbar angesehen, was sie für Entscheidungsprozesse attraktiver erscheinen lässt. Dennoch ist es von grundlegender Bedeutung, welche Messindikatoren in eine mathematische Analyse einfließen. Das Resultat wird maßgeblich durch die Auswahl und Gewichtung dieser Variablen beeinflusst. Daher unterliegt jede mathematische Berechnung einem subjektiven Ursprung und sollte kritisch reflektiert werden. Entscheidend ist, welche Annahmen und Konzepte liegen der Berechnung zugrunde?

Menschen benötigen diese theoretischen Konstrukte, um sich komplexe Konzepte verständlich zu machen, Kommunikation zu erleichtern und Gedanken sowie Gefühle zu vermitteln. Ein bedeutsames Beispiel hierfür die Theorie des Entwicklungspsychologen Jean Piaget zur kognitiven Entwicklung von Kindern, die bis heute als wegweisend gilt. Er beschreibt, dass sich das kindliche Denken durch die Entwicklung immer besserer kognitiven Schemata entwickelt. Besonders während der Sprachentwicklung lernen Kinder, dass es für Objekte, Personen, Gefühle und Handlungen Begriffe gibt. Diese Begriffe sind sprachliche Symbole. Außerdem entwickeln wir im Kindesalter komplexe kognitive Fähigkeiten, wie das Ordnen oder Klassifizieren von Objekten sowie logisches Denken, indem man Vergleiche und Bezüge herstellen kann. Dadurch entsteht auch die Eigenschaft, dass man Dinge hinterfragen und seine Meinung mit neuen Erkenntnissen verändern kann (Jungbauer 2017: 88–91). Diese Prozesse verdeutlichen, dass beide Wertesysteme – berechenbare und nicht-berechenbare Werte – eine entscheidende Rolle im menschlichen Leben spielen, indem sie unser Verständnis der Welt formen.

Werte im Bestand – Kritik an unseren Bewertungsmethoden

Die Wahrnehmung, Bewertung, und Wertschätzung von Bestandsgebäuden unterliegen einem dynamischen Wandel, der durch gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Faktoren beeinflusst wird. Wie ein Gebäude bewertet wird, hängt von der Perspektive des Betrachters ab. Während Bauherren oftmals pragmatische Überlegungen wie Kosten und Funktionalität in den Vordergrund stellen, bringen Architekturhistoriker weitere Argumente ein, wie beispielsweise, dass es sinnvoll ist, historische Substanz zu erhalten. Nicht alle Werte, die in einem Gebäude stecken sind direkt sichtbar. Einige Werte müssen erst erfasst, analysiert und bewertet werden, um ihnen einen erkennbaren Mehrwert beizumessen.

Trotz dieser Überlegungen zeigen sich in den Zahlen des deutschen Bundesamtes wird klar, dass weiterhin mehr abgerissen wird als saniert oder umgebaut. Hauptgrund für den Abriss sind in den meisten Fällen Pläne für einen Neubau. Dabei entsteht durch Bau- und Abbruchabfälle weiterhin der größte Anteil des Abfallaufkommens (DESTATIS 2024). Es gibt mehrere Gründe, warum bestehende Gebäude oft nicht die Wertschätzung erhalten, die sie verdienen. Das liegt nicht nur an den technischen und ästhetischen Anforderungen, die der Bestand scheinbar nicht erfüllen kann. Aktuelle Bauvorschriften, steigende Standards und unser aktuelles Steuersystem können Renovierungen erschweren und verteuern.

