- Start
- Es braucht mehr als Technologie, viel mehr …
- MobiQ als Impuls für die Entwicklung einer nachhaltigen Mobilitätskultur
- Nachhaltige Mobilität mehrdimensional gedacht
- Wende der Mobilitätskultur
- Interdisziplinäre Zusammenarbeit in drei Reallaboren
- Methodischer Ansatz: MobiQ schafft Transformationswissen
- Analyse bereits realisierter Sharingprojekte
- Räumliche und soziodemografische Kontextanalyse
- Soziomaterielle Netzwerkanalyse
- Erste und vorläufige Ergebnisse
- Reallabor Geislingen
- Reallabor Stuttgart-Rot
- Reallabor Waldburg
- Unterschiedliche Aktivierungsstrategien der Zivilgesellschaft sind notwendig
- About the author(s)
- References
Published 27.07.2022
Reallabor MobiQ
Transformatives Forschen zwischen Mobilitätspolitik und räumlicher Entwicklung
Real-World Laboratory MobiQ
Transformative Research Between Mobility Policy and Spatial Development
Keywords: Reallabor; Mobilitätswende; Stadtraum; Quartier; Teilhabe; Real-world laboratory; mobility transition; urban space; neighbourhood; participation
Abstract:
Für die Mobilitätswende in Deutschland ist Baden-Württemberg ein zentrales Handlungsfeld. Seit dem Frühjahr 2021 fördert das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (MWK) das Reallabor MobiQ - Nachhaltige Mobilität durch Sharing im Quartier. Das Projekt verfolgt einen zivilgesellschaftlichen, nicht-kommerziellen Ansatz und fokussiert die Potenziale nachbarschaftlich getragener, quartiersbezogener Mobilität. Es wird untersucht, wie sich soziale Netzwerke initiieren und fördern lassen, um Impulse für die zivilgesellschaftliche Gestaltung nachhaltiger, raumspezifischer sowie bedarfsgerechter Mobilitätskonzepte zu setzen. Im Mittelpunkt stehen drei Standorte: Stuttgart-Rot, Geislingen an der Steige und Waldburg. In Großstadtrandlage, einer Mittelstadt und im ländlichen Raum wird praktisch erprobt, wie Bewohner:innen mit Methoden des Ko-Designs und der Ko-Produktion im Quartier gemeinsam ihre Mobilität organisieren und sich Zugänge zu gesellschaftlicher Teilhabe erschließen können. Der Beitrag reflektiert insbesondere das methodische Vorgehen im Projekt.
Baden-Württemberg is a central field of action for the mobility transition in Germany. Since spring 2021, the Baden-Württemberg Ministry of Science, Research and the Arts (MWK) has been funding the real-world laboratory MobiQ - Sustainable mobility through sharing in the neighbourhood. The project follows a civil society, non-commercial approach and focuses on the potential of neighbourhood-based mobility. It examines how social networks can be initiated and promoted in order to set impulses for the participatory design of sustainable, context-specific and demand-oriented mobility concepts. The focus is on three locations: Stuttgart Rot, Geislingen an der Steige and Waldburg. On the outskirts of a large city, in a medium-sized town and in a rural area, practical experiments will be conducted by and with the residents on how mobility can be organized with the help of co-design and co-creation. The article reflects in particular on the methodological approach in the project.
Es braucht mehr als Technologie, viel mehr …
Mobilität ist weit mehr als der brute fact, dass man sich von einem Ort A zu einem Ort B bewegen möchte (Cresswell 2006: 3). Vielmehr ist Mobilität ein höchst emotionales Thema, das moderne Menschen eng mit ihrem Selbstverständnis als ein bewegliches Individuum und mit den modernen Begriffen Freiheit und Autonomie verbinden (Freudendal-Pedersen 2009). Daher gehen wir davon aus, dass nachhaltige Mobilität nicht in erster Linie als rein technische Frage behandelt werden darf. Vielmehr geht es darum, nachhaltige Mobilität zu ermöglichen, indem man die Menschen dort erreicht, wo ihnen – metaphorisch gesprochen – der Schuh drückt. Mit anderen Worten: Nachhaltige Mobilitätspolitik mit ihren Instrumenten, Dienstleistungen und Technologien muss den Menschen unmittelbar einleuchten. Sie muss als sinnvoll erlebt werden und so konzipiert sein, dass die Bürger:innen sie in ihren Alltag integrieren können.
Wenn es gelingt, Lösungen für die realen, lebensweltlichen Probleme der Menschen zu entwickeln, die nah an deren Bedürfnissen, Zwängen und Möglichkeiten ansetzen, kann Nachhaltigkeit im Verkehr und bei der Organisation von Mobilität gelingen.
Vor diesem Hintergrund braucht es nicht erst eine vollständige Elektrifizierung des Verkehrs, insbesondere des individuellen, oder eine komplette Umorientierung der Menschen und ihrer Werte hin zu nichtmotorisierten Fortbewegungsmitteln. Vielmehr können oft schon niedrigschwellige Angebote und kleine Veränderungen messbare Wirkungen erzielen. Das Teilen bereits vorhandener privater Fahrzeuge und eine damit verbundene effizientere Nutzung können starke soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeitseffekte erzielen (Nitschke 2020; Kesselring et al. 2020). Menschen, die bislang von Aktivitäten wie kulturellen Veranstaltungen und gesellschaftlichem oder politischem Engagement ausgeschlossen waren oder Einkaufsmöglichkeiten nicht nutzen konnten – weil sie nicht über ein eigenes Auto verfügen – könnten auf der Basis von geteilter Mobilität sozial integriert und ihre Möglichkeitsräume erweitert werden. Indem Fahrten gemeinsam stattfinden und organisiert – gebündelt – werden, können CO2 Emissionen reduziert werden. So lassen sich in nicht geringem Maße Kosten sparen, Mobilität günstig ermöglichen und die Beweglichkeit und Freiheitsgrade von Menschen erweitern (Georgi et. al 2017: 20).
