Published 27.07.2022

Mittelstadt als Mitmachstadt

Ein Erfahrungsbericht aus einem transformativen Graduiertenkolleg

Medium-Sized Cities as Co-Participation Cities

A Field Report from a Transformative Graduate College

Keywords: Mitmachen; Stadtmachen; transformative Forschung; Stadtentwicklung; Mittelstadt; Co-participation; city making; transformative research; urban development; medium-sized cities

Abstract:

Das Graduiertenkolleg Mittelstadt als Mitmachstadt ist ein Kooperationsprojekt der Robert Bosch Stiftung mit sechs Lehrstühlen von RWTH Aachen University, Universität Stuttgart und Universität Potsdam, 10 Stipendiat:innen und zwei assoziierten Promovierende sowie 40 kleinen Mittelstädten. Der vorliegende Artikel ist aus den Perspektiven der Kollegsprecherin und der Koordinatorin verfasst, die gemeinsam einen reflektierenden Erfahrungsbericht zur Halbzeit der Kolleglaufzeit vorstellen. Dem Ziel des Kollegs folgend, in und mit Kommunen durch transformative Forschungsansätze der Doktorierenden Wandel anzustoßen, befasst sich dieser Beitrag mit folgenden Fragen: Mittelstadt als Mitmachstadt – Worum geht’s? Promovieren im Kolleg – Wie geht‘s? Mittelstädte vernetzten – Warum und wozu? Matching – Wie kommen Doktorierende und Städte zusammen? Transformativ Forschen – Was nehmen und geben wir mit?

The graduate college Medium-Sized Cities as Co-Participation Cities is a cooperative project of the Robert Bosch Stiftung with six chairs from RWTH Aachen University, the University of Stuttgart and the University of Potsdam, 10 scholarship holders and two associated PhD students, as well as 40 small medium-sized cities. The following article is written from the perspectives of the graduate colleges’ spokesperson and coordinator, who present a reflective report on their experiences at the halfway point of the graduate colleges term. Following the goal of the research group to initiate change in and with municipalities through transformative research approaches by PhD students, this article addresses the following questions: Medium-sized cities as participatory cities – what is it about? Doing a PhD in the graduate college - how does it work? Networking medium-sized cities – why and what for? Matching – how do PhD students and medium-sized cities come together? Transformative research – what do we take and give with us?

Mittelstadt als Mitmachstadt – Worum geht’s?

Ein Team aus RWTH Aachen University, Universität Stuttgart und Universität Potsdam führt – gefördert durch die Robert Bosch Stiftung – ein Graduiertenkolleg zu zukünftigen Entwicklungen kleiner Mittelstädte durch. Das Graduiertenkolleg ist inter- und transdisziplinär angelegt und zielt darauf ab, in ausgewählten deutschen Mittelstädten Zukunftsfragen und Transformationsanliegen zu untersuchen und durch neue Formen des Stadtmachens und Mitmachens Veränderungen herbeizuführen.

Im Überblick: Das Kolleg

Das Graduiertenkolleg wird von sechs Professorinnen und Professoren der RWTH Aachen University, der Universität Stuttgart und Universität Potsdam für die Robert Bosch Stiftung entwickelt und durchgeführt. Sie stehen mit ihrem Know-How in den Bereichen Architektur, Landschaftsarchitektur, Stadt- und Regionalplanung, Politik- und Verwaltungswissenschaft und Soziologie sowohl für die Betreuung der Dissertationen als auch als Wissensgeber:innen für die Kommunen zur Verfügung. Zu dem Team gehören Prof. Dr. Agnes Förster, Prof. Dr. Frank Lohrberg, Jun. Prof. Dr. Jan Polívka und Prof. Christa Reicher von der RWTH Aachen University, Prof. Dr. Sabine Kuhlmann von der Universität Potsdam und Prof. Dr. Cordula Kropp von der Universität Stuttgart. Dr. Fee Thissen von der RWTH Aachen University ist Koordinatorin des Graduiertenkollegs.

Das Graduiertenkolleg verfolgt einen qualitativen Ansatz, um Wandel in Mittelstädten zu beforschen, zu testen, zu reflektieren und auch neu zu denken. Das Graduiertenkolleg setzt an den spezifischen Transformationsaufgaben und Ressourcen der Mittelstädte an und verfolgt eine Entwicklungsperspektive von innen heraus. Das Ziel ist ein qualitatives Wachstum hin zu neuen erlebbaren Qualitäten in den Städten, welche über neue Formen des Mitmachens und Stadtmachens Verbreitung und Wirkung im Raum erfahren. In der Konzeption des Kollegs wurde als Ziel formuliert, dass die Doktorierenden in Kooperation mit den Kommunen Transformationsprozesse untersuchen, Transformationsaufgaben identifizieren und konkretisieren sowie Governancestrukturen, Planungs- und Kommunikationskulturen beobachten sollen. Das Mitmachen und Mitgestalten zu drängenden Zukunftsfragen vor Ort stand dabei im Zentrum des Interesses: Die Doktorierenden sollen zu Agent:innen vor Ort werden, die ihre empirische Forschung mit konkreten räumlichen, strukturellen und planerischen Impulsen vor Ort verknüpfen.

Zu diesem Ansatz der transformativen Forschung hat sich das Verständnis inkrementell entwickelt. Im engeren Sinne geht es darum, dass die Graduierten selbst durch Vor-Ort-Aktivitäten Impulse in den Städten setzen, die als Teil ihres methodischen Vorgehens in den Promotionen einen zentralen Baustein dieser darstellen. Im weiteren Sinne meint das transformative Forschen hier die Gesamtheit der Prozesse, welche die Graduierten a) selbst und in Kooperation mit den Kommunen durchlaufen, die in ihren Promotionen als Fallstudien einbezogen sind und beforscht werden, b) die sie mit der Gründung und Belebung des Mittelstadtnetzwerks entwickeln und c) welche sie durch die Zusammenarbeit im Kolleg erfahren.