Trotz dieser Ansätze ist unsere Bauindustrie weiterhin auf den Neubau ausgerichtet. Nachhaltigkeitszertifikate für Bestandsgebäude gibt es nur wenige. Bei den gängigen Bewertungsverfahren werden wichtige Wertindikatoren, die für den Erhalt von Bestandsgebäuden sprechen, nicht berücksichtigt. Bei der Bewertung von Immobilien gibt es verschiedene Werte, die auf unterschiedlichen rechtlichen Grundlagen basieren. Der Verkehrswert (Marktwert) ist ermittelt dabei den Preis einer Immobilie, der im normalen Geschäftsverkehr erzielt werden könnte. Er ist ein rein fiktiver Wert und der Preis der später am Immobilienmarkt tatsächlich erzielt wird (Sommer und Köll 2022: 1–4). Es gibt drei gängige Verfahren zur Wertermittlung: das Ertragsverfahren, das die zukünftige Rendite schätzt, das Schätzverfahren, das sich an den Herstellungskosten orientiert, und das Vergleichswertverfahren, das Preise ähnlicher Immobilien vergleicht. Der Verkehrswert wird am häufigsten angewendet, da er die Marktbedingungen widerspiegelt und eine objektive Grundlage für Kauf, Verkauf und Finanzierung bietet. Hierbei fließen Faktoren in die Bewertung ein, wie die Lage, die Art der Nutzung, der aktuelle Marktwert, die Bodenrichtwerte, die Ausstattung und die Vermarktbarkeit dieser Immobilie (Sommer und Kröll 2022: 7–10). Jedoch wird in diesen Bewertungsverfahren der rein wirtschaftliche Wert berücksichtigt und aus Sicht einer ressourcenschonenden, nachhaltigen Architektur damit an der falschen Stelle der Schwerpunkt gelegt. Ob die Berechnung rein objektiv zu bewerten ist, ist auch zweifelhaft, da es auch hier Spielraum gibt, welche Werteindikatoren man einfließen lässt.

Der Wert der verbrauchten Baustoffe, der graue Energien und die Einsparung von Treibhausgasen durch den Erhalt von Gebäuden werden außer Acht gelassen. Emotionale Werte, biografische Bindungen oder die Wertschätzung von Handwerkskunst, werden in diesen Verfahren nicht unbedingt betrachtet. Der Abriss eines Gebäudes kann zum Beispiel eine schmerzhafte Lücke erzeugen, wenn das Gebäude für eine Gesellschaft einen emotionalen Wert im kollektiven Gedächtnis hat oder – im kleineren Maßstab – für eine Nachbarschaft eine große Bedeutung hat. Um das Potenzial solcher Bauten zu erfassen, lohnt es sich, diese aus mehreren Perspektiven zu betrachten. Denn neben dem Wert der verbauten Materialien und der grauen Energien, spielen auch kulturelle, historische, soziale und städtebauliche Aspekte eine Rolle.

In diesem Kontext erläutert der Architekt Vittorio Magnago Lampugnani in seinem Buch Gegen Wegwerfarchitektur die Geschichte und Folgen des Konsumveraltens von Architektur und Städtebau. Dabei fordert er eine radikale Bauwende und einen ressourcenschonenden Umgang mit unseren Bestandsgebäuden. Er kritisiert die aktuellen Abschreibungsmechanismen, welche eine rasante Entwertung von Immobilien hervorrufen. Bereits nach fünfzehn oder zwanzig Jahren wird ein Gebäude dem entsprechend als wertlos eingestuft, obwohl es baulich noch intakt ist (Lampugnani 2024: 70–71). Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten werden durch den Anstieg der Arbeitskosten und den Fokus auf den rein wirtschaftlichen Gewinn von Gebäuden vernachlässigt. Die Pflege eines Gebäudes ist allerdings essenziell für dessen Erhalt. Lampugnani erklärt, dass man durch billige und schnelle Neubauten den Wert der verbauten Materialien verliert. Reparaturarbeiten müssen von Beginn an mitgedacht werden und Alterungsprozesse als Gestaltungselement eingeplant werden. Der Wert soll mit der Zeit steigern, ähnlich wie bei einer Antiquität, anstatt abzunehmen und als Müll entsorgt werden. Dies kann allerdings nur gelingen, wenn dieser Wertgewinn eines Gebäudes im Rahmen eines gesellschaftlichen Konsenses erfolgt und die Potenziale sichtbar gemacht werden (Lampugnani 2024: 63–64).

