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- Das Sanierungsgebiet Nördliche Innenstadt
- Vorbereitende Untersuchungen und Ziele des Sanierungsgebietes
- Stadtentwicklung in Göttingen
- Beteiligungsmöglichkeiten in der Stadt
- Städtische politische Beteiligung in der Theorie
- Beteiligung in der Praxis
- Der Verkauf der alten JVA
- Alibi-Beteiligung in der nördlichen Innenstadt
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- References
Published 2.05.2024
Der Verkauf der Stadt Göttingen
Ungenutzte Beteiligungsmöglichkeiten in der nördlichen Innenstadt
The Sale of the City of Göttingen
Unused Participation Opportunities in the Northern City Center
Keywords: Beteiligung; Stadtentwicklung; Privatisierung; Stadtpolitik; Participation; urban development; privatization; urban policy
Abstract:
Die Beteiligung von Bürger:innen ist in der Stadtentwicklung ein hohes Gut. Die Berücksichtigung von Interessen kann in einem Sanierungsgebiet für mehr Verständnis und Akzeptanz sorgen. Konsens ist dabei, dass eine tatsächliche Beteiligung mehr als nur einen bloßen Informationsaustausch bedeutet. In dem Sanierungsgebiet in der nördlichen Innenstadt der Universitätsstadt Göttingen gibt es formelle Beteiligungsformate. In der Praxis werden diese jedoch nicht berücksichtigt und eine offene und faire Diskussion wird durch den Rat und die Verwaltung der Stadt verhindert. Bezugnehmend auf Theorien der partizipativen Stadtgestaltung und dem Recht auf Stadt untersucht dieser Beitrag am Beispiel der alten Justizvollzugsanstalt (JVA) inwiefern die Stadt Göttingen eine Beteiligung der Bürger:innen ermöglicht oder diese behindert, um eigene Interessen einfacher durchsetzen zu können. Grundlage dafür sind Protokolle und Dokumente der Stadt Göttingen zu den Maßnahmen im Sanierungsgebiet, die für die Beantwortung der Fragestellung analysiert werden.
The participation of citizens is a valuable asset in urban development. Taking interests into account can ensure greater understanding and acceptance in a redevelopment area. The consensus is that actual participation means more than a mere exchange of information. In the redevelopment area in the northern inner city of the University City of Göttingen formal participation formats exist. In practice, however, these are not taken into account and an open and fair discussion is prevented by the city council and administration. Referring to theories of participatory urban design and the right to the city, this article examines the extent to which the city of Göttingen enables or hinders citizen participation in order to more easily assert its own interests. Protocols and documents by the city of Göttingen concerning the measures in the redevelopment area are analyzed to answer the question.
Das Sanierungsgebiet Nördliche Innenstadt
Die nördliche Innenstadt der Universitätsstadt Göttingen ist seit geraumer Zeit Gegenstand öffentlicher Diskussionen. Bereits im Jahre 2010 wurde das Gebiet unter dem damaligen Namen Historische Altstadt-Nord als Sanierungsgebiet in das von Bund und Ländern geförderte Programm Städtebaulicher Denkmalschutz aufgenommen (Stadt Göttingen 2019: 5). Die Motivation dafür begründet sich damals wie heute durch die wahrgenommenen sozialen Problemlagen sowie städtebaulichen Mängel in dem Viertel. Vor allem der Leerstand stadtbildprägender Gebäude wie die alte Justizvollzugsanstalt (JVA) in der Oberen-Masch-Straße wird problematisiert. Nach vorbereitenden Untersuchungen (VU) gemäß §141 BauGB ab 2017 wurde das Gebiet Nördliche Innenstadt ab 2020 auch in das Programm Sozialer Zusammenhalt (bis 2020 Soziale Stadt) der Städtebauförderung des Bundes aufgenommen. Das Gebiet rund um das Masch-Viertel, bestehend aus der Obere-Masch- sowie Untere-Masch-Straße, welches direkt an der alten JVA liegt, wurde erst nachträglich im Jahr 2018 zu dem Sanierungsgebiet ergänzt, um eine Aufnahme in das Förderprogramm zu gewährleisten (Stadt Göttingen 2018).