Es wird zunehmend deutlich, dass die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen wie auch die der nationalen und Landesregierungen allein mit technologischen Innovationen wie der Elektrifizierung (Stichwort Antriebswende) und auch nicht in Verbindung mit organisatorischen Innovationen wie Mobility as a Service (Stichwort Verkehrswende) oder diversen Sharingmodellen erreicht werden können. Vielmehr bedarf es gesellschaftlicher Dynamik, bei der die gesellschaftlichen und institutionellen Akteur:innen selbst ein neues Verhältnis zu Mobilität, Verkehr und insbesondere zu Distanzen entwickeln (Baden-Württemberg Stiftung 2017). Die Folge davon wäre die dynamische Entwicklung einer nachhaltigen Mobilitätskultur, die im Alltag der Menschen und der Organisationen verankert ist und den Verbrauch von Ressourcen in den Mittelpunkt stellt (siehe Abbildung 1). Erst dann ist es gerechtfertigt, von einer wirklichen Mobilitätswende zu sprechen, weil sich der Alltag, die Routinen und sozialen Praktiken der Menschen in Verbindung mit technologischen und organisatorischen Innovationen und der politischen Gestaltung sowie Regulierung dauerhaft und nachhaltig verändern, was Hajer (2011), in seinem gleichnamigen Buch, als energetic society bezeichnet.
So können gesellschaftliche Gestaltungskräfte nicht nur mobilisiert, sondern zum Treiber der sozio-technischen Innovation werden. Auf der Alltagsebene können so, unmittelbar erfahrbar für die Bürger:innen, neue Mobilitätspotenziale erschlossen werden, beziehungsweise können sie diese selbst freisetzen und entwickeln. Systemisch gedacht heißt das, es werden gesellschaftliche Synergieeffekte erzeugt, die es Menschen ermöglichen, nachhaltig mobil zu sein ohne dies als Verlust, Defizit oder Überforderung zu erleben (siehe Abbildung 2).
MobiQ als Impuls für die Entwicklung einer nachhaltigen Mobilitätskultur
Der Mobilitätssektor in Deutschland sieht sich, neben den ökologischen und ökonomischen Belastungen, auch großen sozialen Herausforderungen gegenüber: Es herrscht ein ungleicher Zugang zu unterschiedlichen Mobilitätsformen, der in Abhängigkeit von der jeweiligen Bevölkerungsschicht und ihren ökonomischen und sozialen Lagen steht (Daubitz 2016). Erreichbarkeiten und Mobilitätsangebote unterscheiden sich enorm zwischen urbanen, sub- und periurbanen sowie ländlichen Regionen (Becker und Bormann 2018). An diesen ökologischen, sozialen und raumstrukturellen Herausforderungen setzen nachhaltige Mobilitätskonzepte an (Hennicke et al. 2021). Sie zielen darauf, den Mobilitätsbedürfnissen der Menschen gleichermaßen gerecht zu werden und auf Dauer resiliente, effiziente Strukturen zu schaffen, die Mensch und Umwelt weder heute noch in Zukunft übermäßig belasten und die dauerhaft finanziell tragfähig sind (Banister 2008; Sheller 2018).
Nachhaltige Mobilität mehrdimensional gedacht
Vor diesem Hintergrund wird im Reallabor MobiQ der Begriff Nachhaltigkeit mehrdimensional gefasst und nicht auf eine primär ökologische Perspektive verengt. In Anlehnung an Hauff und Brundtland (1987) sowie Nicholson (2004: 12) wird unter nachhaltiger Mobilität eine solche verstanden, die den Bedürfnissen der Gesellschaft nach Freizügigkeit, offenem Zugang zu Ressourcen, Kommunikation, Handel und Beziehungen gerecht wird, ohne dass andere wesentliche menschliche oder ökologische Bedürfnisse heute oder in Zukunft beeinträchtigt werden. Neben der Frage, wie Bewegung im Raum ressourcensparend organisiert werden kann, umfasst dieses Verständnis auch:
- Klimaschutzwirkungen,
- mittel- und langfristige klimafreundliche Verhaltensänderungen im Bereich Mobilität,
- Neugestaltungen in Quartieren, da Mobilität und öffentlicher Raum neu gedacht und somit auch neu gestaltet werden können,
- den Aufbau eines tragfähigen, neuen Mobilitätsangebots,
- und den Transfer der Ergebnisse, sodass die Erkenntnisse zur Implementierung nachbarschaftlicher Mobilität auch in anderen Regionen und Orten anwendbar sind.