Das Kolleg startete im Mai 2020. Das erste Jahr diente einer Sondierungs- und Analysephase sowie dem Aufbau des Mittelstadtnetzwerkes und dem Zusammenwachsen des Kollegteams. Die Doktorierenden konkretisierten danach ihre Forschungsvorhaben und Vorgehensweisen und schlossen sich seit dem Frühling 2021 mit Städten aus dem neu gegründeten Mittelstadtnetzwerk zusammen. Ihren Arbeiten liegt das Modell zugrunde, ein bis drei Städte in Fallstudienarbeit direkt zu beforschen und weitere Städte für ergänzende Formate wie beispielsweise Expertengespräche, Befragungen, Fokusgruppen, Fachaustausche et cetera hinzuzuziehen. Nach einer theoretischen Befassung und der Konkretisierung der methodischen Vorgehensweisen im Jahr 2021 ist das laufende Kollegjahr 2022 den Vor-Ort-Aktivitäten gewidmet.

Begrifflichkeiten: Mittelstadt als Mitmachstadt

Wenn nun von Mittelstadt als Mitmachstadt die Rede ist, lohnen sich zum Verständnis des Titels zwei Blicke in das von den Graduierten entwickelte Mitmachstadt-ABC. Dort sind die Begriffe Mittelstadt und Mitmachen wie folgt erklärt:

  • Mittelstadt:
    In Deutschland werden nach der Definition des BBSR Städte mit 20.000 bis 100.000 Einwohner:innen als Mittelstädte klassifiziert. Bei unter 50.000 Einwohner:innen wird von kleinen, bei über 50.000 Einwohner:innen von großen Mittelstädten gesprochen. Rund ein Drittel der Bevölkerung lebt in den bundesweit derzeit 624 Mittelstädten. International gibt es keine einheitliche Definition für Mittelstädte. Die Bandbreite von Mittelstädten ist groß, von wachsend bis schrumpfend, vom regionalen Ankerzentrum bis zu Städten in peripheren Randlagen (Graduiertenkolleg MaM 2022a; Adam et al. 2019).
  • Mitmachen:
    Das Mitmachen als Form der partizipativen Stadtentwicklung ist ein zentraler Aspekt im Mittelstadtnetzwerk. Mitmachen heißt etwas mit jemandem machen – und erweitert damit die klassischen Beteiligungsformate um eine gemeinsame Handlung auf Augenhöhe. Die Impulse und Beiträge werden von allen Akteur:innen entwickelt, eingebracht und umgesetzt. In diesem Prozess werden nicht nur Lösungen erarbeitet, sondern auch Ziele und Normen verhandelt (Graduiertenkolleg MaM 2022a).

Im Kolleg entwickeln die Graduierten ihre Aktivitäten und Mitmachansätze in und gemeinsam mit den Mittelstädten. Das Kolleg verfolgt damit selbst einen offenen, entwickelnden Ansatz. Mitmachen kann auf vielen verschiedenen Ebenen, mit unterschiedlichen Akteuren und zu unterschiedlichen Themen erfolgen. Um in dieser Komplexität einen Überblick zu erlangen, können zur Konzeption von Mitmach-Aktivitäten, aber auch zum reflexiven Verständnis von Mitmach-Prozessen sieben klärende Fragen gestellt werden. Diese werden in der folgenden Abbildung dargestellt (siehe Abbildung 1).

Die erste Abbildung mit dem Titel Konzeptionelle Annäherung an Formen und Dimensionen des Mitmachens zeigt in einem Koordinatensystem sieben W-Fragen, die in Prozessen des Mitmachens zu klären sind. Die Y-Achse verweist auf die Frage Wer mit wem? Also bezieht sie sich auf Akteure, Rollen und Relationen, auf den Grad der Interaktion und Stufen der Partizipation. Die X-Achse benennt den Faktor Zeit und ist aufgeteilt in die Planungsphasen: Agenda, Planung, Umsetzung und Betrieb. Die damit zusammenhängende Frage lautet: Wann im Prozess? Es geht darum, zu klären, in welchen Phasen das Selbst- und Miteinandermachen eingesetzt wird. Daraus ergibt sich die 3. Frage nach Wegen, Methoden, Räumen oder Medien des Miteinandermachens. Die Abbildung beschreibt, dass das Mitmachen physisch, performativ, kommunikativ oder nutzungsorientiert gestaltet werden kann. Punkt 4 ruft noch einmal die Zeitfrage auf: Welche Geschwindigkeit der Phasen und Iteration oder dem Rhythmus des Lernens gibt es? Also wie schnell kann etwas gemacht werden, wie schnell können Impulse gegeben und daraus gelernt werden?  Punkt 5 fragt nach der Organisation und Steuerung des Mit- und Selbstmachens und fragt damit nach Bezügen und Wegen zwischen den vielen Akteuren auf. Unter Frage 6: Wieso? sind Werte, Normen und die Kultur des Miteinanderentwickelns und -teilens zu beantworten. Mit der 7. und letzten Frage: In welchem Prozess? Ist zu überlegen, wie sich das Mitmachen in den Kreislauf der Raumproduktion einbettet und daraus eine vielfältige Gestaltung des Machens von Raum entstehen kann.
Abbildung 1: Konzeptionelle Annäherungen an Formen und Dimensionen des Mitmachens. Quelle: Eigene Darstellung Agnes Förster.