Das Gebiet der nördlichen Innenstadt umfasst insgesamt 141.000 Quadratmeter Fläche und reicht von den Stadteingängen im Weender Tor bis hin zu den Begrenzungen durch den ehemaligen Stadtwall im Norden und Westen. Inkludiert in dieses Gebiet ist auch das Iduna-Zentrum, welches außerhalb des eigentlichen Fördergebietes liegt, jedoch aufgrund massiver baulicher und mietrechtlicher Mängel bundesweite Bekanntheit erlangte und im Zuge der Förderung mit Bundesmitteln ebenfalls aufgewertet werden soll. Das Sanierungsgebiet ist eine im Stadtbild prominente Gegend und stellt den schnellsten Weg sowohl vom Göttinger Bahnhof als auch vom Campus der Georg-August-Universität in die Innenstadt dar (Stadt Göttingen 2019: 37). Ziel der Sanierung ist dementsprechend die städtebauliche Aufwertung und Instandsetzung des Gebietes aufgrund der besonderen Bedeutung für den Publikums- und Durchgangsverkehr (Stadt Göttingen 2019: 38; 52).
Vorbereitende Untersuchungen und Ziele des Sanierungsgebietes
Die Ergebnisse der vorbereitenden Untersuchungen für das Sanierungsgebiet wurden von der Stadt Göttingen im Jahr 2019 veröffentlicht. Die vorbereitende Untersuchung wurde von der complan Kommunalberatung durchgeführt. Darin werden für einzelne Bereiche und Objekte in dem Sanierungsbereich geplante Maßnahmen konkretisiert und erläutert. Dazu zählen Maßnahmen zur Vorbereitung der Umsetzung von geplanten Ordnungs- und Baumaßnahmen sowie von nicht-investiven Maßnahmen. Für alle Maßnahmen plant die Stadt Göttingen 26 Millionen Euro an Ausgaben ein, 5.6 Millionen davon entfallen auf die Sanierung oder den Umbau der alten JVA (Stadt Göttingen 2019: 7). Im Leitbild der Entwicklung der nördlichen Innenstadt spricht die VU davon, dass „dauerhafte Beteiligungsstrukturen aufgebaut und kontinuierlich dem Bedarf angepasst“ werden sollen (Stadt Göttingen 2019: 95). Ziel ist demnach auch eine Verstetigung der Beteiligungsmöglichkeiten von Bürger:innen.
Das Gebiet rund um die alte JVA und die mangelhafte Gestaltung des direkt angrenzenden Waageplatzes (siehe Abbildung 1) wird in der VU besonders häufig kritisiert. Auch der Waageplatz ist Bestandteil öffentlicher Diskussionen um verschiedene Nutzungsinteressen und soll durch das Sanierungsgebiet aufgewertet werden. Der jahrelange Leerstand führt laut der Stadt Göttingen zu weiteren Effekten einer wahrgenommenen Verwahrlosung des Lebensumfeldes (Stadt Göttingen 2019: 52; 90). Für den Zeitraum 2019 bis 2020 war im Maßnahmenpaket eine Machbarkeits- und Wirtschaftlichkeitsstudie zur alten JVA vorgesehen. Der Kostenpunkt einer solchen Studie wurde auf 60.000 Euro beziffert. Mit dieser sollte überprüft werden, welche Nutzungsmöglichkeit in der Immobilie noch bestehen und welche Instandsetzungsmaßnahmen dafür gegebenenfalls notwendig werden. Die zu dem Zeitpunkt bereits verworfene Idee, in dem Gebäude ein Hostel anzusiedeln, führte von Seiten der Bewohner:innen des Viertels zu Kritik. Diese befürchteten eine Anonymisierung sowie eine Schwächung der Quartiersidentität durch die Tourist:innen (Stadt Göttingen 2019: 103). Als diese Idee erstmals öffentlich diskutiert wurde gründete sich aus Reihen aktiver Bürger:innen das Forum Waageplatz, welches vor allem die Nutzung des Gebäudes als Hostel verhindern wollte (Stadt Göttingen 2019: 82). Die Zukunft der alten JVA wird in der VU als „Raum für Begegnung, Beratung und Miteinander“ beschrieben (Stadt Göttingen 2019: 99). Die bestehende lebendige Nachbarschaft soll ihren Platz auch nach dem Umbau in dem alten Gefängnis erhalten. Auch von Seiten der Bevölkerung wurden der Wunsch nach nachbarschaftlichen Einrichtungen in dem Gebäude in den Beteiligungsformaten geäußert (Stadt Göttingen 2019: 86). Den Umbau oder die Sanierung durch die Stadt Göttingen selber oder Dritte hat die Stadt mit dem Zeitraum 2021–2024 angegeben.