Ein Labor zum Umbau

Baukultur NRW beteiligt sich mit seinem Projekt UmBauLabor am Diskurs über den Erhalt von Bestandsgebäuden und setzt dabei auf vielfältige Kommunikationsformate mit Akteurinnen aus Politik, Wissenschaft, Hochschulen, Industrie und der Nachbarschaft. Bis Ende 2026 wird im UmBauLabor im Maßstab 1:1 in einem realen Gebäude ressourcenschonendes, zirkuläres und nachhaltiges Umbauen erprobt und diskutiert. Das ehemalige Wohn- und Geschäftshaus dient als Experimentierraum, in dem das Umbauen neu erlernt wird und entwickelt sich zum Ort für Diskussion und Austausch. Seit Beginn des Projekts kommen Akteur:innen aus den Bereichen Architektur, Stadtplanung, Handwerker, Wissenschaft und Lehre sowie der Nachbarschaft und diverse Vertreter:innen der Baukultur zusammen, um Fragen und Lösungen für die Umnutzung und den Umbau von Gebäuden und damit auch Wertvorstellungen zu prüfen und zu diskutieren. Dabei geht es um die Fragen: Wie viel Wert steckt in einem einhundertzwanzig Jahre alten, sanierungsfähigen Gebäude? Wie ermittelt man diesen Wert? Welche Werteindikatoren fließen bei der Bewertung mit ein? Und wie macht man Werte sichtbar und vermittelt diese nach außen an die Öffentlichkeit?

Studierende mehrerer Hochschulen haben in Seminaren im UmBauLabor Analysen der Gebäudekonstruktion, der verbauten Materialien und des Quartiers sowie erste Entwürfe zum Umbau erarbeitet. Außerdem wurden mehrere Workshops rund um das Umbauen schwellenarm und leicht verständlich für die Nachbarschaft und die interessierte Öffentlichkeit veranstaltet.

Um das Gebäude in ein UmBauLabor zu transformieren, wurden durch Baukultur NRW umfassende Maßnahmen ergriffen. Zunächst erfolgte eine Neuausstattung des Gebäudes, begleitet von notwendigen Sicherheitsvorkehrungen wie der Erstellung eines Schadstoffgutachtens. Die Räume wurden mit neuen Funktionen versehen: So wurde die ehemalige Kühlkammer zu einem Schaudepot umgestaltet (siehe Abbildung 1), wo Baumaterialien zwischengelagert werden. Die Zentrale (das ehemalige Ladenlokal) fungiert nun als Veranstaltungsort, der auch für Seminare genutzt werden kann. Die früheren Wohnungen hingegen blieben in ihrem ursprünglichen Zustand erhalten und dienen heute als Beprobungsräume. Im Hof wurde zudem eine Werkstatt eingerichtet.

Das Foto zeigt einen Blick in das Schaudepot des UmBauLabors. Drei Schriftzüge unterteilen die Räume in "Werkstatt", "Lager" und "Schaulager".
Abbildung 1: Ein Blick ins Schaudepot des UmBauLabors. Foto: Sebastian Becker.

Über dem Eingang der ehemaligen Ladenlokale im Erdgeschoss steht in großen Buchstaben die vielschichtig interpretierbare Frage: Wie viel Wert steckt in diesem Gebäude (siehe Titelbild)?. Mit dieser Frage eröffnete Baukultur NRW im März 2024 das UmBauLabor in Gelsenkirchen-Ückendorf und wandte sich damit gezielt an die Öffentlichkeit.

Ein Gebäude mit Geschichte

Man muss im UmBauLabor nicht lange nach etwas Wertvollen suchen. Der Wert der Baugeschichte zeigt sich in der spannenden historischen Entwicklung, die das Gebäude erzählt. Sie gibt uns Auskunft über das Leben und die Bedürfnisse seiner Bewohner:innen. Jede Nutzung hat Spuren hinterlassen, die teilweise sichtbar sind. Alte Nutzungen und Funktionen wurden überdeckt und lassen sich erst nach genauerem Hinschauen und Freilegen der Schichten erkennen.

