Published 2.04.2025

Der Ort der Zukunft Bürgewald

Zwischen Determiniertheit und Offenheit, Ambition und Trägheit

The Place of the Future Bürgewald

Between Determinism and Openness, Ambition and Inertia

Keywords: Strukturwandel; Transformation; Prozessgestaltung; Bodenpolitik; Dynamischer Masterplan; Structural change; transformation; process design; land policy; dynamic masterplan

Abstract:

Das umgesiedelte und weitestgehend leergezogene Dorf Morschenich-Alt der Gemeinde Merzenich am Tagebau Hambach wird aufgrund des vorzeitigen Ausstiegs aus der Braunkohleverstromung bis 2030 bergbaulich nicht mehr in Anspruch genommen. Dadurch ergeben sich einzigartige Möglichkeiten der gemeinwohlorientierten Transformation und des Umgangs mit dem Bestand. Der Artikel zeichnet den Prozess der vergangenen Jahre nach und reflektiert diesen im Spannungsfeld der Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Akteurs-, Maßstabs- und Zeitebenen.

Die Entwicklung zu einem Ort der Zukunft

Ein Dorf voller Erbbaurechte, ein Manifest für die anstehende gemeinwohlorientierte Transformation, ein Dynamischer Masterplan als ein Instrument in einem lernenden Prozess und die Verankerung des Umgangs mit dem Bestand in der alltäglichen Verfahrens- und Planungspraxis. Das vor der Inanspruchnahme durch den Tagebau Hambach gerettete Dorf Morschenich-Alt, ein Ortsteil der Gemeinde Merzenich am südlichen Rand des Tagebau Hambach, soll ein Ort der Zukunft werden. Die zukunftsfähige Transformation gewachsener Siedlungsstrukturen und Alltagsarchitekturen – am Beispiel des größtenteils leerstehenden Umsiedlungsdorfes Morschenich-Alt gekoppelt an eine besondere Eigentümer:innenschaft und einen enormen Sanierungsstau – formuliert nicht nur eine hohe Komplexität in Bezug auf die hierfür erforderlichen Prozesse und Verantwortlichkeiten, sondern verlangt auch nach neuen Instrumenten und Methoden, die auf verschiedene Formen von Unsicherheit und Risiken reagieren. Insbesondere stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Determiniertheit mit Blick auf klare Setzungen und Regeln zur Sicherung der formulierten Ziele, und Offenheit im Sinne einer Anpassungsfähigkeit an kommende Entwicklungen und Herausforderungen, aber auch zur Integration neuer und innovativer Ideen und Akteure. Besonders herausfordernd sind die Schritte Richtung Umsetzung des bereits vorhandenen Transformationswissens und die hierfür notwendige Überwindung der wachstumsorientierten Pfadabhängigkeiten und Hierarchien, welche die derzeitige Handlungspraxis dominieren und offensichtlich als Trägheitsmomente in Erscheinung treten. Im Folgenden wird der Entwicklungsprozess um die Ortslage Morschenich-Alt nachgezeichnet und mit Blick auf eine neue Planungskultur beziehungsweise Prozesskultur des Umbauens reflektiert.

Eine Geschichte in mehreren Akten

Der Transformationsprozess von Morschenich-Alt zu einem Ort der Zukunft namens Bürgewald ist geprägt von Gleichzeitigkeiten unterschiedlicher Akteurs-, Maßstabs- und Zeitebenen – und nicht zuletzt unterschiedlich ambitionierter Politiken und Begehrlichkeiten: Die klimapolitische Notwendigkeit des Ausstiegs aus der Braunkohleverstromung, beschleunigt durch die Massenproteste um den Hambacher Forst, trifft auf den Strukturwandel in den drei bundesdeutschen Revieren. Das Land NRW verhandelt politisch und gemeinsam mit der RWE Power die Umsetzung des Kohleausstiegsgesetzes der Bundesregierung von 2020, welches sich unter anderem in einer veränderten Planungs- und Förderpolitik und einer Diversifizierung der Verantwortlichkeitslandschaft niederschlägt. Die Kommunen und Kreise, bislang insbesondere durch die räumlichen Konsequenzen der Energiepolitik des Bundes geeint, werden unter dem Label Rheinisches Revier zusammengefasst und sollen eine gemeinsame Identität formulieren. Und besagte RWE Power muss sich nach dem Kurswechsel um die Leitentscheidung 2021 des Ministeriums für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen (MWIDE.NRW) in eine neue Rolle einfinden. Gleichzeitig werden die betroffenen Kommunen in Politik und Verwaltung mit den Planungsaufgaben hin zu einer Transformationslandschaft in einer Geschwindigkeit konfrontiert, welche deren personelle Kapazitäten und monetären Ressourcen deutlich übersteigen.

Auch die Akteurslandschaft hat sich in den vergangenen Jahren weiter ausdifferenziert. Neben der Gründung der Zukunftsagentur Rheinisches Revier (ZRR) haben sich die Anrainer der jeweiligen Tagebaue zusammengeschlossen, um ihre Interessen gemeinsam in Fragen der Regionalentwicklung einzubringen. Die RWE Power und das Land NRW haben gemeinsam die Perspektive.Struktur.Wandel mit Blick auf die Nachnutzung einzelner RWE-Standorte gegründet. Das Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung des Landes Nordrhein-Westfalen (MHKBD.NRW) hat zur Unterstützung der Kommunen die Starke Projekte initiiert – eine hundertprozentige Tochter der bereits etablierten Tochtergesellschaft für Stadtentwicklung NRW.URBAN. Die Kommunen selbst werden durch eine Förderung für Strukturwandelmanager:innen personell unterstützt, während die Bürgermeister:innen die Gleichzeitigkeiten der unterschiedlichen Ebenen zu vereinen suchen, die sich räumlich konkret in ihren Gemeindegebietet niederschlagen. Nicht zuletzt wird mit der Entscheidung für die kommende Internationale Bau- und Technologieausstellung Rheinisches Zukunftsrevier (IBTA) ein weiterer Player in Verantwortung des MHKBD.NRW und dem Ministerium für Ministerium für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen (MWIKE.NRW) in Erscheinung treten.