Im Jahr 2021 wurde eine Aktualisierung der vorbereitenden Untersuchung veröffentlicht. Ursächlich dafür ist eine Änderung in der Städtebauförderung. Durch diese ist nun eine Begutachtung der Maßnahmen nach Kriterien des Klimaschutzes für alle Förderkomponenten verpflichtend (Stadt Göttingen 2021: 4). Sowohl die Machtbarkeitsstudie als auch die Sanierung beziehungsweise der Umbau der alten JVA bleiben in ihren Funktionen auch in der Aktualisierung erhalten (Stadt Göttingen 2021: 15; 24). Für die Durchführung dieser Maßnahmen ist hinsichtlich der Machbarkeits- und Wirtschaftlichkeit der Zeitraum 2022 angegeben, für die Baumaßnahmen in und an der JVA der Zeitraum 2023–2025.
Stadtentwicklung in Göttingen
In direktem Umfeld des Sanierungsgebietes beeinflussen seit mehreren Jahren ähnliche, meist private, Investitionen das Stadtbild bereits jetzt maßgeblich. Östlich des Bahnhofs eröffneten in den vergangenen Jahren das moderne Hotel Freigeist sowie die universitäre Museumseinrichtung Forum Wissen. Beide Planungsprojekte sehen sich in Göttingen massiver öffentlicher Kritik ausgesetzt, da im Eingangsbereich der Gebäude bestehende Grünflächen zerstört und nicht adäquat ersetzt wurden, obwohl dies in dem Planungsprozess zur Wahrung der Biodiversität aufgenommen wurde (Everding 2023). Auch westlich des Bahnhofs investieren private Unternehmen in die Stadtentwicklung. Ein am Bahnhof gelegenes Gebäude soll ebenso abgerissen und neu gebaut werden wie das sogenannte Grotefend-Areal in direkter Nähe der alten JVA. Auch bei diesem noch zu beginnenden Projekt regt sich Widerstand aus der Göttinger Stadtbevölkerung. Um dort die Pläne eines privaten Investors zu ermöglichen, will der Bauausschuss der Stadt Göttingen eine Änderung des erst zwei Jahre alten Bebauungsplan beschließen, um ein für das Stadtbild unübliches siebengeschossiges Gebäude zu ermöglichen. Um der Kritik der fehlenden Transparenz entgegen zu wirken, soll ab September 2023 eine Beteiligung der Bürger:innen ermöglicht werden. Insgesamt drei gewählte Vertreter:innen dürfen ohne Stimmrecht die Entwicklung als Gäste begleiten.
In Göttingen kommt es gerade sowohl geografisch als auch zeitlich in einem eng begrenzten Korridor zu weitreichenden Veränderungen des Stadtbildes.
Alle angeführten Beispiele für Modernisierungen, Sanierungen und Neubauten befinden sich an oder in der unmittelbaren Nähe der Berliner Straße, eine der Hauptverkehrsstraßen Göttingens und sind fußläufig innerhalb von weniger als 10 Minuten voneinander erreichbar. Die Göttinger Verwaltung und Stadtpolitik erkannte dabei auch aufgrund der öffentlichen Proteste die Notwendigkeit einer Beteiligung der Bürger:innen. In den Sanierungsgebieten Nördliche Innenstadt, Südliche Innenstadt und Westlich Maschmühlenweg werde gezielt Sanierungsbeiräte eingesetzt, die eine Interessensvertretung der Bevölkerung ermöglichen sollen. Auch bei der Umgestaltung innerstädtischer Plätze wie dem Waageplatz (direkt angrenzend an die alte JVA) können Menschen aus der Stadt eigene Vorschläge einbringen, welche die Stadt im weiteren Planungsprozess aufnehmen möchte.
Beteiligungsmöglichkeiten in der Stadt
In dem Sanierungsgebiet Nördliche Innenstadt findet eine Beteiligung der Stadtbevölkerung formell statt. Der dafür zuständige Sanierungsbeirat wurde im Frühjahr 2022 gegründet – vier Jahre nach Beginn der VU und zwei Jahre nach offiziellem Beginn des Sanierungs- und Förderungszeitraums. Nach einer öffentlichen Wahlveranstaltung im September 2022 fand im darauffolgenden Oktober die erste Sitzung des Sanierungsbeirates statt. Seitdem trifft sich der Beirat vierteljährlich. Dieser besteht aus den fünf gewählten Vertreter:innen aus dem Quartier, die für Angelegenheiten der Anwohner:innen und Eigentümer:innen (insgesamt drei) und für Interessen von Gewerbetreibenden und soziokulturellen Einrichtungen verantwortlich sind sowie jeweils einem/einer Vertreter:in der Fraktionen aus dem Göttinger Stadtrat. Die Citymanagementgesellschaft für die Göttinger Innenstadt, die Pro-City GmbH, entsendet ebenso ein stimmberechtigtes Mitglied. Aufgabe des Sanierungsbeirates ist es laut Verfahrensordnung die Belange verschiedener Interessensgruppen in dem Sanierungsgebiet und die Berücksichtigung dieser bei der Durchführung von Sanierungstätigkeiten zu garantieren. Bei dem Beirat handelt es sich jedoch um keinen Entscheidungsausschluss, seine Empfehlungen sollen jedoch durch die Ratspolitik in den verschiedenen Ausschüssen bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden.
