Published 27.07.2022
Praktischer Städtebau
Erkenntnisse aus den Realexperimenten des Reallabors für nachhaltige Mobilitätskultur
Practical Urbanism
Findings of the Real-World Experiments in the Context of the Living Lab for Sustainable Mobility Culture
Keywords: Praktischer Städtebau; Reallabore; Realexperimente; provisorische Architektur; Practical urbanism; real-world experiments; living labs; provisional architecture
Abstract:
Stadtentwicklungsprozesse sind nicht nur komplex, sondern haben zumeist sehr lange Planungs- und Realisierungszeiträume. Diese Planungswelt und das Alltagsleben der Bürger:innen haben wenige Kontaktpunkte. Nicht selten werden erst nach einer Realisierung die generisch entwickelten Räume ohne Identität und Atmosphäre wahrgenommen. Diese gebauten negativen Raumergebnisse stellen die Planung von Stadt zunehmend infrage. Provisorische Architekturen erstellt im Rahmen von Realexperimenten als Vorwegnahme von räumlichen Qualitäten und Nutzungsangeboten eröffnen hier einen Diskursraum. Das analoge Ausprobieren und Erfahren sind eine wirkungsvolle Methode, das Abstrakte von Planung aufzubrechen. Reale Alltagswelt und Zukunftsbild überlagern sich und werden dadurch nicht nur erleb- sondern auch diskutier- und bewertbar. Die temporäre Umsetzung eröffnet somit eine weitere Dimension, was Städtebau auch sein kann. Wir bezeichnen diese angewandte Herangehensweise als Praktischen Städtebau.
Urban development processes are not only complex, but also usually have very long planning and implementation periods. This planning context and the everyday life of the citizens have few points of contact. Often the citizens perceive the spaces after the realization as generic, without identity and atmosphere. These negative spatial results are increasingly calling the planning of the city into question. Provisional architecture realized in real-world experiments as anticipation of spatial qualities and uses open up a discourse. Analog trying out and experiencing are an effective method of breaking up the abstract of planning. The everyday life and the vision of the future overlap and can therefore not only be experienced but also discussed and evaluated. The temporary implementation thus opens up a further dimension that urban planning can be and offer. We call this applied approach practical urbanism or practical urban design.
Vom klassischen Masterplan zum praktischen Städtebau
„Können wir uns noch den luxus erlauben, die welt lediglich zu erkennen, statt sie zu entwerfen?” (Aicher 1991: 78). Diese Frage stellte Otl Aicher im Jahre 1991. Über 30 Jahre und etliche Krisen später stehen wir heute vor Herausforderungen, welche die Menschheit und unseren Planeten grundlegend in Frage stellen, wenn wir keine Visionen und dazugehörigen Strategien dafür entwerfen und nachhaltig umsetzen.
Der Klimawandel, die Überalterung der Gesellschaft, die Globalisierung etwa sind komplexe Herausforderungen, die sich im gesellschaftlichen und auch unmittelbar im physischen Raum – vor allen Dingen in den Städten – stellen. Um diesen zu begegnen, reicht es nicht zu analysieren, wie die Gegenwart konstituiert und wie es zu dieser gekommen ist. Gebraucht werden Visionen, Ideen und Konzepte, die weit in die Zukunft denken und nicht ausschließlich auf die gegenwärtige Situation reagieren. Wie könnte unsere Umwelt aussehen, und wie können wir – als Gesellschaft – sie aktiv gestalten, sind dabei zentrale Fragestellungen.
Es geht um Transformationsprozesse, die wegen der Komplexität der Probleme auf ganz unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig angestoßen werden und verschiedene Handlungsperspektiven mit einbeziehen müssen.