Auf planerischer Ebene gilt es, einen robusten und transparenten Prozess sowie eine funktionsfähige Governance zwischen den unterschiedlichen Zeitebenen der formellen Planungsverfahren, der Umsetzung konkreter Projekte, zwischen Forschungsfragen und der Entwicklung von Piloten zu etablieren – und diese mit der Lokalpolitik, der Bevölkerung und zivilgesellschaftlichen Akteuren gemeinsam zu gestalten.

Der Lehr- und Forschungsschwerpunkt Zukunftsfähige Transformation des Lehrgebietes Stadtplanung, Transformation und Prozessgestaltung der FH Aachen engagiert sich seit 2020 in Morschenich-Alt. Noch vor der Leitentscheidung 2021 begann die Auseinandersetzung mit der über die Jahre kaum veränderten Ortslage. Die planerische Besonderheit des kleinteilig gewachsenen Siedlungsstruktur in einer Eigentümer:innenschaft, in der die bisherige Parzellengliederung zukünftig neu verhandelt werden kann, wie auch die Zurückgewinnung des südlichen Tagebauvorlandes als Planungsraum in Insellage wurde schnell zum Forschungsschwerpunkt um die Auseinandersetzung mit bodenpolitischen Fragestellungen, mit dynamischen Planungsinstrumenten und mit der Gestaltung offener Prozesse. Der vorliegende Text sucht aus Perspektive der jahrelangen Begleitung einzelne Entwicklungsstränge und Handlungspraxen herauszuarbeiten, die in der Zusammenschau ein komplexes Wechselspiel zwischen den drei formulierten Ebenen Politik, Akteure und Planung ergeben.

Status Quo

Im Juni 2024 übergab die Ministerin des MHKBD.NRW der Gemeinde Merzenich im Rahmen der Temporären Universität Hambach (tu! Hambach) einen ersten Förderbescheid über 57 Millionen Euro (von insgesamt beantragten 90 Millionen Euro). Damit wird der auf 40,3 Millionen Euro bilanzierte Erwerb der Liegenschaften der Ortslage von der RWE Power finanziert. Die verbleibenden 16,7 Millionen Euro werden in den weiteren Planungsprozess zur Qualifizierung der Ortsentwicklung investiert. (Land.NRW 2024a) Ebenfalls im Juni beschließt das Landeskabinett NRW die Durchführung einer zehnjährigen IBTA, die 2025 beginnen soll. Als ein erster Baustein im Themenschwerpunkt „Von ausgeräumten Orten zur Heimat der Zukunft – new habitats“ wird das „Zukunftsdorf Bürgewald“ (Land.NRW 2024b) benannt. Beiden Entwicklungen kommen nicht von ungefähr. Die Gemeinde Merzenich jongliert bereits seit Jahren zwischen den Akteurs-, Maßstabs- und Zeitebenen – und der Prozess um Morschenich-Alt, seit dem offiziellen Ende der Umsiedlung im Juli 2024 umbenannt in Bürgewald, hat sich inzwischen zu einem wichtigen Transformationsbaustein im Rheinischen Revier entwickelt.

Von der Heimat zur Braunkohle und wieder zurück

1979 wird die Braunkohlenplanung verbindliches Ziel der Regional- und Landesplanung. Eine wesentliche Grundlage sind hierbei die energiepolitischen Ziele auf Bundes- und Landesebene. Seitdem prägte der Teilplan 12/1 Tagebau Hambach das Geschehen vor Ort. Die 2018 von der Bundesregierung eingesetzte Kommission Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung legte im Januar 2019 ihre Empfehlungen für den Ausstieg aus der Braunkohlenverstromung vor. Mit der Bund-Länder-Einigung über den Stilllegungspfad der Braunkohlekraftwerke vom Januar 2020 und dem Gesetz zur Reduzierung und zur Beendigung der Kohleverstromung vom Juli 2020 wurde der frühzeitige und geordnete Ausstieg angeordnet. Die daraus abgeleitete Leitentscheidung 2021 mündete im Mai 2021 in dem Beschluss des Braunkohlenausschusses für die Erforderlichkeit einer Planänderung für den Teilplan 12/1. In einem erheblich beschleunigten Verfahren folgte bereits im Oktober 2023 der Aufstellungsbeschluss für den Braunkohlenplan Hambach für das geänderte Tagebauvorhaben aufgrund des Kohleverstromungsbeendigungsgesetzes und im Juni 2024 die Feststellung des Entwurfs, der nun noch durch das MWIKE.NRW genehmigt werden muss.

Beteiligt an der Neuaufstellung war die Neuland Hambach – der Zusammenschluss der sechs an den Tagebau Hambach angrenzenden Anrainerkommunen. Im Verbund erarbeite sie 2019, damals noch als Team Hambach, eine erste Fassung der Raumentwicklungsperspektive für die Tagebaufolgelandschaft Hambach (Team Hambach 2019), die sie als Fachbeitrag im Prozess der Neuaufstellung des Regionalplans bei der Bezirksregierung Köln einreichte. Aufgrund der zunächst unklaren Umsetzung der Empfehlungen der Kohlekommission waren zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Raumentwicklungsperspektive noch keine konkreten Zielaussagen für das südliche Tagebauvorland möglich. Als Konsequenz der Leitentscheidung 2021 konnten in der Aktualisierung der Raumentwicklungsperspektive Hambach (Neuland Hambach 2021) das bis dahin ausgesparte Tagebauvorland sowie weitere Projekte der Kommunen und der Neuland Hambach berücksichtigt und strategisch weiterentwickelt werden. Anfang 2024 wurde der weiterentwickelte Rahmenplan Hambach (Neuland Hambach 2024) veröffentlicht.