Wende der Mobilitätskultur
Für dauerhafte Nachhaltigkeitseffekte ist begleitend zur technologischen Transformation des gegenwärtigen Verkehrssystems auch die soziale Innovation einer zivilgesellschaftlichen Mobilitätskultur notwendig (Baden-Württemberg Stiftung 2017: 239; Mögele und Rau 2020; Nitschke 2021). Mobilität im Sinne von Beweglichkeit (Bonß und Kesselring 2001) wird als ein Grundbedürfnis und Mittel zur gesellschaftlichen Integration und Teilhabe angesehen. Daher darf Mobilität nicht einfach eingeschränkt oder verboten werden, vielmehr müssen Mobilitätssysteme und -strukturen gefördert werden, die es Menschen ermöglichen, vergleichbar beweglich zu sein. Dies kann heute auf sehr unterschiedliche Weise hergestellt und realisiert werden. Der Besitz eines Fahrzeugs muss nicht, wie häufig in der Vergangenheit, der alleinige Schlüssel zur Beweglichkeit sein (Kesselring 2006a). Vielmehr geht es um den Zugang, oder, wie Rifkin (2000) es in seinem gleichnamigen Buch nennt, access, zu Mobilitätstechnologien und -optionen. “Freedom is measured more by access to others in networks than ownership of property in markets. The deeper and more inclusive one’s relationships, the more freedom one enjoys. […] Freedom for an Internet generation is the ability to collaborate with others, without restriction, in a peer-to-peer world” (Rifkin 2014: 276).
Mit den heutigen technischen Möglichkeiten können der Zugang zu sozialen Chancen und die Eingebundenheit in Arbeitsmärkte effizient und nachhaltig gestaltet werden. Verschiedene sozioökonomische Lagen und heterogene Bedürfnisse können so bedacht und passgenaue Lösungen entwickelt werden. Die Methode der Reallabore eignet sich durch ihren transdisziplinären und partizipativen Ansatz insbesondere zur Anwendung in den Bereichen der sozio-ökonomischen Transformation von Mobilität und Nachhaltigkeit. Reallabore bieten „(…) ein Instrumentarium (…), um gesellschaftliche Probleme zusammen mit Wissenschaft und mit Partnern wie Kommunen, Verbänden und wirtschaftlichen Akteuren gemeinsam vor Ort zu bearbeiten. Durch eine wissenschaftliche Begleitung lassen sich so gesellschaftliche Transformationsprozesse wie die Sanierung von Stadtteilen, die Einführung nachhaltiger Mobilitäts- oder Energiesysteme besser verstehen und gestalten“ (Bauer 2015: 5). Im Rahmen von Reallaboren führen Wissenschaftler:innen gemeinsam mit der Bevölkerung vor Ort Interventionen im Sinne von Realexperimenten durch, die dann analysiert werden und wichtige Erkenntnisse über soziale Prozesse und Dynamiken der Transformationsprozesse vor Ort liefern (Schneidewind 2019: 448f; Bergmann et al. 2021).
Interdisziplinäre Zusammenarbeit in drei Reallaboren
Der methodische Ansatz einer gemeinschaftlich verantworteten Implementierung zielt auf einen nachhaltigen Wandel der Mobilitätspraxis der Beteiligten im Reallabor und darüber hinaus ab. Scheinbar kleine Veränderungen durch die aktive Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure können nachhaltige und tiefgreifende Wirkungen erzielen (Freudendal-Pedersen 2020). Im Reallabor MobiQ arbeitet ein transdisziplinär aufgestelltes Team aus Sozialwissenschaftlern der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen, Architektinnen und Stadtplanerinnen der Hochschule für Technik Stuttgart, sowie Mobilitätsexpert:innen des Öko Institut e.V. in Kooperation mit Partnern vor Ort daran, die transformativen Potenziale in den Projektgebieten zu identifizieren und im Sinne einer „energetic society“ (Hajer 2011) zu aktivieren und dynamisch mit den Bürger:innen zu entwickeln.
An drei Standorten in Geislingen an der Steige, Stuttgart-Rot und Waldburg arbeitet das MobiQ-Team daran, gemeinsam mit den Bewohner:innen nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Dabei unterscheiden sich die gewählten Orte stark hinsichtlich ihrer verkehrlichen, siedlungsstrukturellen, städtebaulichen, sozialen und ökonomischen Ausgangssituationen. Stuttgart-Rot ist als Großsiedlung für mehrere Tausend Bewohner:innen nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden (Fiechtner und Fiechtner 2020). Die Mittelstadt Geislingen, im Südosten der Region Stuttgart im Landkreis Göppingen gelegen, befindet sich in einer ökonomisch schwierigen Situation mit 4,3 Prozent Arbeitslosigkeit (Agentur für Arbeit Göppingen, 2022). Waldburg ist ein staatlich anerkannter Erholungsort und liegt im ländlichen Raum im Landkreis Ravensburg (Bürgermeisteramt Waldburg 2021).
Methodischer Ansatz: MobiQ schafft Transformationswissen
MobiQ basiert auf einem inter- und transdisziplinären, transformativen und forschenden Reallaboransatz. Ein regulatorischer Experimentierraum eröffnet die Möglichkeit, die Ausgestaltung und Umsetzung nachhaltiger und nachbarschaftlich organisierter Mobilitätsangebote im lokalen Kontext zu erproben und deren Mehrwert erlebbar zu machen. Ziel der Reallabore ist es, Forschung und Praxis eng zu verknüpfen, um unter realen Bedingungen wertvolles Wissen über die Bedarfe der komplexen Wirklichkeit zu gewinnen und praktische Antworten für gesellschaftliche Probleme zu entwickeln. Es soll ein Transformationsprozess initiiert werden, der Bürger:innen und lokale Akteur:innen aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft für lebensnahe, bedarfsgerechte, nachbarschaftliche Mobilitätsformen und eine alternative Nutzung des öffentlichen (Straßen-) Raumes sensibilisiert und aktiviert. Dadurch sollen sich deren Mobilitätsverhalten und -muster langfristig verändern (Schäpke et al. 2017: 3ff; Defila und Di Giulio 2018: 10ff).