Städtische politische Beteiligung in der Theorie
Die Beteiligung von Bürger:innen im Planungsprozess stellt ein wesentliches Element für die spätere Akzeptanz von Sanierungsmaßnahmen in dem betroffenen Gebiet dar. Durch eine partizipative Ausrichtung der Planung von großen Projekten können die Bedürfnisse derzeitiger und zukünftiger Nutzer:innen berücksichtigt werden. Die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger:innen an der Planung muss dabei jedoch ausdrücklich von der Stadt ermöglicht werden, da bei dieser das Macht- und Handelsmonopol über die Ausrichtung von Wettbewerbsverfahren und Bauvorhaben liegt. Aus einer machtkritischen Perspektive kann eine Stadt- oder Quartierserneuerung grundsätzlich als ein Instrument der Machterhaltung verstanden werden (Holm 2006: 27). Zudem ist die Entstehung von Sanierungsgebieten wie der nördlichen Innenstadt in Göttingen als eine Folge politischer Ressourcenentscheidung zu verstehen. Die Sanierungsbedürftigkeit entsteht durch jahrelange Deinvestitionsentscheidungen einer Stadt, die sich stattdessen auf andere Viertel konzentriert und so den Verfall in einem Stadtbereich ermöglicht (Holm 2006: 36). Erst durch den jahrelangen Leerstand der JVA seit 2008 entstand die große Sanierungsbedürftigkeit der Immobilie. Statt der Aufwendung eigener Mittel versuchen die Städte für diese Gebiete durch Investitionsanreize externe Geldgeber:innen zu akquirieren (Holm 2006: 42). Genauso lange wird bereits öffentlich über die weiteren Nutzungsmöglichkeiten des Gebäudes diskutiert. Mit dem Hintergrund der städtischen Verantwortung bei der Entstehung von Sanierungsgebieten und Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung von Machtverhältnissen erscheint eine gleichberechtigte Teilhabe von Bürger:innen sinnvoll. Dass es dabei nicht bei einem bloßen Informieren der Bevölkerung bleiben darf, ist in der kritischen Stadt- und Demokratieforschung Konsens.
Theoretisch lässt sich das Bedürfnis der Beteiligung an Entwicklungsprozessen mit dem Recht auf Stadt begründen. Das Recht auf Zugang zu dieser bedeute vor allem Recht auf die ihr zugrundeliegenden Ressourcen, das urbane Leben und die Teilhabe an den Möglichkeiten des städtischen Lebens (Lefebvre 2016: 166). Henri Lefebvre reagierte mit dem Recht auf Stadt auf die fordistische Stadtplanung, welche die arbeitsprozesstheoretische Aufteilung von Aufgaben auf das Leben der Menschen in Städten übertrug (Gebhardt und Holm 2011: 8; Vogelpohl 2018: 149). Die Theorie des französischen Autors richtet sich gegen eine funktionelle Ausrichtung der Stadtpolitik sowie deren betriebswirtschaftliche Orientierung.
Unter dem Begriff Unternehmerische Stadt kritisiert Andrej Holm drei Grundmerkmale einer ökonomisch ausgerichteten Stadt (Holm 2011: 92). Der Standortwettbewerb beschreibt die zunehmende Konkurrenz der Städte, bei der um Investitionen von Dritten konkurriert wird. Über etwaige Standortvorteile oder leichtere Antragsformalien sollen so private Unternehmen in die Region geholt werden. Auch die Veranstaltung öffentlichkeitswirksamer Großereignisse kann in diese wachsende Konkurrenz eingeordnet werden. Die Verbetriebswirtschaftlichung der Verwaltung durch eine profitorientierte Haushaltsführung stellt ebenso einen Bestandteil der unternehmerischen Stadt dar wie Public-Private-Partnerships bei der Erfüllung von Aufgaben der Stadt (Holm 2011: 92). Bei der Verbetriebswirtschaftlichung handeln städtische Akteur:innen wie die Verwaltung zunehmend nach wirtschaftlichen Maßstäben und versuchen ein Haushaltsplus zu erwirtschaften. Durchgesetzt werden kann das Recht auf Stadt durch ein Recht auf aktive Gestaltung und Mitgestaltung dieser. Es bildet ein abstraktes Prinzip, welches die Teilhabe an Entscheidung, Gestaltung und Verwaltung öffentlicher Plätze und Räume in Form einer urbanen Demokratie gewähren soll (Gebhardt und Holm 2011: 17; Vogelpohl 2018: 149).