Die Tabelle zeigt in chronologischem Ablauf die Historie des Rheinischen Reviers unterteilt in die Themen "Ein- und Ausstieg", "Umsiedlung", "Boden", "Transformation" und "Akteure".
Abbildung 1: Zeitstrahl. Quelle: Zukunftsfähige Transfomation der FH Aachen. 

Mit dem acht Jahre vorgezogenen Kohleausstieg und der angepassten Planung konnte das ursprünglich genehmigte Abbaugebiet um 1.800 Hektar verkleinert und neben Morschenich-Alt und dem Hambacher Forst auch die profanierte Kirche St. Albanus und Leonhardus als beinahe letztes Gebäude in Manheim-Alt erhalten werden. Ebenfalls wurden wesentliche Ziele aus dem Rahmenplan Hambach in die Erläuterungskarten zum zeichnerischen Entwurf des neuen Braunkohlenplans aufgenommen und sollen auch in die RWE-Betriebspläne einfließen.

Durch die Zurückgewinnung der verloren geglaubten Flächen des südlichen Tagebauvorlandes verschiebt sich die Verantwortlichkeit immer weiter von der Energie unter Verantwortung des MWIKE.NRW zur Heimat unter Verantwortung des MHKBD.NRW. Auch übernehmen die Kommunen Merzenich und Kerpen sowie deren Kreise wieder die formelle Planungshoheit. Für die Gemeinde Merzenich bedeutet dies ganz konkret eine baldige Neuaufstellung des Flächennutzungsplanes von 1992 auf Basis der Regional- und Landesplanung, der informellen Entwicklungsplanung des Rahmenplan Hambach sowie des sich derzeit in Bearbeitung befindenden Dynamischen Masterplanes Bürgewald.

Die Instrumente der Transformation

Im August 2021 stellte die Gemeinde Merzenich in Kooperation mit der FH Aachen beim Auftakt des Dialogverfahrens mit der Starke Projekte ein erstes Transformationskonzept für die Entwicklung der Ortslage Morschenich-Alt vor (FH Aachen.ZT 2021), welches die bisherigen Planungen und Projekte der Gemeinde und ein Bündel an Instrumenten und Maßnahmen aufzeigt. Dazu gehören unter anderem das Einsetzen einer Zukunftsplattform als zentrale Infrastruktur der Teilhabe und Aushandlung, die Formulierung eines Zukunftsbildes als kollektive Erzählung, die Entwicklung einer Bodenpolitischen Agenda für eine gemeinwohlorientierte Liegenschaftspolitik und einer Transformationsfibel mit Spielregeln der Transformation sowie eines Dynamischen Masterplanes als strategisch-räumliches, jedoch elastisches Planungsinstrument. Ebenfalls sei eine Teilhabe- und Umsetzungsstruktur als Teil eines lernenden Prozesses zu etablieren.

Eine Bodenpolitische Agenda gegen Bodenspekulation

Boden ist eine begrenzte und daher wertvolle Ressource. Insbesondere in den letzten Jahren sind die Flächenkonkurrenzen und damit auch die Nachfrage nach dem wertvollen Gut stark gewachsen – auch mit Blick auf eine mögliche Gewinnmaximierung durch Spekulation. Die Bodenpreise sind entsprechend stark gestiegen und mit ihnen der Druck auf Städte und Kommunen. Weniger zahlungskräftige und sozial orientierte Nutzungen können sich auf dem Markt oftmals nicht mehr durchsetzen. Die Bodenfrage entwickelt sich daher zu einem Schlüsselfaktor nachhaltiger und sozial gerechter Stadtentwicklung und steht weit oben auf der politischen Tagesordnung. (FH Aachen.ZT 2022: 11) Aus diesem Grund ist die Frage nach der zukünftigen Eigentümer:innenschaft der Ortslage nach dem offiziellen Ende der Umsiedlung wie auch der Umgang mit den Rückkaufwünschen der Umsiedler:innen zentral.

Im Dezember 2023 wurde ein Letter of Intent zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen, der Gemeinde Merzenich und der RWE Power AG zur Übertragung von Morschenich-Alt/ Bürgewald von RWE Power auf die Gemeinde Merzenich in Umsetzung der politischen Verständigung zum Kohleausstieg 2030 vom 04.10.2022 unterzeichnet. Diesem vorausgegangen war ein Ratsbeschluss der Gemeinde Merzenich im November 2023 zum Erwerb der Liegenschaften. Beide Meilensteine sind über Jahre vorbereitet worden.

1978 begann der Aufschluss des Tagebau Hambach. Stichtag für die Umsiedlung von Morschenich war der Erlass der Landesplanungsbehörde (Staatskanzlei NRW) zur Genehmigung des Braunkohlenplanes Umsiedlung Morschenich vom 14. Mai 2013. Zur Abwicklung der Umsiedlung und geplanten Inanspruchnahme durch die RWE Power wurde ein aufwendiges Entschädigungsverfahren gestartet. Die Entschädigungserklärung der RWE Power AG von 2004 und die ergänzende Revierweite Regelung zu Umsiedlungen im Rheinischen Revier zwischen der Landesregierung NRW und der RWE Power von 2010 formulierten die Entschädigungspraxis, ergänzt durch die 2012 zwischen der Gemeinde Merzenich und der RWE Power festgeschrieben ortsspezifischen Regelungen der Morschenich-Erklärung zur Umsiedlung des Ortes Morschenich.