Wie in Abbildung 3 ersichtlich, übernimmt das Forscher:innenteam in der Begleitung der Reallabore eine Mehrfachrolle: es initiiert, unterstützt, wirkt als neutraler Impulsgeber sowie als forschender Beobachter, der analysiert, evaluiert und Erkenntnisse in den Forschungsprozess zurückkoppelt (Schaumann und Simon-Philipp 2019: 62). Darüber hinaus werden Erfahrungen aus der Praxis und Forschungserkenntnisse kontinuierlich und wissenschaftlich reflektiert.
Durch die Kooperation von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik sowie Verwaltung und dem engmaschigen Zusammenwirken mit der Zivilgesellschaft vor Ort kann die gesellschaftliche Akzeptanz für entwickelte und implementierte Maßnahmen deutlich erhöht werden (Simon-Philipp et al. 2021). Zudem wird das Interesse an einer nachhaltigen und lebenswerten Entwicklung des eigenen Wohnumfeldes und Quartiers gestärkt. Die Schlüsselbegriffe lauten daher: Ko-Design und Ko-Produktion. Es wird nicht für die Bürger:innen, sondern mit ihnen geplant und konstruiert (Bertolini 2017; Schäpke et al. 2017: 3, 25; Sandercock 2003; Defila und Di Giulio 2018: 10f, 40; Beecroft et al. 2018: 76; Nielsen 2006: 89ff).
Analyse bereits realisierter Sharingprojekte
Im Projekt MobiQ wurde die nachfolgend dargestellte analytische Struktur entwickelt, die auf dem Canvas-Modell nach Osterwalder und Pigneur (2011) basiert und durch Aspekte des Promotor:innenmodells nach Witte (1973) sowie Hauschildt und Gemünden (1999) und Handlungsempfehlungen für transformative Prozesse (Jacob et al. 2020) ergänzt wurde. Im Mittelpunkt der Analysen steht das gemeinschaftlich geschaffene Mobilitätsangebot (Wertangebot), für dessen Funktionieren und Tragfähigkeit verschiedene Schlüsselaktivitäten und -ressourcen notwendig werden können (siehe Abbildung 4).
Dieses Analyseraster, das als Teil der Ko-Evaluation des Reallabors wieder aufgegriffen wird, wurde auf elf Fallbeispiele nachbarschaftlich organisierter Mobilitätsprojekte angewendet, die ein breites Spektrum an Angeboten, aber auch an räumlichen, verkehrlichen und sozialen Kontexten abbilden. Das Forschungsteam führte dazu individuelle Expert:innengespräche mit Vertreter:innen der Fallbeispiele durch und analysierte Charakteristika der Konzepte und ihre die jeweiligen Entstehungsprozesse.
Räumliche und soziodemografische Kontextanalyse
Zur erfolgreichen Entwicklung spezifischer Lösungen, die an die individuellen Rahmenbedingungen und Bedürfnisse der Reallaborquartiere angepasst sind, bedarf es der intensiven Auseinandersetzung mit den Standorten. Im Rahmen einer Bestandsaufnahme und -analyse durch Kartierung und fotografische Dokumentation wird das Vorhandene erfasst und anschließend interpretiert (Schaumann et al. 2021). Um ein Verständnis für die Untersuchungsgebiete zu erlangen, müssen räumliche, funktionale und gestalterische Aspekte ebenso berücksichtigt werden wie gesellschaftliche, ökonomische und ökologische (Schwalbach 2009: 9; Reicher 2017: 163).
Eine wichtige Rolle spielt die Analyse der bestehenden Verkehrssituation, bei der die unterschiedlichen Straßenkategorien, übergeordneten Rad- und Fußwege sowie Angebote des öffentlichen Nahverkehrs untersucht werden. Für die Einordnung und Spezifizierung der Reallaborquartiere werden darüber hinaus die Topografie sowie die unterschiedlichen Frei- und Grünraumtypologien herausgearbeitet und eine Differenzierung der unterschiedlichen Gebäudenutzungen vorgenommen. Durch Sekundäranalysen bestehender Datensätze zur Familien- und Altersstruktur, zum Migrationshintergrund, zum Wanderungssaldo, zu Wohnformen und Haushaltsgrößen werden die soziodemografischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen der Quartiere ermittelt. Diese situative Kontextanalyse ermöglicht es, die Qualitäten und Defizite des jeweiligen Standortes sichtbar zu machen und Potenziale sowie Risiken zu identifizieren, um daraus den Handlungsbedarf für das jeweilige Reallabor abzuleiten (Reicher 2017: 163).