Das Gebäude wurde 1902 für die Familie Nocke als Geschäfts- und Wohnhaus errichtet. Durch die Expansion der Kohle- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet wurde Gelsenkirchen zu einer schnell wachsenden Industriestadt. Über drei Generationen betrieb die Familie Nocke die gewerblichen Räume im Erdgeschoss als Fleischerei. Das zweite Ladenlokal wechselte mehrfach seine Nutzung vom Tante-Emma-Laden bis hin zum Feinkostgeschäft. In den Obergeschossen wohnten zunächst hauptsächlich die Familienmitglieder. Jeder packte bei der Arbeit mit an, und auch das Gebäude passte sich mit der Zeit an neue Bedingungen an. Über Generationen änderte sich das Berufsbild des Fleischers. Neue hygienische Vorschriften erzeugten neue Arbeitsschritte und damit auch ein neues Raumprogramm. Aber auch die Anforderungen an das Gebäude änderten sich. Um Heizkosten im Ladenlokal zu senken, wurde in den 1950er Jahren die Decke im Erdgeschoss abgehängt und gedämmt. Dadurch erhielt die gesamte Fassade im Erdgeschoss ein anderes Aussehen: Die einst bogenförmigen großzügigen Fenster, mussten für eine moderne Lichtreklame und rechteckigen Fenstern weichen. 

Ab 2008 wurden die Ladenlokale schließlich komplett an Dritte vermietet. Bevor Baukultur NRW das Gebäude bezog, wurde das Erdgeschoss zuletzt als Autowerkstatt und Kiosk genutzt. Der Hinterhof, in dem man die Schweinehälften in den Kühlräumen aufbewahrte, wurde zur Garage und Werkstatt umgewandelt. Erforderliche Umbaumaßnahmen wurden dabei nicht immer professionell ausgeführt und auch nicht fortlaufend dokumentiert. Nur das Nötigste wurde geändert, wobei auch minderwertige Baustoffe zum Einsatz kamen. Teilweise wurden Baustoffe verbaut, die heute als Schadstoffe gelten. Aufgrund dieser vielen baulichen und funktionalen Änderungen ist das Gebäude auch Speicher von Informationen und Zeitzeuge vergangener Ereignisse. Es vermittelt, wie Menschen früher gewohnt haben, welche neuen Bedürfnisse das Gebäude für seine Bewohner:innen erfüllen musste und welche Baustoffe im Laufe der Zeit verbaut worden sind.

Der Wert der verbauten Materialien manifestiert sich in der handwerklichen Qualität der Konstruktion aus Holzbalken, Fachwerkträgern und Vollziegeln, die als Auflager dienen. Von der handwerklichen Qualität des Baus zeugt auch die prachtvolle Außenfassade zur Straßenseite. Die Absackung des Gebäudes durch Bergbauschäden ist in den Obergeschossen deutlich spürbar und hat teilweise große Risse hinterlassen, wenngleich sich die Baukonstruktion die Gebäudestruktur gegen Verformungen stabilisierte und sich der Absackung anpasste.

In der alten Bauakte stehen viele Informationen über die Konstruktion und verbauten Materialien. Aber nicht alle Umbauarbeiten wurden dokumentiert. Erst durch das Öffnen von Decken- und Wandteilen ließen sich weitere Informationen sicherstellen. So entdeckten Architekturstudierenden der Hochschule Bochum, dass im Boden unter anderem Schlacke verfüllt wurde und in den Innenwänden unterschiedliche Steine verbaut wurden.