Mit der Leitentscheidung im März 2021 wurde eine neue Ära für die Ortslage – nun Morschenich-Alt – eingeleitet. Neben dem „Entscheidungssatz 6: Neue Abbaugrenzen, Erhalt von Wald und Morschenich“ (MWIDE.NRW 2021: 20) wird im Entscheidungssatz 13 formuliert: „Die Umsiedlung der Merzenicher Ortschaft Morschenich […] ist bergbaulich nicht mehr erforderlich. Bis zum Jahr 2024 sollen aber die Bewohnerinnen und Bewohner, die noch in Alt-Morschenich leben, mit ihrem Umsiedlerstatus an der gemeinsamen Umsiedlung nach Neu-Morschenich teilnehmen können.“ (Ebd.: 33)

Im Oktober 2022 folgte dann die Politische Verständigung zwischen Bund, Land und RWE Power AG, dass der „nicht mehr bergbaulich in Anspruch genommene […] Ort Morschenich dem Land NRW, der Kommune oder von diesen beauftragten Dritten zur Entwicklung und Revitalisierung zu angemessenen Konditionen zur Verfügung“ (BMWK et al.: 4)  gestellt werden soll. Direkt im Anschluss startete ein mehrmonatiger Interessenklärungsprozess zwischen Perspektive.Struktur.Wandel, Starke Projekte, Gemeinde Merzenich und Neuland Hambach mit einer Zielbildklärung für den Ort der Zukunft zur Entwicklung eines Liegenschaftsmodells.

Weiter untermauert wurden die Rahmenbedingungen für ein zukünftiges Liegenschaftsmodell durch die Leitentscheidung 2023. Im Entscheidungssatz 6 wird ausgeführt: „Früheren Eigentümern/ -innen mit Umsiedlerstatus und deren Kindern soll eine zeitlich befristete Vorkaufsoption eingeräumt werden. […] Die kommunalen Entwicklungskonzepte bilden die Voraussetzung für die oben genannte Vorkaufsoption […].“ (MWIKE.NRW 2023: 28) Wesentlich ist auch die hier verankerte Aussage, dass die Kommunen ggf. auch Alternativen wie beispielsweise die Vergabe von Erbbaurechten prüfen können.

Der an den Ratsbeschluss zum Erwerb der Liegenschaften 2023 anschließende Letter of Intent formuliert in den Zielen und Vereinbarungen unter anderem den Ausschluss einer Maximierung des Bodenertrags zur Verhinderung von Bodenspekulation, gesonderte Verhandlungen zum Ausgleich entwicklungsbedingter Wertsteigerungen sowie die besondere Unterstützung der RWE Power, indem sie ihre angrenzenden Arrondierungsflächen außerhalb des Ortsbereiches im Rahmen des Kaufvertrages als besondere Unterstützung der Entwicklungsziele der Gemeinde mit überträgt und für eine gemeinsame städtebauliche und freiraumplanerische Entwicklung zur Verfügung stellt. Ebenfalls sollen die unterschiedlichen Belange bei der gemeinsamen Entwicklung auf weiteren Flächen außerhalb der Ortsbereichsabgrenzung oder der beschriebenen Bereiche abgestimmt werden (MHKBD.NRW 2022).

Der Start des Interessenbekundungsverfahrens erfolgte im Februar 2024. Im Informationsblatt zur Ausübung einer zeitlich befristeten Vorkaufsoption für Umsiedlerinnen und Umsiedler des MHKBD.NRW wird, Bezug nehmend auf die Leitentscheidung 2023, nochmals die Hoheit der Entwicklungsplanung der Kommune über die Vorkaufsoption bestärkt: „Die Vorkaufsoption besteht nicht, wenn die Entwicklungsplanung der Kommune a) eine andere als eine Wohnnutzung für das Gebäude vorsieht oder b) eine Wohn- oder sonstige Nutzung in einer anderen als der vorgefundenen Gebäudestruktur vorsieht oder c) das Gebäude der Entwicklungsplanung für den Ort im Wege steht.“ (MHKBD.NRW 2024: 6) Zur Verhinderung von Bodenspekulation sollen zudem das Vorkaufsrecht für die Kommune binnen zehn Jahren sowie die Sanierungsverpflichtung des baulichen Bestandes grundbuchlich verankert werden.

In der Zusammenschau der Formulierungen ergibt sich eine interessante Gemengelage. Die gesamte Ortslage verbleibt nach dem Rückkauf in kommunaler Hand. Ergänzende Flächen in der unmittelbaren Umgebung der Ortslage, die sich teilweise weiterhin im Eigentum von RWE Power befinden, sollen im Sinne der kommunalen Entwicklungsplanung verhandelt werden. Dies ermöglicht beispielsweise eine Erweiterung der Siedlungsfläche nach Norden Richtung Tagebau Hambach, der über Jahrzehnte hinaus bis zum natürlichen Grundwasserstand geflutet wird, die Entwicklung der an dem zukünftigen See angrenzenden Flächen im Sinne der Kommune, oder aber die Nutzung des den Ort umgebenden Landschaftsraumes für innovative und ökologische Landschafts-, Landwirtschafts- und Freiraumkonzepte sowie blau-grüne Infrastrukturen. Grundstücke – auch jene möglicher Rückkehrer:innen – sollen ausschließlich in Erbbaurechten vergeben werden. Dies bedeutet die vertraglich vereinbarte Nutzung des Grundstückes nach bestimmten Regeln, im Rahmen eines definierten Zeitrahmens sowie durch Begleichung eines Erbbauzinses an die Grundstückseigentümerin. Die sich darauf befindenden Bausubstanz wiederum ist in privatem Eigentum der Erbbaurechtnehmer:innen. Durch diese Setzungen und die Möglichkeit der Neudefinition der Baufelder aufgrund der alleinigen Eigentumsstruktur sichert sich die Kommune einen maximalen Handlungsspielraum bei der zukünftigen Entwicklungsplanung und kann bei Bedarf nach Ende der Vertragslaufzeit wieder auf die Baufelder zugreifen. Bodenspekulation wird verhindert, da ein Weiterverkauf der Grundstücke mit Gewinnabsicht verhindert wird. Die Bodenwertsteigerungen wiederum verbleiben bei der Gemeinde. Und die Erträge durch die Erbbauzinsen können anteilig in die Entwicklung der Ortslage im Rahmen des Dynamischen Masterplanes investiert werden. Über Konzept- oder Direktvergaben können hohe Qualitäten gesichert werden. Insbesondere aber können innovative Infrastrukturmaßnahmen und integrierte Transformationskonzepte umgesetzt und erprobt werden, die in anderen Kontexten aufgrund der kleinteiligen Eigentumsstrukturen schwierig sind.