Hierzu bedarf es einer integrierenden Haltung, die über Disziplinengrenzen hinweg, zwischen Theorie und Praxis, aktiv gestaltet werden. Diese bieten wir, als transdisziplinäres Team des Lehrstuhls Stadtplanung und Entwerfen der Universität Stuttgart, mit dem Städtebau an. Städtebau und das Entwerfen in städtebaulichen Kontexten bedeuten das Agieren in komplexen Situationen. Nicht die Lösung auf ein extrahiertes Problem hilft dabei weiter, sondern das Stellen von Fragen, das Herausarbeiten dessen, worum es geht und das aktive Entwerfen einer alternativen Zukunft. Der Mensch, aber auch Fauna und Flora stehen dabei immer im Zentrum aller Überlegungen und allen Handelns. Hierbei gilt es die Bedürfnisse und Wünsche des Individuums wie der Gesellschaft im Sinne eines Allgemeinwohls abzuwägen, kritisch weitgehend unhinterfragte Handlungsgrundsätze und Marktmechanismen neu zu denken. Auf Basis dieser intensiven Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, der Zeit und dem Ort müssen die dringend notwendigen Transformationsprozesse im städtebaulichen Maßstab gestaltet und angestoßen werden. Eine Haltung weg vom definierten Masterplan hin zu dynamischen Planungsstrategien.
Entwerfen bedeutet dabei, zu überlegen, wie es auch sein könnte. Nach Georg Christoph Lichtenberg, das Nutzen des Konjunktivs, das Aufspannen von Möglichkeiten (Lichtenberg 1923). Entwerfen begreifen wir nicht nur als Projektion eines zukünftigen Zustands, sondern auch als intellektuelles Ordnen durch das Herstellen von Beziehungen und Zusammenhängen im Raum, das Experimentieren mit räumlichen Qualitäten, Dimensionen und Proportionen als Grundlage für Interaktionen, Aneignungen und atmosphärische Wirkungen. Es ist für uns ein reflexiver, nicht linearer Prozess, der deskriptives Analysieren und Reflektieren ebenso beinhaltet wie eine theoretische Einbettung und das räumliche Austesten in Skizzen und Modellen bis hin zur Umsetzung. Insbesondere die temporäre Umsetzung von provisorischen Architekturen und damit die unmittelbare Erlebbarkeit und auch Mitgestaltung von Visionen im realen Raum eröffnet einen Diskursraum und damit eine weitere Dimension, was Städtebau auch sein kein. Wir bezeichnen das als Praktischer Städtebau. Schon durch kleine Interventionen können räumliche Qualitäten auch großer Entwicklungsmaßnahmen vorweggenommen und diskutiert werden. Praktischer Städtebau ist auf die Realität bezogen, entwirft und schafft mit unterschiedlichen Akteuren räumliche Situationen, er ist zudem sehr nützlich, um komplexe Zukunftsvisionen in langen Planungsprozessen unmittelbar sicht- und erlebbar werden zu lassen. Das Wort praktisch erfügt über diese beiden Bedeutungsinhalte und eignet sich deshalb besonders, diese Wirkweisen begrifflich zu fassen. Das Erleben von neu geschaffenen Raumqualitäten an einem konkreten Ort ist eine bereichernde Erfahrung in ihrem Entwicklungsprozess und kann aktiv bei Stadtentwicklungsprozessen eingesetzt werden. Das räumlich Konkrete ermöglicht eine Unmittelbarkeit und Wirksamkeit bei den Rezipienten, die durch die aktive Diskussionsteilnahme, die Koproduktion und/oder Nutzung des Angebotenen zu involvierten Akteur:innen im Sinne gestaltender Bürger:innen werden. Zurückgreifend auf Otl Aicher „müssen [wir] vom denken zum machen übergehen und am machen neu denken lernen“ (Aicher 1991: 78).
Stadtentwicklungsprozesse sind nicht nur komplex, sondern haben zumeist sehr lange Planungs- und Realisierungszeiträume. Diese Planungswelt und das Alltagsleben der Bürger:innen haben wenig Kontaktflächen. Planung bleibt oftmals abstrakt, erst im baulich Realisierten erkennen die Bürger:innen den Umfang und die Wirkung. Räumliche Qualitäten sollten – eigentlich für alle am Prozess beteiligten Akteure – im Fokus jeglicher Entwicklungsmaßnahme stehen. Oft allerdings sind andere Treiber wirkmächtiger. Nicht selten werden erst nach Realisierung die generisch entwickelten Räume ohne Identität und Atmosphäre wahrgenommen und dadurch die Planung von Stadt durch bebaute negative Raumergebnisse infrage gestellt.