Das Format des Kollegs ist eine Einladung an die mitwirkenden Städte, neue Formate zu erkunden und zu erproben und diese in ihre aktuellen Planungsaufgaben und -prozesse einzubinden. Viele Kommunen im Mittelstadtnetzwerk haben geäußert, dass sie mit Hilfe von Mitmachformaten das gegenseitige Vertrauen sowie Akzeptanz und Transparenz stärken wollen. Wenn Formate und Prozesse über die gesetzlich vorgeschriebenen Schritte der Beteiligung hinausgehen, erfordert das bisweilen Mut und bringt einen erhöhten Aufwand mit sich. Dieser wird jedoch als lohnenswert wahrgenommen, da sich dadurch auch für die Verwaltungen neue Handlungsräume eröffnen (Graduiertenkolleg MaM 2022b).

Die Doktorierenden haben im Frühling 2022 ihre Beobachtungen zum Mitmachen in den Mittelstadtnetzwerkkommunen zusammengetragen (Abbildung 2). Es wird Aufgabe der Reflexion in den einzelnen Dissertationen sowie für das Kolleg insgesamt sein, die gewählten und entwickelten Formen des Mitmachens kritisch zu erörtern.

Abbildung zwei veranschaulicht die Beobachtungen zum Mitmachen in Mittelstetten, welche die Graduierung im Kolleg in einer Frühlingsklausur 2022 zusammengetragen haben. Auf die Frage Was heißt mitmachen? nennen die Doktorierenden vier Punkte: 
1.	gemeinsam auf Augenhöhe handeln, 
2.	gemeinsames Erarbeiten von Lösungen, 
3.	Verhandeln von Zielen und Normen, 
4.	Entwicklung und Umsetzung von »Etwas« durch viele Akteure. 
Unter der Frage Wer macht mit? zeigen die Doktorierenden verschiedene Akteure auf: Diese sind: 
Ämter der Verwaltung, Local heroes, Bevölkerung vor Ort, Wirtschaft, Intermediäre, Studierende oder Gratulierte, Stadtspitze und Politik.
Warum und wozu soll mitgemacht werden? ist die letzte Frage, zu der erste Erkenntnisse aus der Mittelstadtforschung des Kollegs zusammengetragen wurden: 
Akteure zusammenbringen und Netzwerke gründen, Orte beleben, Räume nutzbar und zugänglich machen, Begegnung ermöglichen. 
Vertrauen und Akzeptanz schaffen Transparenz herstellen.
Entwickeln von Raumbildern. 
Entwicklungen von Stadtgeschichten, Visionen und oder Utopien. 
Neu entdecken von Möglichkeitsräumen im öffentlichen oder halböffentlichen Raum. 
Raum für Subkultur stellen.
Abbildung 2: Beobachtungen zum Mitmachen in Mittelstädten Quelle: Eigene Darstellung Fee Thissen auf Basis der Beobachtungen der Graduierten im Kolleg.

Zusammenspiel: Transformationsansprüche von Kolleg und Kommunen

Diesem Verständnis von Mitmachen folgend, sollen in ausgewählten Mittelstädten Transformationen untersucht und ein (planungs-/ verwaltungs-)kultureller Wandel zu konkreten Themen, Zukunftsfragen und Transformationsanliegen der Städte herbeigeführt werden. Obwohl die Form der Impulse ergebnisoffen angelegt ist, rücken drei mögliche Transformationsansätze für die gemeinsame Arbeit von Forschung und Städten in den Mittelpunkt:

  • Wandel über Orte und Räume,
  • Wandel über Institutionen und Governance und
  • Wandel über Prozesse und Dialoge.

Dabei arbeiten die Doktorierenden des Kollegs an ihren Hochschulen, aber auch vor Ort in den Städten, um Transformationsprozesse zu untersuchen und Transformationsaufgaben zu identifizieren, zu konkretisieren und Planungs- und Dialogkulturen sowie Governancestrukturen zu beobachten. Darauf aufbauend gilt es, das Mitmachen und Mitgestalten zu wichtigen Zukunftsthemen vor Ort anzuregen, zu erproben und anschließend zu reflektieren. Mit dieser umsetzungsorientierten Forschung wird darauf abgezielt, aktuelle Fragen und Anliegen der Kommunen unmittelbar in wissenschaftlichen Untersuchungen aufzugreifen und umgekehrt durch die Forschungsarbeiten konkrete Wirkungen in den Kommunen zu ermöglichen. Die Robert Bosch Stiftung beabsichtigt mit der Förderung des Graduiertenkollegs Mittelstadt als Mitmachstadt diesen beidseitigen Wissenstransfer zwischen den transformativ Forschenden einerseits und den Verantwortlichen in Stadtverwaltungen und Bürgerschaften andererseits voranzubringen.

Promovieren im Kolleg – Wie geht’s?

Das Kolleg startete unter der besonderen Herausforderung der Covid 19 - Pandemie. Das geplante Vorgehen musste rasch neu konzipiert werden. Ein Zusammenspiel aus verschiedenen Kommunikations- und Arbeitskomponenten ist das Ergebnis.

Arbeitsfähig werden: Individuell, gemeinsam und darüber hinaus

Um in der Vielschichtigkeit der Aufgaben und unter den besonderen Umständen arbeitsfähig zu werden, entwickelten sich über das erste Jahr der Kolleglaufzeit unterschiedliche Formen der Kommunikation und Zusammenarbeit. Schnell wurde deutlich, dass das Zusammenkommen in zwei Forschungswochen jährlich a) aufgrund von Lockdowns nicht möglich war und b) bei der Neugründung des Teams auch quantitativ nicht ausreichte. Eine Kommunikationsstrategie zeigte unterschiedlichste digitale wie analoge Wege auf, um Bezüge zwischen den Doktorierenden zu stärken, regelmäßige und häufige Treffen zwischen Graduierten und PostDoc zu ermöglichen und mehrere, kürzere Veranstaltungen mit den Professor:innen zuzulassen. Zudem wurden weitere Formate entwickelt, um das Kolleg zielgerichtet mit Leben zu füllen. Dieses Zusammenspiel wird in der folgenden Matrix (siehe Tabelle 1) veranschaulicht:

Deutlich wird: Das Kolleg ermöglicht eine enge Zusammenarbeit der Doktorierenden untereinander, ergänzt durch Betreuungen und Schulungsangebote. Zusätzlich wird ein intensiver Wissens- und Erfahrungsaustausch mit den Mittelstädten und weiteren Akteuren von Ort angestrebt – durch die Arbeit im Feld, aber auch in den gemeinsamen Veranstaltungen mit den Städten.