Trotz der vielen politischen Entscheidungen auf anderen Ebenen, welche die kommunale Planungshoheit übertrumpfen, sieht man in den Ausführungen der Regelungen die deutliche Einfärbung durch die Gemeinde Merzenich. Insbesondere zeigt die Chronologie, dass sich nicht nur die langwierigen Verhandlungen mit der RWE Power, sondern auch die mehrjährige Beschäftigung mit Fragen einer gemeinwohlorientierten Liegenschaftspolitik ausgezahlt haben. Das Symposium Bodenpolitik und Gemeinwohl im Rheinischen Revier. Beispiel Morschenich-Alt (siehe Abbildung 2; FH Aachen.ZT 2022), welches im November 2022 an der FH Aachen stattfand und verschiedene Liegenschaftsmodelle gegeneinander diskutierte, hat den richtigen Moment im Prozess genutzt, um Alternativen zu dem nach wie vor für die Garzweiler-Dörfer diskutierten individuellen Verkauf der Liegenschaften aufzuzeigen. Die Gemeinde wiederum hat die Pfeiler Richtung Zukunftsfähigkeit eingeschlagen.

Zu sehen sind acht Portraits von präsentierenden Personen.
Abbildung 2: Symposium Bodenpolitik und Gemeinwohl im Rheinischen Revier. Beispiel Morschenich-Alt im November 2022 an der FH Aachen. Fotos: Angela Graumann. 

Der Dynamische Masterplan als lernender Prozess

Durch die Nichtinanspruchnahme weiter Teile des südlichen Tagebauvorlandes und der damit verbundenen Änderung des Braunkohlenplans erhält der Flächennutzungsplan von 1992 wieder seine Gültigkeit. Die veränderten Anforderungen an eine zukunftsfähige Transformationsplanung und die in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ablaufenden und auf die Entwicklung Einfluss nehmenden Prozesse erfordern jedoch eine Neuinterpretation der gängigen Planungsinstrumentarien.

Anstelle eines gängigen Masterplanes, welcher die Struktur für eine „zu erreichende Zukunft“ formuliert, soll der 2024 gestartete Dynamische Masterplan-Prozess eine stufenweise zu realisierende städtebauliche Anleitung „durch die Realisierung von Projekten auf sogenannten Zukunftsfeldern“ (Starke Projekte 2023: 17–20) formulieren. „Als Zukunftsfelder werden im Rahmen der Revitalisierung Bürgewalds rasch bebaubare Baufelder entlang der vorhandenen Dorfstraßen verstanden, auf welchen Pilotprojekte für die Zukunftsthemen umgesetzt werden.“ Die städtebauliche Konstante soll über ein stabiles Rückgrat der „vorhandenen Strukturelemente des Dorfes […] (insbesondere der öffentliche Raum)“ in einem auf dem Bestand aufbauenden Strukturplan festgesetzt werden. Ergänzend zu der räumlichen Planung soll eine „städtebauliche Anleitung […] als praktische Handreichung“ erstellt werden und Aussagen zum Prozess und zum Umgang mit „Flexibilität und nacheinander Scharfstellung“ treffen. Für die möglichst zeitnahe Umsetzung soll ein „Katalog zur Regel des Einfügens nach § 34 BauGB“ entwickelt werden. Zur Visualisierung soll eine prozessuale „städtebauliche Vision“ „einen von vielen möglichen Entwicklungskorridoren aufzeigen“. Im Zuge der Ausarbeitung soll außerdem „eine ‚Projekt-Governance-Struktur‘, welche die verschiedeneren Belange und Akteure des Vorhabens berücksichtigt, etabliert und begleitet“ sowie ein „breit angelegter Beteiligungs- und Aktivierungsprozess“ konzipiert und durchgeführt werden (Starke Projekte 2023: 17–20).

Dem im Mai begonnenen Dynamischen Masterplan vorausgegangenen waren zwei Zukunftswerkstätten, in denen von drei Teams Beiträge zu den infrastrukturellen Themen Energie, Mobilität und Verkehr sowie Wasser(-wirtschaft), letzteres unter Beteiligung des ISCE | Institute of Smart City Engineering der FH Aachen, diskutiert und anschließend zu einem fachplanerischen Zukunftsbild zusammengeführt wurden (siehe Abbildung 4). Weiterführende Konzepte sind im Masterplan auszuarbeiten.