Es braucht also nicht weniger, sondern bessere, auf die gesamte Umwelt bezogene Planung, es braucht den Entwurf und die Strategie für den Prozess.
Planung darf aber keine „analytische Ableitung von klaren, definierbaren Bedürfnissen und Programmen [sein], sondern ... das Aufzeigen neuer gesellschaftlicher und kultureller Chancen, neuer, auch politisch attraktiver Möglichkeiten in Form von Spielräumen und Gestaltungsangeboten“ (Sieverts 1999: 184). Die räumlichen Qualitäten, die durch eine Planung erreicht werden sollen, müssen gesellschaftlich diskutiert, politisch gewünscht und von der Verwaltung eingefordert werden. Für diesen Diskurs über Raum und Raumqualitäten bietet das Temporäre, das Provisorische Potenzial und Wirkkraft. Die provisorischen Architekturen als Vorwegnahme von räumlichen Qualitäten und Nutzungsangeboten eröffnet einen Diskursraum. Da ihr das Endgültige des Dauerhaften fehlt, ist sie unmittelbarer und gesellschaftlich, wird ihr zumeist mit größerer Offenheit begegnet. Durch die Erlebbarkeit am konkreten Ort werden sie zum Teil der Alltagswelt der Bürger:innen. Es werden Raumerfahrungen gemacht und diese positiv oder negativ evaluiert. Das analoge Ausprobieren und Erfahren ist eine wirkungsvolle Methode, das Abstrakte von Planung aufzubrechen. Reale Alltagswelt und Zukunftsbild überlagern sich und werden dadurch nicht nur erlebbar, sondern auch diskutier- und bewertbar. Es entsteht eine Resonanz zwischen Raum und Mensch (Rosa 2016).
Durch räumliche temporäre Interventionen kann über den Raum und den Prozess Wissen und Erfahrungen bei allen beteiligten Akteur:innen gesammelt werden. Dies hat Einfluss auf die Wahrnehmung und auch das eigene Handeln. Vieles kann übertragen und sogar skaliert werden, auch bei fachlichen Laien.
Praktischer Städtebau beinhaltet in diesem Sinne das aktive Gestalten von Raum.
Unterschiedliche Akteure werden zu Raumproduzenten und verlassen dadurch ihre passive Rolle als zu Beplanende (siehe Abbildung 1). Würde dies gängige Praxis, gäbe es einen steten und aktiven Diskurs über unser Zusammenleben und die gebaute Umwelt. Für einen konstruktiven und produktiven Diskurs bedarf es allerdings einer Klärung der Rahmenbedingungen und Kompetenzen der Beteiligten. Sehr wohl bedarf es auch in dieser Haltung zur Stadtentwicklung der Fachkompetenz von Stadtplaner:innen, Architekt:innen und Landschaftsarchitekt:innen.

Ziel einer solchen Herangehensweise ist, das Temporäre, das Provisorische in Transformationsprozessen nachhaltig zu nutzen. Nicht das Event, das Placemaking ist dabei im Fokus, sondern das aktive Verändern von Raum und Raumqualitäten, das Erleben dieser und der qualifizierte Diskurs darüber. Dazu müssen provisorische Architekturen eingebettet sein in eine Strategie, sonst verpufft ihr Potenzial, da sie allein nicht nachhaltig wirkungsvoll sind. Ebenso muss im Prozess stets Transparenz herrschen in Bezug auf das Vorgehen und die Rolle der Akteure sowie eine konstruktive Kommunikationskultur entwickelt werden.