Prozesse der Umgestaltung und Stadterneuerung gelten häufig der Aufwertung von Vierteln und Bewohner:innenstrukturen (Holm 2006: 29). Unrealisierte Potenziale sollen durch diese verwirklicht werden. Nicht selten werden auch private Akteur:innen in diese Prozesse mit einbezogen und setzen Vorhaben abseits der Interessen der Wohnbevölkerung durch.
Eine aktive Gestaltungsmöglichkeit seitens der Bewohner:innen des Viertels stellt sicher, dass Infrastrukturprojekte auch nachhaltig den Interessen und Notwendigkeiten des Quartiers entsprechen.
Auf der Ebene eines Viertels oder Stadtteils erscheint eine solche Mitgestaltung besonders hilfreich und sinnvoll. Die Personen aus dem Viertel verfügen über eine ausgeprägte Nähe zu ihrer Lebenswelt und dem Sozialraum. Sie sind Expert:innen in ihrem Wohngebiet und können bei der Priorisierung von Projekten und Ressourcen beraten (Kuder 2019: 33). Der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt sah den Vorteil der Einbeziehung der Bewohner:innen vor allem in der Nachhaltigkeit der Nutzung der neu zu erschaffenen Infrastrukturen (Weiß 2019: 53). Als besonders wichtig wird das offene Agenda-Setting bei den Entscheidungen in den Sanierungsgebieten beschrieben. Den Bürger:innen, ob als begleitende Mitglieder der Sanierungsgremien oder als interessierte Einzelpersonen, müssen Möglichkeiten zur Einbringung eigener Ideen gewährt werden (Kuder 2019: 35). Vorab getroffene Entscheidungen wirken sich negativ auf den Beteiligungsprozess aus.
Beteiligung in der Praxis
Nur die wenigsten Beteiligungsprozesse laufen jedoch nach dem Prinzip einer gleichberechtigten Beteiligung der Bürger:innen ab. Politische Partizipation leidet immer noch unter den inhärenten Machtdifferenzen zwischen Verwaltung und Bewohner:innen. Häufig werden die geschaffene Beiräte lediglich als Informationsplattform und eher selten als Möglichkeit der Koproduktion der Stadt begriffen. Eine grundsätzliche Problematik entsteht zudem dadurch, dass auch bei großen öffentlichen Arealen der Wohnort in unmittelbarer Nähe zu einem Kriterium der potenziellen Teilhabe erhoben wird (Saringer-Bory: 2016: 114). Die Beteiligung von Anwohner:innen ist zwar sinnvoll, jedoch werden Plätze nicht ausschließlich von diesen genutzt. Nutzer:innen aus anderen Stadtteilen, die teilweise nur eine Straße außerhalb des Gebietes wohnen oder fünf Tage die Woche in diesem arbeiten, werden in den Beteiligungsgremien nur selten berücksichtigt. Dabei ist auch ihr Alltag von den Bedingungen vor Ort geprägt. Auch die Fähigkeit und Motivation zu der Teilnahme an einem Beteiligungsprozess ist in der Gesellschaft ungleich verteilt. Für eine Partizipation im öffentlichen Raum werden meist bestimmt zwischenmenschliche Fähigkeiten vorausgesetzt (Kuder 2019: 33). Jüngere Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund sowie sozial schlechter gestellte Personengruppen beteiligen sich seltener an solchen Prozessen. Dadurch kommt es auch zu Wissensdifferenz zwischen einzelnen Personen in einem Viertel. Nicht selten nehmen dieselben Menschen immer wieder an Beteiligungssituationen teil und schaffen dadurch eine Hemmschwelle für andere Interessierte (Holm 2006: 137f). Die Problematiken der partizipativen Rolle der Stadtbevölkerung bei der Organisation ihres Wohnumfeldes liegt jedoch meist weniger in den Prozessen an sich. Stattdessen sind vor allem die Rahmenbedingungen, welche von der Verwaltung und der Politik beeinflusst werden, maßgeblich entscheidend für eine erfolgreiche Bürger:innenbeteiligung.