Tabelle 1: Matrix der Kommunikations- und Arbeitskomponenten des Kollegs – Stand Sommer 2022. Quelle: Eigene Darstellung Fee Thissen.

Autonomie: Graduierte entwickeln

Die Graduierten wurden rasch selbst zu gestaltenden Akteuren. Vier Aktivitäten sind dabei hervorzuheben. Die Graduierten

  1. setzten sie sich früh mit ihrem Selbstverständnis als transformativ Forschende auseinander und verfassten ein Manifest mit orientierenden Leitsätzen (Abbildung 3);
  2. erstellten eine Mitmach-Landkarte, um sich darin zu orientieren und zu verorten;
  3. entwickelten das Planspiel Das verzwickte Reallabor in Mittelingen, das zur Reflexion über Mittelstädte einlädt;
  4. organisierten selbst eine Winterschool in Soest, um sich mit anderen Doktorierenden auszutauschen und zu vernetzen.

Abbildung drei zeigt das Manifest der transformativen Forschung, dass die Doktorierenden im Kolleg selbst entwickelt haben:
Wir forschen transforamtiv, das bedeutet: 
1.	wir setzen Impulse 
2.	wir beteiligen und bewegen aktiv 
3.	wir forschen transdisziplinär 
4.	wir verschränken Wissenschaft und Gesellschaft 
5.	wir agieren normativ 
6.	wir akzeptieren Konflikte 
7.	wir passen Prozesse stetig an 
8.	wir begreifen scheitern als Lernprozess 
9.	wir verstetigen Entwicklungen 
10.	wir übertragen Wissen.
Abbildung 3: Manifest der transformativen Forschung. Quelle: Graduiertenkolleg MaM 2022c.

Die Graduierten fanden parallel zu diesen gemeinsamen Aktivitäten ihre individuellen Themen für die Dissertationen. Diese reichen von eher räumlich orientierten Themen – wie beispielsweise:

  • Aneignung von Raum und Potenziale für die Gestaltung,
  • Der Stadtraum und seine Möglichkeitsräume für jugendliches Engagement,
  • Neue Raumabbildungen für die regionale Mittelstadt, über Handlungsfelder und globale Trends, wie beispielsweise
  • Neue Mobilität in Mittelstädten,
  • Mittelstädte als Möglichkeitsraum für suffizienzorientierten Klimaschutz, bis hin zu Fragen von Planung und Prozessgestaltung, wie
  • Akteursbilder und Governanceverständnisse von Stadtplaner:innen kleiner Mittelstädte,
  • Adaptionsfähigkeit von Planung in kleinen Mittelstädten im Kontext regionaler Transformationsprozesse,
  • Voraussetzungen und Beharrungskräfte zu Transformation.

Manche Graduierte beziehen sich dabei auf bestimmte Akteure, wie Verwaltung, junge Stadtmacher:innen mit internationaler Geschichte sowie Jugendliche.

Balance finden: Rahmen setzen, Freiräume lassen

Das Streben nach Eigenständigkeit und Selbstwirksamkeit charakterisierte die Gruppe der Graduierten von Anfang an. Dies wurde von der Koordination in einem steten Balanceakt zwischen Rahmensetzung und Programmierung einerseits und dem Ermöglichen von Freiräumen und dem Bestärken und Befähigen in der Nutzung dieser anderseits gelöst. Denn bei der Konzeption des Curriculums hatten Professor:innen und PostDoc nicht mit diesem hohen Grad an Eigenständigkeit der Doktorierenden gerechnet. Sie begrüßten dies aber natürlich und führten das Kolleg als lernenden Prozess fort. Verschiedene Fragen in Bezug auf die Rahmensetzung und in Bezug auf das Ermöglichen von Gestaltungs- und Entfaltungsräumen waren zu klären:

  • An welchen Stellen, wozu, ist wie viel Anleitung nötig?
  • Wo braucht es gemeinsame Meilensteine?
  • Wo und wie werden gemeinsame Inhalte zusammengeführt?
  • Wieviel Entfaltungsraum ist wo nötig?
  • Was könnten und sollten die Graduierten selbst gestalten und entscheiden?

Diese große Kommunikations- und Interaktionsaufgabe wurde gelöst, indem die Koordination als Scharnier zwischen Professor:innen und Graduierten fungierte. In beide Richtungen wurden wiederholt Erwartungen und Belange abgerufen sowie weitere Schritte im Dialog mit allen Beteiligten vereinbart. Auch Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten mussten häufig neu ausgelotet werden und waren teils mit Zugeständnissen und Kompromissen auf den verschiedenen Seiten verbunden.

Bei allen Herausforderungen, die im Kolleg selbst zu meistern waren und sind: Das Kolleg funktioniert nur durch die Zusammenarbeit mit den Mittelstädten. Wie die Kommunen akquiriert wurden, welche Städte sich dem Netzwerk angeschlossen haben und was sie ins Kolleg einbringen, wird im Folgenden vorgestellt.

Mittelstädte vernetzen – Warum und wozu?