Im Rahmen der ergänzenden Akteursanalyse versteht sich das Reallaborprojekt selbst als Akteur:innen im sozialen Gefüge des Quartiers und der unmittelbaren Umgebung (siehe Abbildung 5). Die Akteure aus verschiedenen Sektoren werden nach dem potenziellen Mitwirkungsgrad im Reallaborprojekt in einem Drei-Kreise-Modell angeordnet. Akteur:innen, die dauerhaft aktiv am Erfolg des Reallabors mitwirken sind dabei im inneren Kreis angeordnet, während solche, die bei einzelnen Aktivitäten oder über einen beschränkten Zeitraum helfen, eher im zweiten oder den äußeren Kreisen notiert werden (Seebacher et al. 2018: 155ff). Die Analyse dient auch der Identifikation von bestehenden Vernetzungen zwischen den Akteur:innen und erleichtert wiederum die Verknüpfung des Projekts mit dem sozialen Gefüge des Quartiers durch die vertiefende soziale Netzwerkanalyse.
Soziomaterielle Netzwerkanalyse
Mit einer sozio-materiellen Netzwerkanalyse werden Informationen ermittelt, wie sich die Projekte der Reallabore in die sozialen Bedingungen und Umwelten vor Ort einfügen und vernetzen lassen (Kesselring 2006b). Die Erhebung der Daten erfolgt je Reallabor durch zehn bis 15 leitfadengestützte Interviews mit Bewohner:innen, möglichen Organisator:innen und Stakeholder:innen. Die Interviewpartner:innen werden direkt aus der Zivilgesellschaft rekrutiert. Diese leitfadengestützten Interviews berücksichtigen die Ergebnisse aus der Analyse der räumlichen Kontextbedingungen insofern, als dass diese zur Erstellung des Leitfadens genutzt wurden (Küsters 2009). Allerdings erklärt diese nicht ausreichend die Lebensrealität der Bürger:innen vor Ort, denn Menschen „entwickeln komplexe Netzwerkstrukturen, in denen soziale Beziehungen, geografische Orte und virtuelle Örtlichkeiten miteinander verknüpft werden“. (Kesselring 2006b: 342). Hier hilft die Kombination aus geografischen und sozialen, egozentrierten, Netzwerkkarten, da hierdurch erkennbar wird, welche Mobilitätspotenziale die sozialen Netzwerkstrukturen in den Quartieren beinhalten. Über die Netzwerkanalyse lassen sich zudem auch die (teilweise) daraus resultierenden tatsächlichen Bewegungsmuster aufdecken und darüber hinaus auch Zusammenhänge zwischen den sozialen Netzwerken und den Mobilitätsmustern ableiten. Wie aus früheren Untersuchungen hervorging, erlaubt diese Herangehensweise eine zunächst typspezifische und dann fallspezifische Annäherung an die Mobilitätsmuster der Reallaborteilnehmer:innen (Kesselring 2006b). Wichtig ist, wie Dimbath et al. (2018) bemerken, dass im Zuge der Fallauswahl im Forschungsverlauf, eine Dokumentation in Form von Dossiers der Interviewpartner:innen angelegt wird.
Erste und vorläufige Ergebnisse
Auf Basis des bereits (in Abbildung 4) beschriebenen Modells wurden erste Hypothesen zu den Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung gemeinschaftlicher Mobilität in Quartieren aufgestellt, die im Rahmen der Evaluation der MobiQ-Reallabore überprüft werden. Sie werden im Folgenden auszugsweise dargestellt.
Mobilitätsangebot: Gemeinschaftlich entwickelte Mobilitätsangebote (Wertangebote) unterscheiden sich je nach Zielgruppe und Kontext, was auch bei erfolgreich etablierten Angeboten die Skalierung und Verbreiterung des Angebots herausfordernd macht.
Nutzung und Nutzende: Viele gemeinschaftlich entwickelte Mobilitätsangebote werden bislang vorwiegend von einer homogenen Gruppe aus eher einkommensstarken und gut gebildeten Personen genutzt. Niedrigschwellige Sharingangebote ohne zu starke Regeln sowie Mitfahrangebote und Fahrdienste mit einem starken sozialen Austausch erreichen vermehrt auch andere soziale Gruppen.
Leitbilder: Eine stark gemeinschaftlich ausgerichtete und von den Beteiligten unterstützte Leitidee setzt Anreize, sich für den Betrieb des gemeinschaftlichen Mobilitätsangebots zu engagieren und stärkt die Akzeptanz, sich gemeinsame Regeln für die Ausgestaltung des Mobilitätsangebots zu geben.
Schlüsselpersonen: Prozesspromotor:innen stammen häufig direkt aus dem Kreis der Initiator:innen des gemeinschaftlichen Angebots. Die Fachexpertise für die Entwicklung und den Betrieb des Angebots stammt teilweise von Externen.
Grundtypen in der Entstehung: Es lassen sich verschiedene Grundtypen identifizieren: Erstens Mobilitätsangebote in gemeinschaftlichen Wohnprojekten, bei denen das Mobilitätsangebot Teil der gemeinschaftlichen Entwicklung des Lebens- und Wohnumfelds ist, zweitens Initiativen von Personen(gruppen), die für sich und andere geeignetere Mobilitätsangebote als die bestehenden schaffen wollen und drittens von der Politik initiierte partizipative Projekte.