Der Verkauf der alten JVA
Während die VU und die dort niedergeschriebenen Maßnahmen durchaus als ein positives Signal für die Berücksichtigung der Interessen der Bewohner:innen verstanden werden können, zeichnet sich in der Realität ein anderes Bild ab. Gerade um die alte JVA wird spätestens seit 2022 in der Göttinger Öffentlichkeit intensiv diskutiert und gestritten (siehe Abbildung 2). Die Machbarkeits- und Wirtschaftlichkeitsstudie zu der alten JVA wurde mit Stand Sommer 2023 noch nicht durchgeführt. Diese war dabei jedoch bereits in der ersten VU mit dem Verwirklichungszeitraum 2019–2020 beschlossen (Stadt Göttingen 2019: 102). Auch die aktualisierte VU sah die Studie noch vor (Stadt Göttingen 2021). Die Ratsfraktionen der SPD und CDU, die zusammen mit der FDP ein Haushaltsbündnis bilden und damit über die Mehrheit in den entscheidenden Ausschüssen (Verwaltung, Finanzen) verfügen, bezeichneten einen Antrag der Grünen zur Durchführung der lange geplanten Machbarkeitsstudie als „völligen Quatsch“ (Brakemeier 2023). Ein Beschluss der Studie wurde bereits zuvor im Bauausschuss mehrmals vertagt. In einem Protokoll des Bauausschusses der vorherigen Legislaturperiode vom 6. Dezember 2018 wurde die Machbarkeits- und Wirtschaftlichkeitsstudie noch als eine der Maßnahmen mit hoher Priorität beschrieben (Stadt Göttingen 2018a). Zudem sollen die Maßnahmen „ausdrücklich unter Beteiligung und Einbeziehung der Anwohner und Nutzer [sic] des Quartiers durchgeführt werden“ (Stadt Göttingen 2018a). Die Ablehnung der Studie ist auch dahingehend besonders bemerkenswert, da im Bauausschuss zu diesem Zeitpunkt nicht die Ratsfraktionen der SPD, CDU und FDP die Mehrheit stellten, sondern die Oppositionsparteien rund um die Grünen, die Linke sowie das Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung (BfnS). Ursächlich dafür war ein Deal zwischen der FDP und dem BfnS. Die Liberalen hatten ihren stimmberechtigten Sitz an das Bündnis abgegeben, damit dieses einer Änderung der Sitzplatzvergabe des Rates zustimmen. Hierfür war ein einstimmiges Abstimmungsergebnis notwendig (Brakemeier 2023a). Im Frühjahr 2023 beschloss der Rat auf Antrag der Deutschland-Koalition schließlich die Erweiterung des Bauausschusses von neun auf elf Sitze. Die SPD und CDU erhielten dadurch jeweils einen zusätzlichen Sitz, weswegen nun auch im Bauausschuss das Haushaltsbündnis statt der Opposition über die Stimmmehrheit verfügt (Lang 2023).
Die Koalition begründete dieses Vorgehen mit dem Verlangen nach transparenteren Entscheidungsfindungen. Bis zu dieser Änderung war es häufig der Fall, dass im Bauausschuss ein Beschluss mit den Stimmen der Opposition verabschiedet wurde, der dann entweder im Finanzausschuss oder im nicht-öffentlichen Verwaltungsausschuss durch das Haushaltsbündnis überstimmt wurde. Ein CDU-Vertreter ließ sich dementsprechend bei der Diskussion um die Nutzung eines öffentlichen Platzes als Parkplatz zu der Aussage hinreißen, dass der Beschluss im Bauausschuss dagegen ja eh wieder im Finanzausschuss kassiert werden würde (Brakemeier 2023a). In Bezug auf die alte JVA sorgte die Problematik der unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse erstmals im Sommer 2022 für erzürnte Gemüter. Am 7. Juli 2022 meldete der Bauausschuss bezüglich eines Antrages der Verwaltung mit einem privaten Investor, der Trafo Hub GmbH aus Braunschweig, ausschließlich über den Verkauf der alten JVA verhandeln zu dürfen, Beratungsbedarf an. Der Verwaltungsausschuss überstimmte entgegen üblichen Gepflogenheiten die Bedenken des Bauausschusses und stimmte dem Antrag wenige Tage am 11. Juni 2022 später zu (Stadt Göttingen 2022a; Stadt Göttingen 2022b). In der Sitzung des Bauausschusses wurde die immer wieder vertagte Aufschiebung der geplanten Machtbarkeitsstudie mit zeitlichen Verzögerungen im gesamten Sanierungsgebiet begründet, wodurch sich andere Fokuspunkte ergeben hätten. Von Seiten des Investor wurde sich aufgrund des Wunsches nach Planungssicherheit eine Festlegung auf die Verhandlungen über einen Verkauf gewünscht. Diesem Verlangen ist der Verwaltungsausschuss in seiner Sitzung nachgekommen. Bereits am 1. Juli, vor den beiden Ausschusssitzungen, hatte die Oberbürgermeisterin der Stadt Göttingen, Petra Broistedt (SPD) in einer Pressemitteilung angekündigt, mit dem privaten Investor verhandeln zu wollen. Von Seiten der Opposition, der Presse und der Stadtöffentlichkeit wurden diese Schritte vielfach kritisiert und als ein Zeichen des Desinteresses der Wünsche der Stadtbevölkerung interpretiert (Krüger-Lenz 2023; Brakemeier 2023b).