Die Leistungsbeschreibungen sowohl der Zukunftsbeiträge wie auch des Dynamischen Masterplans sind das Ergebnis mehrerer vorausgegangener Meilensteine und Konzepte: Im November 2021 veröffentliche das LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland (LVR-ADR) seine denkmalpflegerische Analyse zur Dorferneuerung von Morschenich Zurück in die Zukunft (LVR-ADR 2021). Die Analyse versteht sich als Grundlage für die Mitwirkung in einem längerfristigen Planungsprozess, in dem die Denkmalpflege als ein Akteur unter anderen an der Wiederbelebung des Ortes beteiligt sein soll. Themen wie Pflege und Reparatur, aber auch Transformation und Weiterbauen werden aus dem Kontext heraus weiterentwickelt und formulieren einen historisch fundierten Argumentationsstrang für den weitestgehenden Erhalt der Bausubstanz und die zukünftige mehrfache Innenentwicklung. Im Februar 2022 folgte der Ratsbeschluss der Gemeinde Merzenich Ausbau Strategie Bauen im Bestand Morschenich-Alt: Einrichtung eines Reallabors Ressourcenwende Bau. Mit dem Arbeitsbeginn der beiden Strukturwandelmanager:innen im Januar 2022 wurden zudem Stellen geschaffen, die sich ausschließlich mit den kommunalen Aufgaben in Bezug auf die anstehenden Transformationsprozesse beschäftigten. Bereits im Februar wurde das fortschreibende Strategiepapier Leitideen und Visionen für den „Ort der Zukunft“ (Gemeinde Merzenich 2022) veröffentlicht. Darauf aufbauend fand ein im November 2022 von der Starke Projekte im Auftrag der Gemeinde organisierter Workshop statt, um die Rahmenbedingungen, Anforderungen und Leitplanken für eine nachfolgende Masterplanung zu konkretisieren. Und auch die kontinuierliche Begleitung und transformative Forschung der FH Aachen – auch zum Instrumentarium Dynamischer Masterplan – hat sich in der inhaltlichen Fortschreibung der ersten Ideen niedergeschlagen.

Zu sehen ist eine Gruppe von Menschen, die miteinander diskutieren und Notizen auf einem Luftbild vermerken.
Abbildung 3: Workshop Ressource Boden trifft Zukunftsbild. Nachhaltige Infrastrukturen und Multicodierung von Siedlungsflächen in Kooperation mit dem ISCE|Institute of Smart City Engineering der FH Aachen und der Gemeinde Merzenich im Rahmen der tu! Hambach 2023. Foto: Angela Graumann.

Neuinterpretation des Kirchenensembles St. Lambertus als erstes Projekt

Als Katalysator der Transformation soll, gleichzeitig wenn auch synergetisch zur Entwicklung des Dynamischen Masterplanes, der seit 1985 unter Denkmalschutz stehende (LVR-ADR 2023) und unter ungeklärten Umständen im April 2023 abgebrannte profanierte Kirchenbau St. Lambertus samt den damit assoziierten Gebäuden und Freiflächen zu einem Ort der Begegnung, Bildung und Kultur entwickelt werden. Die Auslobung eines einphasigen, nichtoffenen architektonisch-freiraumplanerischen Realisierungswettbewerbes Anfang 2025 soll konzeptionelle Ideen und konkrete Realisierungsvorschläge für die Umgestaltung liefern. Für die Konkretisierung der Wettbewerbsinhalte fanden im Sommer 2024 zwei Zukunftswerkstätten statt, deren Ergebnisse neben einzuholenden Gutachten in den weiteren Prozess eigebunden werden. Die Verfahrensbegleitung übernimmt NRW.URBAN, die seit Juni 2024 Treuhänderin und verlängerter Arm der Gemeinde ist.

Programmatisch soll an dem historisch bedeutenden Ort ein öffentlicher Ort der Gemeinschaft und eine zentrale Adresse entstehen. Das Programm sieht vor, eine offene Halle und robuste Plattformarchitektur für ganz unterschiedliche Nutzungen und Formate, kleinere multifunktionale Räume, ein Haus des Machens als Ort der Information und der Zusammenkunft für die zukünftigen Bewohnenden und Besuchenden, für Forschende und Interessierte sowie Flächen für das Strukturwandelmanagement und eine noch zu etablierende Verantwortungsgemeinschaft zu implementieren. Der ehemalige Friedhof wiederum soll als multifunktionaler Freiraum und Dorfgarten umgestaltet werden.

Im Blick zurück und in der Zusammenschau der Rahmenbedingungen zeigt sich, dass die 2021 im Transformationskonzept formulierten Ansätze inzwischen in formelle Planungsprozesse überführt wurden.

Die von unterschiedlichen Akteuren getragenen Instrumente und Prozesse sind bislang mit hohem Engagement verfolgt worden. Der nächste Meilenstein: die Übersetzung der gegenüber der bisher gängigen Praxis innovativen Ideen in die alltägliche Handlungs- und Umsetzungspraxis.

Vom Enfant Terrible zu einem Zugpferd im Revier

Im Fahrwasser der Proteste um den Hambacher Forst hat sich die Gemeinde auf den Weg gemacht, eine Zukunft für das südliche Tagebauvorland zu entwickeln, um damit nicht nur die Leitentscheidung 2021 mit der Festschreibung der Nichtinanspruchnahme mit vorzubereiten, sondern auch um der Landespolitik und der RWE Power ein klares Signal zu kommunizieren, ihrer Pflicht zum Erhalt und zur Wiederbesiedlung der Ortslage Morschenich-Alt nachzukommen.