Finanzierung und Sicherstellung des Betriebs: Der zentrale Grundpfeiler für den Betrieb gemeinschaftlicher Mobilitätsangebote sind zivilgesellschaftliche Tätigkeiten. Die Finanzierungsstrukturen können zwischen den verschiedenen gemeinschaftlichen Mobilitätsangeboten stark differieren. Besonders die Bereitstellung von Anfangsinvestitionen kann eine zentrale Herausforderung für das Entstehen von gemeinschaftlichen Mobilitätsangeboten darstellen. Insgesamt kommt der finanziellen Unterstützung durch öffentliche Quellen (zum Beispiel über direkte Zuschüsse, über Forschungsprojekte, Spenden et cetera) eine zentrale Rolle bei der Entstehung und dem Betrieb der Mobilitätsangebote zu.
(Im)materielle Schlüsselressourcen: Über den Grad der Automatisierung und Digitalisierung des Betriebs von Angeboten herrschen unterschiedliche Einschätzungen. Automatisierung und Digitalisierung kann die Organisation des Betriebs zwar vereinfachen, aber auch die Eintritts- und Nutzungsschwelle erhöhen. Diese Erkenntnisse dienen als Grundlage für die gemeinsame Entwicklung und Ko-Produktion neuer Mobilitätskonzepte mit den Bürger:innen vor Ort, über den Sommer 2022.
Reallabor Geislingen
Das Reallabor Obere Stadt liegt in der Großen Kreisstadt und Hochschulstadt Geislingen an der Steige, am östlichen Rand der Region Stuttgart. Die an der Bundesstraße B10 gelegene 28.000-Einwohner:innen-Stadt befindet sich sowohl im Einzugsgebiet der Stadt Stuttgart im Nord-Westen als auch der Stadt Ulm im Süden. Der negative Pendlersaldo derjenigen, die außerhalb der Stadt arbeiten charakterisiert das Mobilitätsgeschehen in Geislingen zusammen mit dem starken Durchgangs- und Lieferverkehr auf der B10. Dabei liegen die meisten Zielorte für Pendler:innensaldo entlang der Bahnstrecke Stuttgart-Ulm oder sind über Busverbindungen gut erreichbar. Geislingen verteilt sich auf insgesamt über fünf tiefe Talkessel am Trauf der Schwäbischen Alb. Aufgrund der topografischen Lage mit einigen Sehenswürdigkeiten in der Umgebung und der relativ guten Zuganbindung ist die Stadt besonders an Wochenenden ein Ausflugsziel. Der Standort der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt in der Oberen Stadt sorgt auch für Pendelverkehre von Studierenden mit dem PKW und per Bahn.
Die B10 bringt nicht nur Belastungen durch Lärm und Luftverschmutzung in das Quartier, sondern zerteilt es ebenso wie die gesamte Stadt (siehe Abbildung 6), was enorme Auswirkungen auf die urbane Aufenthaltsatmosphäre und -qualität in Geislingen hat. Die historische Altstadt liegt grob südöstlich der Bundesstraße und weist eine heterogene, mittelalterliche Baustruktur auf, teils mit Fachwerk, die Richtung Norden langsam in eine Blockstruktur übergeht. Diese innerstädtischen Wohnblöcke stammen größtenteils aus der Zeit der Jahrhundertwende um 1900 und wurden für Angestellte und Arbeiter:innen der Württembergischen Metallwarenfabrik (WMF) und der Maschinenfabrik Geislingen (MAG) erbaut. Letztere war südwestlich der B10 angesiedelt, existiert dort aber nicht mehr. Die WMF und die Outlet-City mit der so genannten Fischhalle stellen Anziehungspunkte für Ortsfremde dar. An den Hängen des Talkessels im Westen sind in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts Ein- und Mehrfamilienhäuser entstanden, während im Osten, vor allem in der Schlosshalde um den Bahnhof herum, größere historische Villen und großzügige, ursprünglich als Einfamilienhäuser geplante Gebäude errichtet wurden.
Im Quartier leben rund 6.000 Menschen (Stand: 31.12.2020). Die Bevölkerungsstruktur ist heterogen und kulturell vielfältig. Der Migrationsanteil im Quartier beträgt 45 Prozent. Die größte Altersgruppe stellen die 30 bis 45-Jährigen mit rund 21 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung dar. Der aktive Teil der Zivilgesellschaft ist in rund 200 Vereinen organisiert. Außerdem gibt es ein vielfältiges Angebot an sozialen Einrichtungen sowie einen Jugendgemeinderat und einen Integrationsrat, die an den Gemeinderat angeschlossen sind. Eine Vereinigung der Gewerbetreibenden sorgt für Quervernetzungen. Einen zentralen Knoten der Zivilgesellschaft vor Ort und wichtigen sozialen Treffpunkt im Quartier stellt das Mehrgenerationenhaus dar. In dieser Einrichtung treffen sich Gruppen zu verschiedensten Aktivitäten, ohne dafür extra Vereine gründen zu müssen. Das Mehrgenerationenhaus wurde als wichtigster Multiplikator und Ausgangspunkt für das weitere Vorgehen identifiziert und MobiQ arbeitet eng mit dem Team dort zusammen.
Reallabor Stuttgart-Rot
Stuttgart-Rot ist ein Stadtteil mit rund 10.000 Einwohner:innen im Bezirk Zuffenhausen. Rot entstand nach dem Zweiten Weltkrieg als Großsiedlung am nördlichen Stadtrand Stuttgarts. Demografisch und kulturell ist es geprägt durch einen hohen Anteil an über 65-Jährigen und zahlreiche Menschen mit Migrationshintergrund (63,80 Prozent) (Statistisches Amt Landeshauptstadt Stuttgart 2020). Die Mehrzahl der Gebäude in Rot sind drei-, vier- oder fünfgeschossige Zeilenbauten (siehe Abbildung 8) mit Ost-West-orientierten Wohnungen. Für den westlichen Quartierseingang prägend sind die markanten, denkmalgeschützten Hochhäuser Romeo und Julia des Architekten Hans Scharoun.