Für eine qualifizierte Wirkung bedarf es aus Sicht des interdisziplinären Autorenteams des Weiteren einer guten Gestaltung und handwerklich wertigen Umsetzung, in tiefster Überzeugung, dass Gestalt- und Raumqualität einen positiven Einfluss auf unsere Lebensumwelt haben. Praktischer Städtebau steht für diese Qualität des Geplanten wie Gebauten. „Leichtigkeit, Spontaneität, Veränderungsfähigkeit – alle Tugenden des Provisorischen brauchen ein festes Grundgerüst, auf das sie sich abstützen können, um – in seinen Zwischenräumen – ihren Salto machen zu können.“ (Hoffmann-Axthelm 1994: 47) Ausgebildete Gestalter:innen verfügen über die Kompetenzen auch provisorische Interventionen mit großer Gestaltqualität zu entwerfen. Angehende Gestalter:innen führen wir mit sogenannten Design-Build-Projekten wie den Realexperimenten, welche die Lehre mit dem konkreten Planen und Bauen verknüpft, an diese heran (siehe Abbildung 2).

Provisorische Architektur als Werkzeug des praktischen Städtebaus
Der unfertige, fragmentarische, prozesshafte und konzeptionelle Charakter des Provisorischen ist aus heutiger Sicht für die stadtgestaltenden und raumforschenden Disziplinen aus unserer Perspektive in langjähriger Tätigkeit in Lehre, Forschung und Praxis relevanter denn je. Wo klassische Methoden und Werkzeuge der Architektur, Stadtplanung und Partizipation an ihre Grenzen kommen, können reversible und damit letztlich wiederum provisorische Eingriffe probehalber und vorläufig zu neuen Erkenntnissen führen. Den nur verknüpft mit lebenswirklich-situativen Handlungen, kann der Entwurf als ureigene Kompetenz der gestaltenden Disziplinen und Methode kreativer Erfindung und Problemlösung, den immer vielschichtigeren real-weltlichen Herausforderungen gerecht werden. (Rehle und Klawiter 2021). Das Dilemma des Städtebaus ist jedoch der große Maßstab, welcher es für Gestalter:innen im Entwurfsprozess nötig macht über Alternativen nachzudenken, da ein Arbeiten im Maßstab 1:1 kaum möglich ist. Für die Mehrheit bleibt das komplexe System Stadt somit auf der abstrakten Ebene der Darstellung (Geipel 2019: 17).
Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man unter einem Provisorium eine für den vorübergehenden Zweck meist schnell eingerichtete Sache, die zur Überbrückung oder als Notbehelf eines noch nicht endgültig definierten Zustands dienen soll. Dabei ist eine zeitliche Beschränkung des Gebrauches von vornherein nicht zwangsläufig festgelegt und auch für die Nutzer:innen nicht bindend.
Laurids Ortner, Architekt und Mitglied der Künstlergruppe Haus-Rucker-Co, nimmt das Provisorium in seinem 1973 erschienenen Artikel „Provisorische Architektur. Medium der Stadtgestaltung“ (Ortner 1977) in den architektonischen Diskurs mit auf. Für ihn erheben Provisorien keinen Anspruch auf Perfektion. Der Fokus liegt nicht im Detail, sondern im Konzept. Diese offene Vorgehensweise birgt laut Ortner das Potenzial mögliche Veränderungen zu simulieren, um Bürger:innen eine aktive Teilnahme an Entscheidungsprozessen zu ermöglichen. „Provisorische Architektur ist Medium für den Umbau unserer Städte, ist Ordnungsmittel und Großmobiliar, ist Koordinationselement für vorhandene Bausubstanzen und Prüfstand für öffentliche Meinung. Provisorische Architektur schafft die Möglichkeit, Wünsche und Vorstellungen der Stadtbewohner anhand vorgegebener Modelle zu konkretisieren, Verhaltensweisen in Erfahrung zu bringen.“ (Ortner 1977: 175)
Städte sind komplexe Systeme und werden in Zukunft immer häufiger unvorhersehbaren und unerwarteten Situationen gegenüberstehen, welche unsere bekannten Möglichkeiten der Planbarkeit überschreiten. Dies zeigt sich in der aktuellen Kriegsituation in der Ukraine oder der seit zwei Jahren andauernden Covid-19 Pandemie. Provisorische Architektur kann helfen, Planungsprozesse offenzuhalten, indem sie Ent-wurfsvarianten und formulierte Annahmen unkonventionell als Testnutzung umsetzt und im aktiven Benutzen auf Qualitäten und Schwachstellen hin überprüft (Becker 2013). Ihre offene und fragmentarische Gestalt in Form einer „offenen Baustelle“ (Lendzinski et al. 2016: 66) erlaubt es Dritten im laufenden Prozess einzusteigen, um so wertvolles Erfahrungswissen aus dem urbanen Alltagsgeschehen mit in die Entwicklung neuer Ideen einfließen zu lassen. Diese Auffassung von Partizipation hat das Potenzial auch planungsferne Menschen aktiv in die Entwicklung ihrer eigenen Stadt mit einzubeziehen und produktiver Teil von Planungsprozessen zu werden. Provisorische Architektur kann Stadtbewohner:innen dazu befähigen, den Status quo ihres alltäglichen Lebensumfelds zu hinterfragen, und unterstützt die Zusammenarbeit zwischen ihnen und Stadtgestalter:innen (Alexander et al. 1975: 41).