Für die Kooperationsaufgabe zwischen Doktorierenden und Städten wurden – den oben beschriebenen Zielen folgend – kleine Mittelstädte mit 20.000 - 50.000 Einwohnenden gesucht, die in einen weiteren ländlichen geprägten Raum eingebettet sind und für diesen eine wichtige Ankerfunktion übernehmen. Mit der Ausschreibung fragten wir daher nach:

  • Übernimmt Ihre Kommune regionale Funktionen?
  • Steht Ihre Kommune unter (Entwicklungs-)Druck?
  • Hat Ihre Kommune bestimmte Transformationsanliegen räumlicher, struktureller, prozessualer Art?
  • Haben Sie Zukunftsfragen rund um die Themen Wohnen und Arbeiten, Freiraum, Infrastruktur und Mobilität?

Die Mittelstädte bewarben sich daraufhin mit konkreten Themen, Zukunftsfragen und Transformationsanliegen.

Mittelstädte im Kolleg

Ursprünglich und nicht wissend um die große Resonanz, die die Ausschreibung erzeugen würde, war die Annahme, dass sich acht bis zehn Städte bewerben würden und eine direkte Zuordnung von Mittelstadt und Promovend:in möglich würde. Dem Aufruf folgten jedoch etwa 35 Städte, fünf weitere Städte ergänzten mit der Zeit das Netzwerk (Abbildung 5). Auch hier musste in der Konzeption nachjustiert werden: Alle Kommunen wurden in das Netzwerk aufgenommen, da sie mit den anderen teilnehmenden Kommunen in den Dialog kommen sollten und die Möglichkeit erhielten, ihre spezifischen Fragestellungen sowie möglichen Lösungsansätze in einen Erfahrungsaustausch zu bringen. Dieses Angebot zur Kommunikation zwischen den Mittelstädten war durch die Pandemie eingeschränkt, besteht aber über die vierjährige Laufzeit des Kollegs hinweg durch Vernetzungstreffen und Mittelstadtkonferenzen.

So wurden im Sommer 2020 digitale Sondierungsgespräche mit allen Kommunen geführt, unter anderem um zu klären, inwiefern sich die in der Bewerbung genannten Transformationsaufgaben durch die Pandemie verändert hatten. Die damals noch neuen Erkenntnisse überraschen heute wohl kaum noch: Die Pandemie hat das Thema Belebung der Innenstadt in den Vordergrund gerückt; die Kommunen überlegten, wie sie durch den Einsatz digitaler Formate ihre Bürgernähe aufrechterhalten könnten; für alle anderen Handlungsfelder wirkte die Krise als Teilchenbeschleuniger (Grüger, Thissen 2021; Kleilein, Meyer 2021; BBSR 2020).

Durch die Kooperation mit den Doktorierenden der drei Hochschulen wird zusätzlich der Wissensaustausch zwischen Wissenschaft und Praxis ermöglicht. Die Doktorierenden stellten sich den Kommunen in einem Sommerschreiben vor und erarbeiteten Steckbriefe. Bei der dann folgenden ersten digitalen Mittelstadtkonferenz fanden Kennenlerngespräche statt. Davon ausgehend wurden sukzessive, den äußeren Rahmenbedingungen angepasst, Strukturen aufgebaut, die dahin führten, dass nun fast alle Kommunen auf die ein oder andere Art und Weise mit dem Kolleg oder einzelnen Doktorierenden kooperieren. Das Spektrum reicht von gemeinsamen Podcasts über Fokusgruppen bis zur Auswahl als Fallstudie (Fischer, Förster 2021; Melber, Förster 2021; Shapiro, Förster 2021). Mit Grimma richtet nun eine der bislang unbespielten Kommunen die zweite, analoge Mittelstadtkonferenz aus.

Abbildung vier zeigt eine Deutschlandkarte mit den Städten im Mittelstadtnetzwerk. Diese verteilen sich ausgehend von Anklam, Geestland, Nordenham, Rotenburg (Wümme) Neuruppin, Nienburg (Weser) im Norden über die Städte Fürstenwalde- Spree, Jüterbog, Guben, Wittenberg, Finsterwalde, Grimma, Döbeln, Meißen im Osten Deutschlands sowie die Kommunen Rees, Voerde, Geldern, Sprockhövel, Soest, Geseke, Plettenberg, Bedburg, Jülich und Alsdorf im Westen, sowie die fünf Städte Langen, Bad Kissingen, Coburg, Saalfeld und Hof in der Mitte Deutschlands bis hin zu St. Wendel, Homburg, Landau, Stutensee, Fellbach, Leonberg, Herrenberg, Horb am Neckar, Deggendorf, Überlingen und Lörrach im Süden Deutschlands.
Abbildung 4: Städte im Netzwerk. Quelle: Graduiertenkolleg, Quelle: Christina Wilkens.

Transformationsanliegen der Kommunen

Die Kommunen riefen in den Bewerbungen viele Handlungsfelder von Stadtentwicklung auf (Abbildung 6).

Deutlich zeigte sich der Wunsch der Kommunen, über die Kooperation mit dem Kolleg einen Blick von außen auf und in die Stadt zu holen.

Die Bereitschaft der Mitwirkung in den Kommunen ist dementsprechend hoch. Teilweise sind es die Bürgermeister:innen der kleinen Mittelstädte selbst, teilweise Wirtschaftsförder:innen, Mitarbeitende aus den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit und Marketing oder den Stadtplanungsämtern. Wenige Städte mussten in der bisherigen Laufzeit des Kollegs aufgrund von Kapazitätsmangel oder persönlichen Wechseln ihre Mitarbeit reduzieren oder absagen. Die Herausforderung im Miteinander besteht eher darin, Interessen und Ziele der Kommunen mit den Interessen und Zielen der Doktorierenden in Einklang zu bringen. Denn letztere sind keine Dienstleister:innen, sondern haben natürlich einen erfolgreichen Abschluss ihrer Forschungsarbeiten im Blick – bei denen aber die Belange der Kommunen berücksichtigt und behandelt werden sollen. Dies führt wiederum zur Frage, was in und mit den einzelnen Arbeiten eigentlich leistbar ist – dazu später mehr.