Die meisten Wohnungen in den Zeilenbauten befinden sich im Eigentum Wohnungsbaugesellschaften, darunter das kommunale Wohnungsunternehmen und Baugenossenschaften mit sozialer Orientierung. Privater Wohnungsbau ist vor allem in den Randbereichen mit Einzelhausbebauung verortet. Im Zuge der Internationalen Bauausstellung StadtRegion Stuttgart 2027 entstehen in den kommenden Jahren im Stadtteil weitere Wohnungsangebote mit einem hohen städtebaulichen, architektonischen und sozialen Anspruch, die unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht werden.
Einzelhandels- und Dienstleistungsangebote des täglichen Bedarfs befinden sich überwiegend im Westen der Großsiedlung, sodass einige Bewohner:innen weite Wege in Kauf nehmen müssen. Im Stadtteil gibt es ein breites Angebot an sozialer Infrastruktur wie Kindergärten und Schulen. Das Bürgerhaus Rot stellt den zentralen Treffpunkt dar, in dem öffentliche und private Veranstaltungen stattfinden. Im Rahmen des Städtebauförderungsprogramms Soziale Stadt konnten zahlreiche bauliche und soziale Projekte im Stadtteil umgesetzt und die Infrastruktur weiter verbessert werden (2003 - 2017). Der Bürgerverein Stuttgart-Rot e.V. setzt sich für das soziale Leben im Stadtteil ein und initiiert Projekte. Beispielsweise konnte mit der Zuffka, einer Fahrrad-Rikscha, ein besonderes, ehrenamtlich getragenes Mobilitätsangebot geschaffen werden. In bisher geführten Interviews wird die Bereitschaft im Stadtteil zum Teilen von (privaten) Fahrzeugen aller Art eher als gering eingeschätzt.
Die Stadtbahnlinie U7 verläuft zentral durch das Quartier und bindet Rot im 10-Minuten-Takt an den Stuttgarter Hauptbahnhof an. Obwohl das Angebot des öffentlichen Nahverkehrs durch zwei Buslinien ergänzt wird, müssen Bewohner:innen teils größere Strecke zu den Haltestellen zurücklegen (siehe Abbildung 9). Trotz einer Ausleihstation für Carsharing-Fahrzeuge stieg der Neuzulassungsanteil privater Pkws in den vergangenen Jahren kontinuierlich (Statistisches Amt Landeshauptstadt Stuttgart 2020). Das engmaschige Straßennetz in Rot folgt den Grundprinzipien des organischen Städtebaus der 1950er Jahre, der ruhende Verkehr dominiert den Straßenraum.
Reallabor Waldburg
Waldburg ist eine Gemeinde mit ungefähr 3.000 Einwohner:innen im Randbereich eines bedeutenden Wirtschafts- und Wissenschaftsschwerpunkts (Ravensburg, Weingarten, Friedrichshafen) sowie der touristischen Regionen Bodensee und Allgäuer Berge. Die, noch vor wenigen Jahrzehnten landwirtschaftlich geprägte Gemeinde, ist heute Naherholungsziel und Wohnstandort. Städtebaulich geprägt durch eine weiterwachsende aufgelockerte Bebauung vornehmlich mit Einfamilienhäusern (siehe Abbildung 10). In einem getrennt gelegenen Gewerbegebiet sind mehrere relevante produzierende Betriebe angesiedelt.
Im sozialen Netzwerk Waldburgs spielen Vereine eine zentrale Rolle. Ausgangspunkte für innovative Formate der sozialen Interaktion sind beispielsweise generationsübergreifende Wohnformen, ein digitales Nachbarschaftsnetzwerk und ein Repair Café. Es existiert ein großes Interesse an und Bewusstsein für Nachhaltigkeitsthemen.
Dennoch herrscht vielfach ein Pkw-zentriertes Mobilitätsverhalten vor, wie unter anderem in Interviews festgestellt werden konnte. Es existiert ein ausgeprägtes und wachsendes Aufkommen von Berufs- und Ausbildungspendler:innen. Die öffentlichen Busverbindungen werden von vielen Bewohner:innen nicht als ausreichend wahrgenommen. Fahrräder oder Pedelecs werden meist für Freizeitaktivitäten oder kurze Erledigungen innerorts genutzt, selten für überörtliche Wege zur Arbeits- oder Ausbildungsstätte. Ein wichtiger Grund dafür sind Lücken in der lokalen und überörtlichen Radweginfrastruktur.
Im Rahmen der Netzwerkanalyse wurde deutlich, dass bereits jetzt geteilte Mobilität stattfindet, etwa von im Gewerbegebiet tätigen Menschen. Auch Fahrzeugsharing im engeren sozialen Umfeld wird bereits praktiziert. Eine breitere Anwendung scheint an Einschränkungen der persönlichen Flexibilität in Kombination mit gleichzeitig geringem Problemdruck bei der MIV-Nutzung zu scheitern. Als Lösungsideen werden von Interviewpartner:innen zudem zusätzliche flexible On-Demand-Verkehre im ÖPNV vorgeschlagen.