Rund einen Monat vor dieser Entscheidung hat sich aus der Göttinger Zivilgesellschaft die Initiative „Soziales Zentrum“ gegründet. Diese setzt sich aus verschiedenen bestehenden sozialen Gruppen wie dem bereits erwähnten Forum Waageplatz, einem Gesundheitskollektiv sowie engagierten Einzelpersonen zusammen. Ziel ist es, in dem alten Gebäude verschiedene soziale Träger anzusiedeln, die den Bedürfnissen des Viertels entsprechen würden. Bereits jetzt befinden sich in der direkten Nachbarschaft mit der Heilsarmee und dem Hausprojekt OM10 zwei gemeinwohlorientierte Organisationen. In dem alten Gefängnis soll ein solidarisches Gesundheitszentrum mit wissenschaftlicher Begleitung durch die Georg-August-Universität Göttingen, ein selbstorganisiertes Café als Begegnungsort sowie konsumfreie Räume für Kinder und Jugendliche entstehen (Soziales Zentrum 2023). Die Kosten für die notwendige Sanierung der Immobilie soll der Initiative zufolge durch die Stadt Göttingen erfolgen. Dafür sollen die bereits bewilligten Fördermitteln aus dem Sanierungsgebiet Nördliche Innenstadt verwendet werden (Paul 2023). Die Initiative veranstaltete über den Sommer hinweg mehrere Straßenfeste, um für ihr Anliegen im Viertel zu werben. Im Oktober 2022 wurde die alte JVA für mehrere Tage von solidarischen Unterstützer:innen, die nicht direkt in Verbindung mit der Initiative stehen, als ein erster Höhepunkt der Auseinandersetzungen besetzt. Nach dem die Stadt Strafanzeige stellte wurde die JVA durch die Polizei geräumt, eine juristische Aufarbeitung der Besetzung und verschiedener Unterstützungsaktionen dauern bis heute an.
Ebenso andauernd sind öffentliche Auseinandersetzungen um die Zukunft des alten Gefängnisses. Der geplante Investor zog sich im November 2022 aufgrund der gestiegenen Baukosten und der Diskussionen um das Projekt zurück. Die Stadt Göttingen stand nun, nachdem sie eine Machbarkeits- und Wirtschaftlichkeitsstudie abgelehnt hatte, ohne Investor und ohne Plan für die alte JVA dar. Auch aufgrund dessen forderte die Fraktion der Grünen im Dezember 2022 erneut die Durchführung der Machbarkeitsstudie. Im Januar 2023 traf sich der Sanierungsbeirat „Nördliche Innenstadt“ zum zweiten Mal. Mit Bezug auf die alte JVA äußerten die gewählten Bürger:innenvertretungen den Wunsch nach einem nachbarschaftlichen Zentrum, in dem sich verschiedene wohltätige Institutionen ansiedeln können (Stadt Göttingen 2023). Die Vertreter:innen der Stadt betonten hingehend, dass die Stadt keinerlei eigenen Mittel für die Sanierung zur Verfügung hätte und deswegen ein Verkauf notwendig sei. Im Bauausschuss betonte die Stadt zudem, dass auch für die Machbarkeitsstudie keinerlei personelle oder finanziellen Ressourcen vorhanden sein.
Nach der beschriebenen Neuordnung der Sitze im Bauausschuss nahm der Entscheidungsprozess um die alte JVA an Fahrt auf. In der Ausschusssitzung im April sollte ursprünglich eine Konzeptvergabe auf Vorlage der Verwaltung der JVA beschlossen werden. Dabei sollen nicht alleine der Kaufpreis, sondern das beste Konzept nach vorab definierten Kriterien die Entscheidungsgrundlage für den Verkauf darstellen. In der Sitzung selber reichte das Haushaltsbündnis jedoch einen Antrag zu einer Direktvergabe ein und wollte diesen ohne Diskussion und Beratungsmöglichkeit per Direktbeschluss bestätigen lassen. Als Begründung führt die Haushaltsmehrheit die bisherige lange (und selbstverschuldete) Verschleppung einer Entscheidung an. Mit der Direktvergabe soll die JVA nun schnellstmöglich veräußert werden. Die Opposition kritisierte die investorengeplante Stadterneuerung als „Rückfall in die städtebauliche Steinzeit“. Selbst die Verwaltung wertete den Vorschlag des Haushaltsbündnisses als falsch und praktisch nicht umsetzbar (Brakemeier 2023c; Stadt Göttingen 2023a). Auch die lokale Presse kritisierte dieses Vorgehen und unterstellte der Politik, die eh schon aufgeheizte Stimmung noch weiter anzufeuern (Brakemeier 2023d). In der Sitzung wurde nach kurzer Unterbrechung die Vertagung des Antrages beschlossen.