Abbildung fünf zeigt eine Wortwolke der Transformationsanliegen der Kommunen. Diese reichen von klassischen Handlungsfeldern der Stadtentwicklung wie Mobilitätskonzepten, Wohnraumfragen und Wirtschaftsentwicklung und grundsätzliche Fragen nach attraktiven Lebensbedingungen und der lebenswerten Stadt über aktuelle Fragen nach Energie- und Nachhaltigkeitswende oder der Umstrukturierung von Innenstädten bis hin zu Dialog- und Beteiligungsaspekten.
Abbildung 5: Transformationsanliegen der Kommunen. Quelle: Eigene Darstellung.

Matching – Wie kommen Doktorierende und Städte zusammen?

Wie beschrieben, ist das Kolleg in der glücklichen Situation, 40 Mittelstädte, 12 Doktorierende und viele Mitmachthemen koordinieren zu können. Da eine 1:1 Zuordnung von Doktorand:in und Mittelstadt nicht möglich war, wurde ein stufenweiser Matchingprozess mit mehreren Schritten vom besseren Kennenlernen bis zu einer verbindlichen Übereinkunft zum Zusammenarbeiten entwickelt.

Bindungen herstellen: Stufenmodell für das ‚Matching‘

Das Stufenmodell des Matchings für das Zusammenkommen von Doktorierenden und Kommunen veranschaulicht einen sechsstufigen offenen Prozess (siehe Abbildung 6). Dieser wurde in der 1. Mittelstadtkonferenz vorgestellt und in die Umsetzung gebracht. Das Zusammenkommen folgte dem Gegenstromprinzip: Die Kommunen konnten über Steckbriefe auf einer digitalen Moderationswand und in kleineren Gesprächsrunden die Doktorierenden kennenlernen. Andersherum konnten die Doktorierenden sich ein Bild davon machen, welche Städte sie möglicherweise in ihre Arbeiten einbeziehen möchten. Ziel sollte es sein, sowohl engere Bindungen einzugehen a) mit Kommunen, die für Fallbeispiele in Frage kommen und bei Vor-Ort-Aktivitäten unterstützen könnten, und b) in einem erweiterten Kreis, dem sogenannten Themenzirkel, der beispielsweise für Fokusgruppen, Umfragen, Expertengespräche et cetera zur Verfügung steht.

Abbildung sechs zeigt ein Stufenmodell zum Matching von Doktorierenden und Kommunen. In sieben aufeinander aufbauenden Stufen wird ein offener Prozess mit zunehmender Verbindlichkeit vorgestellt. 
Stufe eins: Gratulierte stellen sich den Kommunen mit Steckbrief vor.
Stufe zwei: Kennenlernen und Austausch bei erster Mittelstadtkonferenz als Gesprächsangebot anhand von Fragen.
Stufe drei: Interessensbekundung auf einer digitalen Moderationswand während der Konferenz von den Städten an Doktorierende
Stufe vier: Themen für Themenzirkel werden weiterentwickelt, Schnittstellen sind zu erkennen und gegebenenfalls Bündnisse einzugehen.
Stufe fünf: Bilaterale Gesprächsrunden mit den Themenzirkeln als individuelle Runden, mit Transparenz in die Gruppe.
Stufe sechs: Doktorierende konkretisieren ihre Forschungsvorhaben in Form eines Exposés. Stufe sieben: ein bis zwei Städte aus den Themenzirkeln übernehmen eine Art Patenschaft für ein bis zwei Doktorierende, die anderen Kommunen bleiben im Themenzirkel. Es wird ein Commitment zwischen Doktorand:innen und Kommune eingegangen.
Abbildung 6: Stufenmodell zum Matching von Doktorierenden und Kommunen. Quelle: Eigene Darstellung

Koordinieren: Alle abgestimmt einbinden

Bei der Konkretisierung des Matchings stellten sich insbesondere zwei Herausforderungen:

  1. Wie können möglichst viele Kommunen von den Forschungsarbeiten profitieren und in die Vorhaben einbezogen werden?
  2. Wie können die Städte den Doktorierenden zugeteilt werden, ohne dass es zu Konkurrenzsituationen innerhalb des Kollegs kommt?

Es half eine tabellarische Übersicht, in der die Doktorierenden im Januar 2021 eintrugen, welche Städte sie als Fallstudie im Blick haben und welche weiteren Städte als Themenzirkel in die Arbeiten eingebunden werden sollen. Die Übersicht zeigte, dass lediglich fünf der knapp 40 Kommunen noch nicht berücksichtigt waren und dass es bei wenigen Kommunen Abstimmungsbedarf zwischen Doktorierenden gab. Beides konnte über direkte und vermittelnde Gespräche untereinander aufgelöst werden.

Plattform schaffen: der Aktivitätenkalender

Die Doktorand:innen setzten dann gemeinsam einen digitalen Aktivitätenkalender auf und schrieben untereinander abgestimmt die Kommunen an, um sich mit ihnen für individuelle Gespräche zu treffen und das weitere Vorgehen zu besprechen. Der Aktivitätenkalender wird laufend aktualisiert und ist den Kommunen jederzeit digital zugänglich. Hier finden die Kommunen auch die Steckbriefe und Kontaktdaten der Doktorierenden und haben die Möglichkeit auf anstehende oder abgeschlossene Vorhaben zu reagieren.