Energien und Potenziale

Neben diesen materiellen Werten steckt in dem Gebäude auch graue Energie – also die Energie, die für die Errichtung, Nutzung, Instandhaltung und Umbauarbeiten verbraucht wurde. Das Bewusstsein, wie viel Energie in Gebäuden dadurch bereits gespeichert ist, ist bei vielen Menschen nicht vorhanden. Studierende der Fachhochschule Münster erstellten in ihrer Seminararbeit eine erste Ökobilanzierung des Gebäudes und spielten dabei ein Abbruchszenario des Gebäudes durch. Ihre Ergebnisse wurden im Oktober 2024 vorgestellt. Die Bewertung hilft, den ökologischen Fußabdruck eines Gebäudes zu verstehen und nachhaltige Entscheidungen für den weiteren Umgang mit dem Gebäude zu treffen. Eine Ökobilanzierung des Gebäudes soll dabei helfen herauszufinden, welche Umweltwirkungen das Gebäude über den gesamten Lebenszyklus ausübt. Dazu gehört die Analyse der Rohstoffgewinnung, der Herstellung, Nutzung und Entsorgung von Baumaterialien.

Schließlich birgt das Gebäude auch große Raumpotenziale. Es hat in Laufe der Zeit mehrere Transformationsprozesse durchlaufen. Aus der Fleischerei im Innenhof wurde eine Autowerkstatt. Die Wohnungen in den Obergeschossen mussten sich den Wünschen und Bedürfnissen seiner Bewohner:innen anpassen. Die Entwicklung der Vergangenheit können uns wertvolle Erkenntnisse liefern. Alte Wohnkonzepte zeigen, wie sich das Wohne im Laufe der Zeit Geschichte an neue Anforderungen anpasste. So wurden Toilettenräume in den Zwischenebenen des Treppenhauses untergebracht, bevor Badezimmer direkt in die Wohnungen integriert wurden – eine Veränderung, die den Alltag der Menschen grundlegend beeinflusste. Solche Entdeckungen helfen uns, besser zu verstehen, wie gesellschaftliche, kulturelle und technische Entwicklungen das Wohnen prägen. Aus diesen Erkenntnissen lassen sich Fragen für ein zukünftiges Wohnen entwickeln. Unser Lebensraum muss sich immer wieder neuen Bedürfnissen und Lebensanforderungen anpassen. Auch hierbei spielen unsere Wertvorstellungen eine Rolle. Wenn Werte unser Leben und Handeln stark prägen und gleichzeitig wandelbar sind, müssen wir diesem Wandel auch in der Gestaltung unserer gebauten (Um-)Welt Rechnung tragen.

Nicht nur das Gebäude selbst spielt dabei eine Rolle. Wer vom UmBauLabor in die Nachbarschaft schaut, erkennt das Haus als Teil eines heterogenen und kreativen Quartiers in Gelsenkirchen-Ückendorf. Die Nachbarschaft und die Quartiersentwicklung haben einen erheblichen Einfluss auf das Gebäude. Gelsenkirchen, einst ein bedeutendes Zentrum der Kohle- und Stahlindustrie, hat in den vergangenen Jahrzehnten einen tiefgreifenden wirtschaftlichen Wandel durchlaufen. Mit dem Niedergang der Montanindustrie stiegen Arbeitslosigkeit und Leerstand von Immobilien dramatisch an.

Ückendorf ist ein Stadtteil, in dem trotz der wirtschaftlichen Herausforderungen eine vielfältige Bewohnerschaft lebt. Hier wohnen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und mit mehr als 95 Nationalitäten zusammen (laut Statistikstelle der Stadt Gelsenkirchen, Stand Januar 2024). Der Stadtteil zeichnet sich dadurch aus, dass es eine große Bereitschaft gibt, sich für das Quartier einzusetzen. Zahlreiche Initiativen engagieren sich für das Gemeinwohl und bieten Freizeitaktivtäten, wie Kunst-Festivals und Konzerte an.