In der Resolution des Gemeindesrates der Gemeinde Merzenich zum Strukturwandel im Rheinischen Revier vom Mai 2020 fordert die Gemeinde mit Blick auf die wichtigen Zukunftsfragen, die „abseits politischer Auseinandersetzungen in Verantwortung für nachfolgende Generationen parteiübergreifend diskutiert werden sollen“ (Gemeinde Merzenich 2020: 3–5) und auf die zu diesem Zeitpunkt stattfindenden „umfangreiche[n] landesbedeutsame Umplanungen inklusive einer Anpassung der Leitentscheidung des Landes NRW, einer Änderung des Braunkohlplanes, sowie des Betriebsplanverfahrens“ die RWE Power zum sofortigen Beginn der „Umsetzung der Tagebau-Umplanung“ auf. Ortsbildprägende Gebäude sollen erhalten und die Symbolwirkung des Hambacher Forstes zur Formulierung eines positiven Zukunftnarrativs genutzt werden. Bergbaulich nicht mehr beanspruchte Flächen sollen „auch an gemeinwohlorientierte Körperschaften zur Verfügung gestellt werden mit dem Ziel der größtmöglichen Teilhabe vor Ort und regionalen Wertschöpfung“. „Mit Bezug zum Hambacher Forst nimmt die Gemeinde Merzenich gegenüber dem gesamten Rheinischen Revier […] eine Sonderrolle als eine mögliche ‚Zukunftsregion Agrar, Klima und Mobilität‘ ein und möchte sich als Teil der geplanten internationalen Bau- und Technologieausstellung positionieren.“ Alle Forderungen seien in die Überarbeitung der Regionalplanung einzubinden (Gemeinde Merzenich 2020: 3-5).

Der Resolution vorausgegangen war die 2019 veröffentlichte Konzeptmappe Lust auf eine gute Zukunft (Gemeinde Merzenich 2019), in dem die Gemeinde Merzenich für den Ortsteil Morschenich-Alt und dessen Kontext die Nichtinanspruchnahme faktisch vorausgesetzt hat. Realisiert werden soll dieser unter anderem durch die Kooperation mit dem Forschungszentrum Jülich, eingebunden in deren Vorhaben einer Modellregion für nachhaltiges Wirtschaften BioökonomieREVIER. Als Teil eines Forum Nachhaltigkeit wurden bereits erste Biodiversitätsflächen zur Zwischennutzung wie auch der 2022 am westlichen Ortseingang in Betrieb genommene Demonstrator des Innovationslabors Agri Food-Energy-Park (AgriFEe), in dem der flächeneffiziente Einsatz von Agri-/ Horti-Photovoltaik unter den im Rheinischen Revier herrschenden Bedingungen auf derzeit etwa 2 ha Fläche untersucht wird, realisiert. (BioökonomieREVIER o. J.)

Gut zwei Monate vor der Leitentscheidung 2021 hat die Gemeinde Merzenich gemeinsam mit dem MWIKE.NRW, dem LVR-ADR, der ZRR und der Neuland Hambach die Ortsschilder von Morschenich-Alt um den Namenszusatz Ort der Zukunft ergänzt. Und auch die Taktik, ein breites Netzwerk aus lokalen Institutionen zu bilden und diese gezielt für die Wissensgenerierung einzusetzen, zeigt Wirkung und bündelt Kräfte. Seit 2020 setzen sich immer mehr Hochschulen lehrend und forschend mit den Fragen um die Transformation der Ortslage und des umgebenden Landschaftsraumes auseinander. Von Beginn an mit dabei ist der Lehr- und Forschungsschwerpunkt Zukunftsfähige Transformation der FH Aachen, der sich über forschende Entwürfe und transformative Forschung bis heute mit der Ortslage auseinandersetzt (siehe Abbildung 3). Die 2023 erstmals durchgeführte tu! Hambach wirkt ebenfalls als wichtige Vermittlerin und Schnittstelle mit der Zivilgesellschaft. Inzwischen liegen zahlreiche weitere Ideen und Konzepte, Entwürfe und Forschungsergebnisse einer internationalen Lehr- und Planungsgemeinschaft aus unterschiedlichen Disziplinen und Maßstabsebenen vor und bilden einen wertvollen Wissensspeicher für die nächsten Schritte.

Auch nach der Leitentscheidung 2021 gab und gibt es weiterhin zähe Verhandlungen zwischen den großen Playern der Tagebaulandschaft, der Kommune und den seitdem hinzugekommenen Akteuren und neu verteilten Verantwortlichkeiten. Gleichwohl hat sich die RWE Power nach dem Ende der Umsiedlung aus der Ortsentwicklung verabschiedet, was der Gemeinde den direkten Zugriff auf die Grundstücke und Bestandsstrukturen ermöglicht und die Prozesse Richtung Neubesiedlung deutlich vereinfacht und beschleunigt. NRW.URBAN und Neuland Hambach formulieren ein wichtiges Rückgrat an personellen und fachlichen Ressourcen. Die individuellen und sich teilweise widersprechenden Interessen der beiden Ministerien MWIKE.NRW und MHKBD.NRW wiederum erfordern auch zukünftig ein gutes politisches Taktieren – auch mit Blick auf die gemeinsam verantwortete IBTA. Die Gemeinde Merzenich und deren ambitionierter Bürgermeister haben jedoch mit Ihren Handlungsschritten gezeigt, dass sich eine Strategie des Tatsachen schaffen statt auf politische Entscheide warten durchaus auszahlt. Nicht nur überschlagen sich nahezu die Ereignisse im Juni 2024 – der neue Braunkohlenplan liegt vor, das Geld ist da, die ersten Planungen sind beauftragt, der Ort der Zukunft Bürgewald als ein Pilot in die IBTA Rheinisches Zukunftsrevier 2025-2035 benannt – auch wird der Entwicklungsprozess hin zu einem Ort der Zukunft genau beobachtet, zeigt er doch mögliche erste Leitplanken auch für die fünf anderen erhaltenen Dörfer am Tagebau Garzweiler auf.