Voneinander lernen: das Fall-Modell

Zudem wurde in dem Matchingprozess deutlich, dass alle Doktorierenden mit einem Grundmodell arbeiten: Sie bearbeiten ein bis maximal drei engere Fallstudien und beziehen weitere Kommunen ergänzend ein – um so die Erkenntnisse aus den engeren Fällen zu validieren, auf ihre Allgemeingültigkeit zu prüfen und am Ende der Promotionen verallgemeinerbare Aussagen treffen zu können.

Transformativ Forschen – was nehmen und geben wir mit?

Mit dieser Reflexion auf gut zwei Jahre Kolleglaufzeit wird deutlich, dass sich das Verständnis rund um den Ansatz des transformativen Forschens entwickelt hat: Zunächst einmal bleibt es recht einmalig, dass ein ganzes Kolleg mit zwölf Dissertationen das Transformative Forschen verfolgt. Dabei musste das Kolleg zunächst selbst eine gemeinsame Vorstellung davon entwickeln, was in den Einzelarbeiten eigentlich leistbar ist. Die Vorüberlegungen aus Antragstellungs- und Konzeptionsphase und das, was real von den Doktorierenden mit den Kommunen umgesetzt werden kann, stimmen dabei nicht uneingeschränkt überein.

Das Kolleg ist vielmehr ein ergebnisoffener Prozess, der unterschiedliche Formen des gemeinsamen Forschens zulässt.

Eine andere Forschungsgruppe der RWTH Aachen University kam bei einer Untersuchung zu Reallaboren an dieser Hochschule zu dem Ergebnis, dass das Kolleg Mittelstadt als Mitmachstadt verschiedenste Handlungsfelder vereint und durch den Einbezug gleichberechtigter Partner in einzelnen oder mit eigenen Projekten ein hohes Maß an Transdisziplinarität erfüllt wird (siehe Artikel von Backhaus et al. im ersten erschienen Heft (Backhaus et al. 2022)).

Diese Abbildung stellt grafisch den vorab beschriebenen Aufbau des Kollegs dar. 
Alle Informationen der Grafik waren im voranstehenden Text schon enthalten.
Abbildung 7: Aufbau transformatives Graduiertenkolleg – Stand Sommer 2022. Quelle: Eigene Darstellung Agnes Förster.

Der Aufbau des transformativen Graduiertenkollegs lässt sich nach rund zwei Jahren gemeinsamer Arbeit wie folgt beschreiben (Abbildung 7): Das Kolleg etablierte Netzwerke – sowohl auf Seiten der Graduierten als auch auf Seiten der Mittelstädte. Damit verbunden sind vielfältige Formen des Wissensaustauschs, der Schulung und der gemeinsamen Reflexion. Graduierte und Mitarbeiter:innen aus Verwaltungen treten dann in einzelnen Städten und konkreten Fällen transformativen Arbeitens in den Austausch. Nach einer Phase der Kontaktaufnahme und des Kennenlernens wird ein Wandelimpuls koproduziert. Aus dem Impuls entstehen in den Städten Wirkungen und die Beteiligten Graduierten wie auch Mitarbeiter:innen entwickeln daraus neues Wissen und Kompetenzen. Diese lokalen Prozesse werden wiederum in die Netzwerke zurückgespielt und übergeordnet reflektiert

Individuelle Fälle transformativen Forschens

Deutlich wird: Im engeren Sinne geht es hier beim transformativen Forschen darum, dass die Graduierten selbst durch Vor-Ort-Aktivitäten Impulse in den Städten setzen, die als Teil ihres methodischen Vorgehens in den Promotionen einen zentralen Baustein dieser darstellen. Dabei wurde im Kolleg, aber auch im Erfahrungsaustausch mit anderen Forschenden wiederholt reflektiert: Was ist in einer Promotion leistbar, wie kann ein agentenbasierter Ansatz aussehen? Schnell zeigte sich, dass die Ansprüche reduziert werden mussten – denn nur in den wenigsten Fällen klappt es, in den Kommunen mit anderen Stadtmachenden vor Ort in eine enge Kooperation und Umsetzung zu kommen. Auch nutzen nur Einzelne der Graduierten die Möglichkeit, Wandel vor Ort durch Impulse und sichtbare Veränderungen im Raum anzustoßen. Nur in zwei Projekten werden im Sommer 2022 räumliche Interventionen eingerichtet (Bühne und Baucontainer), um neue Orte für Kultur, Begegnung und Austausch zu schaffen.

Zahlreiche Dissertationen wirken über Institutionen und Governance und damit verwoben über Prozesse und Dialoge. Teilweise nutzen die Graduierten die Verflechtung in die Lehre, um mit Studierenden gemeinsam vor Ort in den Städten zu arbeiten. So machen sich im Herbst 2022 fünfzehn Studierende mit einer Doktorandin auf den Weg in eine Mittelstadt, um dort in einem gesamtstädtischen Leitbildprozess Raumabbildungen zu ergänzen und kartengestützte Interviews zu führen. Die meisten der Graduierten setzen auf Wandel über Prozesse und Dialoge, sie führen Workshops in den Stadtverwaltungen oder mit anderen Zielgruppen durch, setzen das oben erwähnte Planspiel ein, führen Interviews oder experimentieren mit weniger bekannten Methoden wie dem Story-Circle oder kulinarischen Komponenten.