Mit dem Einsatz von Provisorischer Architektur als Werkzeug der stadtgestaltenden Disziplinen wandelt sich auch die Bedeutung und Art des Entwerfens sowie das Aufgabenfeld der zukünftigen Gestalter:innen. Eingebunden in gesellschaftliche sowie wissenschaftstheoretische Diskussionen, verschiebt sich die Funktion des Entwurfs, weg vom Endergebnis eines fertigen Plans hin zu einem dynamisch und proaktiv reagierenden Prozess. Ebenso ändert sich die Rolle von Gestalter:innen von einem planend rational denkendem Individuum, hin zu einer in Beziehung setzenden, aktivierenden und moderierenden Gemeinschaft von Gestalter:innen. Provisorische Architektur wird ein forschend-entwerfendes Werkzeug des Praktischen Städtebaus und zur aktiven Vermittler:in zwischen Realität und Vision.
Aktiv forschend entwerfen
Provisorische Architektur greift das Selbstverständnis der transformativen Wissenschaft auf, indem es neue Formen der Wissensgenerierung und -vermittlung aufzeigt und eine Methode darstellt, Transformationen in der gebauten Umwelt einzuleiten. Inmitten der Stadtgesellschaft verortet und eingebunden in Realexperimente kann Provisorische Architektur einen konkreten transdisziplinären und offenen Diskursraum über Stadt, Gesellschaft und Architektur aufspannen. Als forschend-entwerfendes Werkzeug des Praktischen Städtebaus fördert Provisorische Architektur zudem die öffentliche Auseinandersetzung zwischen Wissenschaft, Politik, Stadtverwaltung und Zivilgesellschaft und kann so Impulse für konkrete Planungsentscheidungen liefern. Planung von Stadt wird unmittelbar räumlich sichtbar, Qualitäten und Atmosphären erfahrbar und Entwürfe können auf ihre mögliche Alltagstauglichkeit hin überprüft werden.
Provisorische Architekturen sind keine fertigen Lösungen, vielmehr erlauben sie es, im Laufe des Experiments ergänzt, weiterentwickelt oder im Falle einer Verstetigung zu einem späteren Zeitpunkt integriert zu werden.