Die Stadterneuerungsgesellschaft Gelsenkirchen (SEG) wurde vor 13 Jahren wurde die SEG gegründet, um sogenannte Problemimmobilien zu kaufen und über verschiedene Förderinstrumente weiterzuentwickeln. Ziel war es, den Stadtteil, insbesondere die Bochumerstraße durch die Schaffung kreativer und sozialer Angebote nachhaltig aufzuwerten. Durch die Sanierung ausgewählter Gebäude entstanden Cafés, Coworking-Spaces und Atelierräume für Künster:innen, um neue Impulse für die Nachbarschaft zusetzen (vergleiche SEG Gelsenkirchen o. J.). Nicht alle erworbenen Immobilien ließen sich erhalten. Der Abriss der Immobilie des heutigen UmBauLabors stand auch zur Diskussion. 2023 hat die SEG das Gebäude erworben und Baukultur NRW bis Ende 2026 zur Verfügung gestellt. Mit diesem Entschluss ermöglicht die SEG, die Geschichte und den Charakter des Quartiers zu bewahren und gleichzeitig Raum für innovative Projekte zu schaffen, die zur Belebung und Weiterentwicklung des Stadtteils beitragen.

In diesem Kontext nimmt auch das UmBauLabor eine Schlüsselrolle ein und beschäftigt sich mit dem Quartier. Es stellt sich die Frage: Welche Strahlkraft hat das UmBauLabor ins Quartier? Sein Wert geht über den reinen Gebäudewert hinaus. In der Zentrale des UmBauLabors treffen sich Menschen aus der Nachbarschaft, um Workshops zu besuchen, sich weiterzubilden oder über das Wohnen und Leben in Ückendorf zu diskutieren. 

Gleichzeitig wird auch die umgekehrte Perspektive beleuchtet: Welchen Einfluss hat das Quartier auf das Gebäude? Die Menschen, die dort leben, prägen das Gebäude, indem sie es nutzen, ebenso wie das Gebäude das Quartier, indem es Angebot schafft – ein wechselseitiger Prozess, der das Potenzial hat, das Viertel nachhaltig zu stärken.

Werte vermitteln

Der Wert eines Gebäudes ist nicht immerwährend und lässt sich nicht ein für alle Mal bemessen. Vielmehr ändern sich relevante Werteindikatoren im Laufe der Zeit und müssen neu ermittelt werden. Dabei werden diese nicht nur durch ökonomische Ströme beeinflusst, sondern auch von kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen verändert. Was heute als wertvoll betrachtet wird, verliert womöglich morgen schon an Bedeutung. Entscheidend ist, ob die identifizierten Werte noch mit den gesellschaftlichen Bedürfnissen im Einklang stehen. Ähnlich wie bei Gebäuden unterliegt auch die Rechtsordnung diesem Wandel. Der Wechsel gesellschaftlicher Wertvorstellung beeinflusst die Grundwerte der Verfassung. Zeitgeist und Recht stehen in einer Wechselbeziehung, da sich veränderte Werte und Normen der Menschen früher oder später auch in der Rechtsordnung widerspiegeln (Dorste 2019:19–20).

Das UmBauLabor soll deshalb nicht nur Werte in einer bestimmten Immobilie ermitteln und sichtbar machen, sondern auch die Potenziale aufzeigen, die in einer solchen Immobilie stecken. Studierende und Besucher:innen erfahren und lernen, welche Chancen das Gebäude bereithält, indem sie Wände öffnen, Entwürfe gestalten oder mehr über bestimmte Zusammenhänge erfahren. Theoretische Ideen können direkt vor Ort in die Praxis umgesetzt oder überprüft werden.

Die Ausbildung von Studierenden vor Ort – mit einem Fokus auf die Herausforderungen, die Bestandsgebäude mit sich bringen, bietet eine wertvolle Gelegenheit, neue Ansätze für den Umgang mit dem Umbau zu entwickeln. Durch das experimentelle Erforschen der vorhandenen Substanz lernen die Studierenden, den Umgang mit Ressourcen kennen. Zunächst gilt, dass kein vorgefundenes oder ausgebautes Material Müll oder Abfall ist. Im Gegenteil ist jedes Element ein wertvoller Bestandteil des größeren Ganzen, das es zu entdecken und neu zu bewerten gilt.