Die Grafik zeigt eine Axonometrie und eine Visualisierung von Morschenich.
Abbildung 4: Prototypische Entwicklung MOReSCHENICH Oberstraße 2.0 im Rahmen des Entwurfsstudios Testsite Stories. Prototypen für eine andere Zukunft. Zweiter Akt am Lehr- und Forschungsschwerpunkt Zukunftsfähige Transformation der FH Aachen in Kooperation mit dem LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland (WS 2021.22). Quelle: Diana Selo und Hanno Rönnfeld, FH Aachen. 

Morschenich-Alt als Ort der Zukunft

Die oben dargestellten Erzählstränge zeigen die Gleichzeitigkeit zahlreicher parallel nach Eigenlogik laufender, wenn auch eng miteinander verwobener Prozesse und Politiken und die Herausforderung des Handelns in deren Kontext auf. Im Gegensatz zu anderen  Zukunftsorten (Netzwerk Zukunftsorte o. J.), die derzeit im Planungsdiskurs begrifflich verhandelt und entwickelt werden, weist Morschenich-Alt/ Bürgewald zwar die Struktur eines Dorfes auf und bedient auch die damit assoziierten Vorstellungen eines Dorflebens im Grünen – gleichwohl ist der Druck um günstigen Wohnraum und die Flächen aus den umgebenden Großstädten groß. Und auch die boomende Wirtschaftsregion zwischen Rheinschiene und Euregio (inklusive der industriellen Landwirtschaft) formuliert im Vergleich mit den anderen Revieren ganz andere Fragestellungen an eine suffizient auszugestaltende Tagebaufolgelandschaft.

Gerade aber dieses Spannungsfeld verlangt die Notwendigkeit einer Gleichzeitigkeit von Strategie und Taktik. Strategie im Sinne der Definition von Leitplanken und zu erreichenden Zielen und Ambitionen und deren politische Verankerung. Und Taktik bei der Implementierung einzelner Meilensteine, bei der Bildung von potenten Akteurskonstellationen mit unterschiedlichen Kompetenzen oder bei der Akzeptanz von Rückschlägen zugunsten eines übergeordneten Ganzen. Beides erfordert die Begabung, Menschen auf ganz unterschiedlichen Ebenen mitzunehmen, in die laufenden Prozesse einzubinden und als Mitstreiter:innen zu gewinnen – durch Transparenz, Teilhabe, Kompromissbereitschaft oder auch Radikalität. Es bedeutet, die sich bietenden Chancen beispielsweise bei zentralen politischen Entscheiden zu erkennen und für sich zu nutzen, die wirklich zentralen Forderungen (Gemeinwohlorientierung, Verhinderung von Bodenspekulation, Umgang mit dem Bestand) festzuzurren, Haltung zu zeigen und vorzupreschen (und an anderer Stelle gut zuzuhören oder anderen das Tempo zu überlassen). Beides ist nur im Verbund möglich, in einer Verantwortungsgemeinschaft, die von Vielen getragen wird.

Die kommenden Jahre und die Ergebnisse aus den angestoßenen Prozessen und Projekten rund um Bürgewald werden zeigen, wie die einmalige Aufgabe der Wiederbelebung einer Ortslage im Besitz der Kommune gemeinsam mit den ersten Pioniernutzungen ihre Wirkung entfalten. Insbesondere aber wird sich zeigen, inwiefern sich die Ambitionen einer gemeinwohlorientierten und klimaresilienten Flächenentwicklung in Zeiten stark umkämpfter Raumressourcen umsetzen lässt und gesellschaftlich getragen wird.

Besonders relevant erscheint die kritische Auseinandersetzung mit dem Landschaftsraum – der mehr als die derzeit eigentumsrechtlich gesicherte Siedlungsfläche von Bürgewald umfasst – und dessen Transformation zu einer Zukunftslandschaft. Themen nachhaltiger Wasser-, Energie- und Mobilitätsinfrastrukturen, aber auch der Multicodierung von Flächen für akteursgetragene sowie ökologische und sozialunternehmerische Innovationen und Entwicklungen spielen hier eine zentrale Rolle – auch für die Zukunft von Bürgewald. Und nicht zuletzt werden Projekte der IBTA beweisen müssen, dass Zukunftsgestaltung nicht nur über Bauen und Technologie erfolgt, sondern in Zeiten multipler Krisen auch über Nicht-Bauen und den Verzicht auf Technologie. Aufgrund der besonderen Lagegunst, der spezifischen Rahmenbedingungen und der ambitionierten Haltung der Gemeinde Merzenich konnten für Morschenich-Alt/ Bürgewald erste wichtige Pflöcke eingeschlagen werden – allen voran die Bodenpolitische Agenda, die Entwicklung des Dynamischen Masterplans als prozessual angedachtes Instrument wie auch das formulierte Ziel der Vergabe von Zukunftsfeldern über das beste Konzept. Die Arbeit bisher – wenn auch in Teilen zäh und nicht für alle befriedigend transparent – hat sich gelohnt. Und die ineinandergreifenden Prozessebenen und Erprobungsinstrumente versprechen eine Planungs- und Prozesskultur des Umbauens, die es weiterhin mitzugestalten lohnt!

About the author(s)

Isabel Maria Finkenberger, Stadtplanerin BDA, ist Professorin für Stadtplanung, Transformation und Prozessgestaltung an der FH Aachen und Inhaberin von STUDIO if+. Über angewandte Lehre und transformative Forschung begleitet sie seit 2020 Transformationsprozesse im Rheinischen Revier.

Isabel Maria Finkenberger, urban planner BDA, is professor for urban planning, transformation, and process design at FH Aachen and owner of STUDIO if+. Through applied teaching and transformative research, she has been accompanying transformation processes in the Rhenish mining area since 2020.

References

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