Losgelöst von gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fragestellungen, kann das Provisorische auch als Testnutzung formal-ästhetische und bautechnische Erkenntnisse ermitteln. Denn letztendlich ist das Werkzeug Provisorische Architektur auch eines der räumlich gestaltenden Disziplinen, das in Zeiten zunehmender Digitalisierung das Potenzial hat Forschung, Lehre und Praxis, Studierende und Lehrende im real-weltlichen Raum zusammenzubringen. Räumliches Entwerfen von ortsspezifischen Fragestellungen, verknüpft gesellschaftlich relevante Themen und Herausforderungen mit dem zu beplanenden Ort und setzt diese im Maßstab 1:1 um. Der Entwurf als eigenständige Form, Wissen zu erarbeiten, geht dabei iterativ vor und kann sich so komplexen Raumfragen Schrittweise annähern. Durch exploratives Vortasten und experimentelles Entdecken werde konkrete Antworten sichtbar, wo bis jetzt keine denkbar oder verfügbar gewesen waren (Wolfrum und Janson 2019, Stark et al. 2017) Der prozessuale Entwurfsansatz bringt Provisorien Stück für Stück in Form, gibt ihnen Gestalt und konkretisiert die gestellte Frage des Experiments. Provisorische Architekturen, eingebunden in Realexperimente und ausgestattet mit einer präzisen Fragestellung an die Stadt kann ein zentraler Weg zum Verstehen und Gestalten von konkreten Lösungen durch Experimente im realen Raum werden (Schäpke et al. 2017). Analog ermöglicht dieser Weg ein kollektives und erfahrungsorientiertes Lernen und verankert Denkräume in der Stadt. Der fiktive, zweidimensional zu beplanende Raum wird physisch greifbar und zum wirklichen Lern- und Sozialisationsraum der Zukunft.
Provisorien kann jede:r entwickeln und selbstständig umsetzen. Sie „erheben keinen Anspruch auf Perfektion, hier sitzen die Götter nicht im Detail, sondern in der Konzeption“ (Ortner 1977: 175). So erlauben es Provisorien, niederschwellig Anknüpfungspunkte auszubilden, um möglichst Vielen Zugang zur Gestaltung des eigenen Lebensumfeldes zu ermöglichen. Aus didaktischer Sicht wird diese Art des pädagogischen Lernens auch als Learning by Doing bezeichnet, also das Lernen durch Beobachten, Experimentieren und Erfahren (Sennett 2014). Eigens entwickelte und gebaute Provisorien können in Wechselwirkung mit sozialen Interaktionen so zum didaktischen Werkzeug der Städtebaulehre werden, die sich mittlerweile schwertut, den komplexen Wissens- und Erfahrungsschatz allein mit traditionellen Mitteln zu erschließen (Alfaro d’Alençon und Bauerfeind 2017). Sie schenken den angehenden Gestalter:innen den Freiraum, sich auf die drängenden Fragestellungen zu fokussieren, anstatt dem Anspruch der gebauten Ewigkeit gerecht zu werden.
Transformative Ansätze in Forschung und Lehre
Städte sind die gebaute Manifestation der in ihr lebenden Gesellschaft und deren Entwicklung. Bedürfnisse, Haltungen und Wertvorstellungen der Menschen zeigen sich in der gebauten Struktur, im Positiven wie Negativen. Jede Stadt ist Spiegel der Stadtgesellschaft. Ob die Bürger:innen sich aktiv in den Stadtbildungsprozess einbringen oder als passive Marktakteure und Konsumenten agieren entscheidet maßgeblich über ihre Lebensqualität und Identität. Damit Stadt in der gesellschaftlichen und räumlichen Dimension ein attraktiver, inklusiver und offener Ort wird bedarf es einer aktiven Stadtgesellschaft und somit einer aktiven Diskurskultur über unser Zusammenleben und unsere gebaute Umwelt. Praktischer Städtebau mit seinen experimentellen Methoden wie den provisorischen Architekturen sind ein Format mittels dessen dieser Diskurs dauerhaft und produktiv geführt werden kann. In Reallaboren mit umgesetzten Realexperimenten konnten wir diesen Ansatz anwenden, wissenschaftlich reflektieren und evaluieren.
Dem Reagieren und oftmals sogar dem Gefühl des gänzlichen Ausgeliefertseins auf bereits stattfindende Entwicklungen und Prozesse stellen Realexperimente eine aktive und gestaltende Position gegenüber. Diese befähigt die beteiligten Akteur:innen aus dem Modus des Passiven, Beschreibenden in einen der Aktion und Produktion zu gelangen. Hierin sehen wir einen sehr großen Wert für den Diskurs über komplexe Herausforderungen unsere Lebensumwelt betreffend.