Der Kontext, in dem sich das UmBauLabor befindet, spielt eine entscheidende Rolle. Es ist wichtig zu verstehen, wie das Gebäude mit seiner Umgebung interagiert und welche Bedeutung es für die Nachbarschaft hat und welchen Wert die Nachbarschaft dem Gebäude verleiht. Um die Vielfalt und die Bedürfnisse heterogener Nachbarschaften, wie im Fall von Ückendorf, angemessen zu berücksichtigen, genügt es nicht einfach nur einen Ort mit Angeboten zu schaffen. Es ist wichtig zu betonen wie entscheidend es ist, die Menschen aktiv zu integrieren, ihre Perspektiven zu verstehen und ihre Alltagsrealitäten zu berücksichtigen. Dies beinhaltet auch den Besuch ihrer bevorzugten Orte und das Gespräch mit ihnen an diesen Orten. Eine dezentrale Herangehensweise und die Schaffung von Treffpunkten sind grundlegend, um authentische Beziehungen herzustellen sowie den Austausch mit der Gemeinschaft zu fördern.

Das UmBauLabor beteiligt sich dabei aktiv an festlichen Aktivitäten und Netzwerktreffen im Quartier und stellt seinen Raum für zusätzliche Aktivitäten zur Verfügung, welche an ähnliche Themen anknüpfen. Dazu zählen zum Beispiel die historischen Erzählungen der Bewohner:innen und die Integration von Erinnerungen, welche das Gebäude mit der Nachbarschaft verknüpfen. Die Zusammenarbeit mit engagierten Initiativen funktioniert gut, doch darüber hinaus besuchten Studierende der MSA Münster und der TU Dortmund gezielt weniger bekannte Orte im Quartier. So konnten sie Orte identifizieren, an denen sich Teile der Nachbarschaft treffen, die im Stadtgeschehen oft wenig Gehör finden. Dieser persönliche Kontakt hat dazu beigetragen, neue Blickwinkel zu gewinnen und Angebote zu entwickeln, welche auch für einen Teil der Gesellschaft interessant ist, der zunächst nicht bedacht wurde. Neben Alteingesessenen Bewohner:innen, gibt es auch viele Mieter:innen, die sich für die Bestandspflege interessieren, beispielsweise der Umgang mit Schimmel in der eigenen Wohnung. Solche Ansätze fördern nicht nur das Verständnis für die Bedeutung des Bestands, sondern schaffen auch eine tiefere Verbindung zwischen den Menschen und ihrer gebauten Umwelt.

Die Auseinandersetzung mit dem Gebäudebestand erfordert nicht nur technisches Fachwissen, sondern auch unterschiedliche Kommunikationsstrategien, wie man den Wert des Gebäudes diskutiert und vermittelt. Während materielle Werte durch Dokumentation und Bilanzierung greifbar gemacht werden können, liegt die Vermittlung immaterieller Werte in der emotionalen Ansprache. Es sind Erlebnisse, die tief berühren und eine nachhaltige Wertschätzung fördern. Reallabore wie das UmBauLabor schaffen hierfür einen wichtigen Raum, um Wissen zu vertiefen, Perspektiven zu erweitern und neue Erkenntnisse für den Umgang mit Bestandsgebäuden zu gewinnen.