Gemein haben diese Wandelimpulse, dass sie koproduktiv sind, da es sich um Aktivitäten handelt, die a) gemeinsam mit Dritten vorbereitet werden, b) die sich an ausgewählte Akteure in Mittelstädten richten, oder c) die in sich kommunikativ angelegt sind und bestehende Bezüge und Wege der Kommunikation womöglich verändern. Alle Graduierten durchlaufen in der Konzeption und Planung ihrer Vor-Ort-Aktivitäten, aber auch darüber hinaus in dem Zusammenspiel mit den Städten, einen intensiven Lernprozess, da sie in ihrer Agent:innen-Rolle Kommunikations- und Kooperationsprozesse gestalten. Sie generieren dabei neues Wissen über Mittelstädte, werden zu entwickelnden Akteuren, die aktiv Raum oder die Konzeption von Raum verändern. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Herausforderung, die eigenen Rollen immer wieder einzunehmen oder zu verlassen und bewusst zwischen dem Forschen und Machen zu wechseln.

Transformatives Forschen trifft Stadtentwicklung

Damit kommen wir zu einer weiteren Form des transformativen Forschens, denn im weiteren Sinne meint dies hier auch die Prozesse, welche die Graduierten in Kooperation mit den Kommunen durchlaufen und die sie mit der Gründung und Belebung des Mittelstadtnetzwerks erfahren. Die Graduierten haben sich speziell mit der Stadtgröße Mittelstadt beschäftigt, genauer den kleinen Mittelstädten, deren Einwohnerzahl zwischen 20.000 und 50.000 liegt. Sie fragen und diskutieren dabei immer wieder, ob es das Mittelstadtspezifische eigentlich gibt – und falls ja, was das dann eigentlich ist. Die Antwort ist nicht trivial und auch noch nicht in Gänze darzustellen. Erste Erkenntnisse zeigen aber: Die Mittelstädte sind hidden champions, die sich an den Großstädten orientieren, in ihrer Verwaltungsstruktur aber den Kleinstädten näher sind. Ein herausfordernder Spagat, der schwer zu lösen ist. Ein Schlüssel dazu könnte sein, im gemeinsamen Machen der vielen Akteure von Stadtentwicklung handlungsfähig zu werden. Die Vermutung liegt nahe, dass dies Mittelstädten durch kurze Wege und Bezüge zwischen den Akteuren leichter fällt und sie durch ihre kleinere Größe agiler sind. Die bisherigen Erkenntnisse zeigen jedoch, dass viele der teilnehmenden Kommunen in dialog- und beteiligungsorientierten Prozessen nicht erfahren sind. Der Lerneffekt zum Wandel über Prozesse und Dialoge sowie Institutionen und Governance wird also im Gegenstromprinzip auch auf Seiten der Städte erwartet.

Ein Benefit der Zusammenarbeit zwischen dem Mittelstadtnetzwerk und dem Kolleg wird also nicht zwingend die Lösung vor Ort im Raum sein, sondern stellt sich über das Lernen im gemeinsamen Prozess ein.

Transformativ Forschen im Kolleg

Auch die Prozesse des gemeinsamen Forschens im Kolleg sind Teil des Verständnisses von transformativer Forschung. Eine Besonderheit ist, dass die Graduierten trotz ihrer einzelnen Arbeiten und die Kommunen trotz ihrer individuellen Transformationsaufgaben durch gemeinsame Themen einen Zusammenhalt erfahren, der fortbesteht. Die zentralen gemeinsamen Themen sind a) das Mitmachen: Was heißt für uns Mitmachen und wie kann es ein- und umgesetzt werden? und b) das Mittelstadtspezifische: Was können wir gemeinsam über Mittelstädte lernen? Beides wird stets begleitet durch den Ansatz c) der transformativen Forschung.

Diese Themen werden bei gemeinsamen internen Veranstaltungen regelmäßig erörtert. Doch noch fehlt dem Kolleg – trotz eines frühzeitig eingeführten Forschungsdatenmanagements – ein gemeinsamer Erkenntnisspeicher, in dem die Lerneffekte über diese drei Themen zusammengetragen werden. Die kollektiven Erkenntnisse könnten dann zum einen gemeinsam ausgewertet, aber zum anderen auch in den einzelnen Arbeiten verwertet werden. In der aktuellen Phase der laufenden Empirie steht es nun an, ein gemeinsames Lern- und Reflexionsmodell zu entwickeln, von dem alle in der zweiten Hälfte des Kollegs profitieren können. Zudem wird es eine wichtige Aufgabe sein, das stets lernende Kolleg in die Debatte um Reallabore einzuordnen – insbesondere in Bezug auf den Mehrebenenansatz, der sich im Verbund von Transformationsimpulsen in einzelnen Städten und der Netzwerkarbeit innerhalb und zwischen Graduierten und Mittelstädten entfaltet.

About the author(s)

Fee Thissen, Dr.-Ing. Architektin und Stadtforscherin, ist Koordinatorin des Graduiertenkollegs Mittelstadt als Mitmachstadt. Qualitativer Wandel durch neue Kulturen des Stadtmachens. Ihre Berufserfahrungen bringt sie in die Zusammenarbeit mit Graduierten, Professor:innen, Stiftung und Kommunen ein.

Fee Thissen, Dr.-Ing. architect and urban researcher, is coordinator of the graduate college Medium-Sized Cities as Co-Participation Cities. Qualitative change through new cultures of city making. She brings her professional experience to the collaboration with graduate students, professors, foundations and municipalities.

Agnes Förster, Dr.-Ing. Architektin und Stadtplanerin, leitet den Lehrstuhl für Planungstheorie und Stadtentwicklung an der RWTH Aachen University. Sie beforscht und gestaltet Prozesse vom Quartier bis zur Region und ist Kollegsprecherin des Graduiertenkollegs.

Agnes Förster, Dr.-Ing. architect and urban planner, is head of the Chair of Planning Theory and Urban Development at RWTH Aachen University. She researches and designs processes from the urban quarter to the region and is the graduate colleges’ spokesperson

References

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