Wissenschaft beforscht nicht mehr nur Prozesse und somit auch Bürger:innen, transformative und transdisziplinäre Wissenschaft hingegen entwickelt gemeinsam mit verschiedensten Akteur:innen Lösungsansätze und Strategien für die vor uns stehenden großen Transformationen (Schneidewind 2018: 431).
Es ist nicht einfach, über die Zukunft und alternative Lebensweisen nachzudenken und diese zu diskutieren. Es ist hingegen viel einfacher dies zu tun, wenn eigene neue Erfahrungen gemacht wurden und somit Erfahrungswissen zur Verfügung steht. Die Realexperimente durch provisorische Architekturen sind nur punktuelle Interventionen im Raum und zudem temporärer Natur, aber sie helfen neue Bilder und Erfahrungen zu gewinnen, wie öffentlicher Stadtraum anders aussehen und genutzt werden kann. Neue Raumsituationen, Raumqualitäten und Nutzungsmöglichkeiten werden unmittelbar und niederschwellig erlebbar, zum Teil spielerisch erfahrbar. Es entwickelt sich eine Interaktion zwischen der Intervention und dem Menschen, aber auch zwischen den Menschen untereinander. Das Fremde und der Fremde kommen miteinander in Kontakt. Das Temporäre der Realexperimente gibt die notwendige Offenheit. Die gemachten Erfahrungen befähigen nicht nur, sondern ermutigen auch viele Stadtbürger:innen sich am Diskurs über ihre Stadt zu beteiligen und auch wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Sie sind in gewissem Sinne eine Übung als gesellschaftliche:r Bürger:in zu agieren.
Realexperimente mittels provisorischer Architekturen als angewandte Methode des Praktischen Städtebaus können nicht alle Widersprüche in Stadtentwicklungsprozessen lösen, aber sie können Knoten darin identifizieren, lockern und neu verknüpfen.
Sie machen es möglich, dass wir unser räumliches Zusammenleben dauerhaft diskutieren und den Mut haben die Zukunft aktiv mitzugestalten. Die Potenziale eines aktiven Einbindens und Gestaltens sehen wir in Lehre und Forschung ebenso wie im Diskurs über Stadtentwicklung und Stadtentwicklungsprozesse gleichermaßen groß und weiter verfolgenswert, selbstverständlich im Bewusstsein der Grenzen der Möglichkeiten und der notwendigen Ressourcen.
Fokussierte, isolierte Fragestellungen an einen klar definierten Forschungsgegenstand sind als Methode für die komplexen Aufgabenstellungen in Bezug auf das Forschungsfeld Stadt mit seiner gesellschaftlichen und räumlichen Dimension oft nicht zielführend und bringen nur bedingt Erkenntnisgewinn geschweige denn Transformationsprozesse in Gang. Exakte Wissenschaft stößt hier an ihre Grenzen. Um der Stadt als einem System gerecht zu werden, bedarf es des Arbeitens mit Komplexität und transdisziplinärer Zugänge. Transformative Forschungsansätze und die Methode des Entwerfens als prospektives und zugleich reflexives Tun ermöglichen hingegen das Arbeiten mit und in der Komplexität von Stadt. Entwürfe arbeiten stets in und mit dem komplexen Gefüge aus Sachaspekten, Akteur:innen und übergeordneten Zusammenhängen. Sie entwickeln für eine konkrete Situation eine Vision für die Zukunft, loten mögliche Lösungswege aus und entwickeln so per se immer etwas Neues. Verschiedene Akteur:innen sind in den Prozess eingebunden, eine transdisziplinäre Zusammenarbeit ist gelebter Alltag. „der entwurf übersteigt theorie und praxis und eröffnet nicht nur einen neue wirklichkeit, sondern auch neue einsichten,“ (Aicher 1991: 195) konstatierte Otl Aicher zum Erkenntnisgewinns durch das Entwerfen.