Bestandsgebäude sind dabei weit mehr als reine Bausubstanz. Sie prägen das Stadtbild, erzählen Geschichten früherer Generationen und tragen zum kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft bei. Sie verkörpern kollektive Erinnerungen, Traditionen und Werte, die Identität stiften und ein Gefühl von Zugehörigkeit vermitteln. Gleichzeitig spielen
Bestandsgebäude in Zeiten des Klimawandels eine zentrale Rolle, da sie einen wichtigen Beitrag zum Ressourcenschutz leisten können. Der Erhalt und die Weiterentwicklung von Gebäuden vermeiden Abriss, reduzieren Bauabfälle und schonen natürliche Ressourcen. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat dieses Jahr ein Diskussionspapier zur Suffizienz als mögliche Wirtschaftsstrategie veröffentlicht. Das Konzept der Suffizienz findet in den Umweltwissenschaften schon lange Anwendung. Es zielt auf eine Reduzierung von Material- und Energieverbrauch ab, indem bewusst kritische Güter und Dienstleistungen nicht in Anspruch genommen werden. Aktuelle Zahlen belegt, dass sechs der neun planetaren Grenzen bereits überschritten sind. Wenn wir diesen negativen Trend nicht umkehren, wird es uns nicht gelingen, den „sicheren Handlungsraum für die Menschheit“ wiederherzustellen (SRU 2024).

Ein zentraler Ansatz in diesem Zusammenhang ist das Konzept des Urban Mining, das auch im UmBauLabor eine wichtige Rolle spielt. Dabei wird untersucht, welchen Wert die verbauten Baustoffe und -teile eines Gebäudes haben. Es geht darum, herauszufinden, welche Materialien potenziell wiederverwendet werden können. Zum Beispiel können Ziegel, Holz oder Stahl oft recycelt und in neuen Bauprojekten genutzt werden. Gleichzeitig wird geprüft, welche Baustoffe schwer wiederzuverwenden sind – etwa solche, die durch Vermischung oder Schadstoffe belastet sind. Diese Analyse ist essenziell, um einen bewussten und ressourcenschonenden Umgang mit der bestehenden Bausubstanz sicherzustellen.

Das Konzept des Urban Mining zeigt, dass Bestandsgebäude nicht nur kulturelle und soziale Werte besitzen, sondern auch eine materielle Bedeutung haben. Indem wir die Potenziale der verbauten Ressourcen erkennen, vermeiden wir nicht nur den Abbau neuer Rohstoffe, sondern reduzieren auch den ökologischen Fußabdruck des Gebäudes erheblich. Das UmBauLabor stellt beispielhaft dar, wie dieser Ansatz in der Praxis umgesetzt werden kann und welchen Input er für den Umgang mit bestehenden Gebäuden bietet. 

In der Fachwelt liegt es an uns, die ökologischen, kulturellen und materiellen Potenziale bestehender Gebäude zu erkennen und gezielt Maßnahmen zu ergreifen, um Bestandsgebäude als zentrale Ressource für eine nachhaltige Baukultur zu nutzen. Sie sind damit nicht nur Erben der Vergangenheit, sondern auch ein Schlüssel für eine verantwortungsvolle und zukunftsorientierte gebaute Umwelt.

About the author(s)

Santana Gumowski, studierte Architektur an der RWTH Aachen. Seit Oktober 2023 betreut sie das UmBauLabor von Baukultur NRW.

Santana Gumowski, studied architecture at RWTH Aachen University. Since October 2023, she has been in charge of the UmBauLabor of Baukultur NRW.

References

Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung (2024): Behindertengleichstellungsgesetz (BGG). https://www.behindertenbeauftragter.de/DE/AS/rechtliches/behindertengleichstellungsgesetz/behindertengleichstellungsgesetz-node.html, Zugriff am 01.08.2024.

DESTATIS (Statisches Bundesamt) (2024): Weniger Abriss: 2022 fielen so wenige Wohnungen aus dem Bestand wie noch nie seit 1992. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/09/PD23_N050_311.html#:~:text=Im%20Jahr%202022%20fielen%20knapp,dem%20niedrigsten%20Stand%20seit%201992, Zugriff am 01.08.2024.

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Joas, Hans (2006): Wie entstehen Werte?: Wertebildung und Wertevermittlung in pluralistischen Gesellschaften. Beitrag auf tv-impuls Tagung am 15.11.2006. https://forschungsnetzwerk.ams.at/elibrary/publikation?bibId=11002, Zugriff am 30.08.2024.

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