Unterschiedliche Aktivierungsstrategien der Zivilgesellschaft sind notwendig
Nach einem guten Jahr der intensiven Arbeit im Reallabor MobiQ sind die großen Unterschiede der drei Standorte und ihrer sozio-ökonomischen, raumstrukturellen wie infrastrukturellen und kulturellen Rahmenbedingungen deutlich geworden.
Dies wird insbesondere in Waldburg sichtbar, wo die Wege nicht nur im verkehrlichen, sondern vor allem auch im sozialen Sinn kurz sind. Die dortige Zivilgesellschaft basiert auf sozialer Nähe, sprich, man kennt sich, hat oft auch eine gemeinsame Geschichte. Die Aktiven und die politisch oder auch wirtschaftlich Verantwortlichen sind bekannt und vor allem: zugänglich. Das dortige Team ist auf eine zivilgesellschaftliche Situation getroffen, die handlungsbereit ist. In Stuttgart-Rot und in Geislingen stellt sich die Situation anders dar. Dies hat mit der Komplexität und Größe der Nachbarschaften und damit zu tun, dass man es nicht mit einem ländlich, sondern jeweils mit urban strukturierten Kontexten zu tun hat. Die Aufgabe, zivilgesellschaftliche Potenziale zur Gestaltung nachhaltiger Mobilität zunächst überhaupt zu identifizieren und daraufhin projektspezifisch zu aktivieren, stellt sich anders, nicht zwangsläufig komplexer dar.
Auf der Basis der Kontextuntersuchung, die über eine sozio-materielle Netzwerkanalyse realisiert wurde, ist es gelungen, die jeweiligen Schlüsselakteure zu identifizieren. Dadurch lässt sich die zunächst hoch erscheinende Komplexität (Geislingen verfügt zum Beispiel über rund 200 Vereine) reduzieren. Durch die Netzwerkanalyse konnte zum Beispiel das bereits erwähnte Mehrgenerationenhaus in Geislingen in seiner Rolle als sozialer Knoten innerhalb der Stadtgesellschaft und im Untersuchungsraum bestätigt werden.
Ähnliches lässt sich über Stuttgart-Rot aussagen. Hier erweist sich das im Rahmen des Städtebauförderungsprogramms Soziale Stadt grundlegend sanierte und neu ausgebaute Bürgerhaus als wichtiger Kristallisationspunkt im Quartier. Als Schlüsselakteure konnten ein engagierter Bürgerverein sowie vielfältige Akteure aus dem Sozialbereich und der sozial orientierten Wohnungswirtschaft identifiziert werden.
Ein bereits etabliertes Mobilitätsprojekt basiert auf einer Serviceidee für Menschen, die nicht selbstständig alle Wege im Stadtteil selbst erledigen können.
In den bisher geführten leitfadengestützten Interviews zeigt sich eine tendenzielle Skepsis gegenüber der Idee (private) Fahrzeuge nachbarschaftlich im Quartier zu teilen. In Verbindung mit der im Reallabor vorgelagerten Analyse von Beispielen aus anderen Städten und Gemeinden sowie aus dem internationalen Kontext und auf der Basis der Netzwerkanalysen lassen sich im weiteren Vorgehen kontextsensitive Ansätze zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft für nachhaltige Mobilität generieren.
Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass Reallaboransätze unter den Bedingungen der Covid-19 Pandemie mit besonderen Herausforderungen konfrontiert sind. Hier müssen Ideen entwickelt werden, wie man insbesondere in Milieus und mit sozialen Netzwerken arbeiten kann, die nicht primär aus Digital Natives bestehen und wo Vergemeinschaftung und gemeinschaftliche Aktivität insgesamt auf physischer Kopräsenz basieren. Viele Bürger:innen aus der Mittelschicht waren während der vergangenen zwei Jahre seit Ausbruch der Pandemie gezwungen, im Homeoffice zu arbeiten. Bei Arbeitenden etwa aus dem Bereich der körpernahen Dienstleistungen, aus dem Service, der Gastronomie oder aus der Produktion ist dies häufig nicht der Fall gewesen. Reallabore und die angewendeten Methoden gründen darin, dass Menschen zusammen, vor Ort, in physischer Nähe zueinander an Themen, Projekten, Prototypen, et cetera arbeiten (Schneidewind 2019). Die derzeitige Situation stellt MobiQ, wie auch andere Reallabore, auf den Prüfstand. Im Frühjahr 2022 sind die ersten Workshops einer ganzen Serie geplant. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen entwickeln werden.
Für den Verlauf und den Erfolg von MobiQ wird es entscheidend sein, dass das Team und engagierte Bürger:innen zusammen dieses Problem lösen und zu einer dynamischen Aktivierung (Stichwort: energetic society) kommen. Der nächste Schritt wird die Identifikation konkreter Ansätze und Projekte sein, die an den realen Problemen der Menschen ansetzen und die lebensweltlich angebunden, sprich embedded (Giddens 1996) sind. Sobald dies der Fall ist, kann die nächste Stufe im Labor erreicht werden, das Ausgestalten, Konzipieren und Umsetzen von konkreten Projekten vor Ort und daran anschießend die Auswertung und wissenschaftliche Begleitung. Weitere Informationen können der Projektwebseite www.reallabor-mobiq.de entnommen werden.
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