Für die Wissenschaft ergibt sich aus dem transformativen Ansatz des Praktischen Städtebaus, welcher im Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur und den Realexperimenten angewendet wurde, eine Erweiterung der klassischen Wissenschaftszugänge (Ammon und Froschauer 2013, Weidinger 2013, Schneidewind und Singer-Brodowski 2014). Die planenden Disziplinen sollten ihre Kompetenzen zum forschenden Entwerfen (Research by Design) selbstbewusst herausstellen und aktiv auch als wissenschaftliche Formate anwenden. Ebenso relevant ist die Kompetenz zur Kooperation mit unterschiedlichsten Akteur:innen, die durch dieses Format erworben wurde. Der geschützte Raum der Universität wird verlassen und das Entworfene in der Baupraxis und gelebten Realität umgesetzt und angeboten. Ein Bewusstsein für die eigenen Kompetenzen und die eigene Rolle im Prozess wurde in den Realexperimenten gebildet, die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit deutlich erlebbar.
Transformationspfade in eine neue Wirklichkeit
Um sich den Herausforderungen einer nachhaltigen Stadtentwicklung auf allen Ebenen stellen zu können, bedarf es der transdisziplinären Zusammenarbeit aller Akteur:innen. Planungspraxis, Wissenschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft sind dabei keine Dienstleister:innen, Ausführer:innen oder Konsument:innen sondern sollten sich als Partner:innen im Entwicklungsprozess verstehen: Sie bringen unterschiedlichste Kompetenzen und Fähigkeiten in diese Prozesse ein, übernehmen Verantwortung und gestalten gemeinsam die Zukunft. Die Realexperimente im Sinne des Praktischen Städtebaus zeigen, wie eine solche Kooperation aussehen könnte und welche Potenziale sich daraus generieren lassen. Sie machen allerdings auch deutlich, wie notwendig die Bereitschaft aller Akteur:innen ist, daran mitzuwirken, ebenso wie die Akzeptanz und Wertschätzung der unterschiedlichen Kompetenzen und Rollen im Prozess.
Provisorische Architekturen im öffentlichen Raum können Themen und Herausforderungen in den Fokus rücken und eine Eigendynamik entwickeln, die kurzfristig sehr viel bewegen kann. Allerdings ist ein hoher Kapazitäten- und Ressourcenaufwand für die Umsetzung eines Realexperiments notwendig und auf den Akteur:innen lastet viel Verantwortung. Stadträumliches Experimentieren ist in diesem Sinne nur nachhaltig, wenn die Erkenntnisse im Anschluss wirksam genutzt werden und das Experiment in eine Strategie eingebettet ist. Um eine tatsächliche und langfristige Veränderung unserer Kultur zu bewirken, braucht es eine Verstetigung der angestoßenen punktuellen Veränderung über die politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Strukturen. In Bezug auf eine Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Stadtverwaltungen bedürfte eine Weiterführung der transformativen und transdisziplinären Forschung einer festen Verankerung in den Strukturen. Wünschenswert wäre, das Erfahrungswissen, das innerhalb von reallaborartigen transdisziplinären Projekten Grundlage ist und erst in deren Durchführung generiert werden kann, nachhaltig aufzubauen und gleichzeitig eine grundsätzliche Offenheit zu bewahren. Diese Offenheit muss dauerhaft eingefordert und im Forschungsalltag gelebt werden.
Der Praktische Städtebau stellt der klassischen Masterplanung eine Alternative gegenüber, welche den Faktor Zeit und die Koproduktion neben der Gestaltung und Funktionsfähigkeit ebenso berücksichtigt.
Die angewandte Methodik nutzt provisorische oder temporäre Architekturen ebenso wie performative Interventionen. Die Realexperimente im Zuge von Reallaboren eigneten sich als Möglichkeit diese Ansätze in Lehre, Forschung und Praxis anzuwenden und wissenschaftlich zu evaluieren. Der Erkenntnisgewinn aus dem aktiven Tun in einer transformativen und transdisziplinären Haltung stellte sich nicht nur für uns Forschende, sondern auch für die teilnehmenden Studierenden, Stadtverwaltungsmitarbeiter:innen und Bürger:innen ein:
Stadt ist kein statisches Konstrukt, sondern ein dynamisches Geflecht, welches durch Teilhabe entsteht.
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