Die aktuellste und voraussichtlich letzte Entscheidung in der Diskussion um die alte JVA wurde Anfang Mai 2023 getroffen. Statt einer Direktvergabe, in welcher der Kaufpreis die Entscheidungsgrundlage darstellt, legt das Haushaltsbündnis nun einen Vorschlag für eine Direktvergabe mit verschiedenen Kriterien vor. Bestimmend für die Vergabeentscheidung sei zu 40 Prozent die Qualität des Nutzungs- und Finanzierungskonzeptes, zu 30 Prozent die Höhe des Kaufs- oder Erbpachtangebotes, zu 15 Prozent der Realisierungszeitraum, zu 10 Prozent die Berücksichtigung von Klimaschutz- und Klimaanpassungskonzepten sowie zu 5 Prozent die Erfahrung der Investierenden mit vergleichbaren Immobilien.
Alibi-Beteiligung in der nördlichen Innenstadt
Die dargestellten Ereignisse lassen den Schluss zu, dass die Stadt Göttingen eine echte Beteiligung der Bürger:innen bezüglich der Zukunft der alten JVA nie vorgesehen hat. Eine Berücksichtigung der Interessen der Göttinger Zivilgesellschaft fand in den Diskussionen rund um die alte JVA nicht statt. Selbst als der für das Gebiet zuständige Sanierungsbeirat sich für die Machtbarkeits- und Wirtschaftlichkeitsstudie sowie ein nachbarschaftliches Zentrum in der JVA aussprach ignorierte die Ratspolitik und Verwaltung diese Wünsche. Obwohl in beiden vorbereitenden Untersuchungen eine solche Studie als Maßnahme dargelegt wurde und bereits Fördergelder für das gesamte Fördergebiet durch das Land Niedersachsen bewilligt wurden, wurde die Maßnahme auch Mitte 2023 noch nicht umgesetzt und wird voraussichtlich nach der Entscheidung zu der Direktvergabe auch nicht umgesetzt werden.
Insgesamt entsteht der Eindruck, bei der Frage um den Verkauf der alten JVA in Göttingen hätte von Beginn an die Entscheidung bereits festgestanden. Eine ergebnisoffene Diskussion wurde weder im Beirat noch in der Verwaltung oder in den Parteien des Haushaltsbündnisses geführt. Lediglich der öffentliche Widerstand sowie die verschiedenen Anträge der Opposition gegen den Verkauf der städtischen Immobilie führten zu Diskussionen um die zukünftigen Folgen der aktuellen Stadtentwicklungspolitik. Der fehlende Wille ein Soziales Zentrum in der alten JVA als Möglichkeit in Betracht zu ziehen, erscheint dahingehend überraschend, als dass die Initiative mit ihren Vorstellungen genau den Zielen der vorbereitenden Untersuchungen entspricht. Die Stadt jedoch entschied sich, die Verhandlungen über den weiteren Verbleib der JVA ausschließlich mit der Trafo Hub GmbH zu führen. Damit würde die Stadt Göttingen wissentlich in Zeiten der Wohn- und Mietenkrise eine Immobilie in guter Lage in die private Hand abgeben. Auch das Ignorieren der Beratungswünsche des Bauausschusses im Sommer 2022 sowie die Umstrukturierung jenes Ausschusses 2023 waren auf die Verhinderung einer öffentlichen Diskussion um die JVA gerichtet. Als sich der erste, und bisher einzige öffentlich bekannte und interessierte Investor zurückzog, führte die Stadt Göttingen ihren Widerstand gegen die geplante Studie sowohl in Verwaltung als auch im Rat fort.
Die Stadt Göttingen entschied so nicht nur am Willen der Bürger:innen vorbei, sondern berücksichtige in der Entscheidung eigene Voruntersuchungen nicht und hat zeitliche und personelle Ressourcen in die Verhandlung mit einem privaten Investor gesteckt. Als Begründung für die Ablehnung der Machtbarkeitsstudie führte die Stadt Göttingen jedoch genau diesen Mangel an Ressourcen an. Auch wird die Machtbarkeitsstudie abgelehnt, da die Stadt keinerlei eigene Mittel für die Sanierung aufbringen möchte oder kann. Der unterschiedliche Einsatz von Ressourcen deutet die Priorisierung der Stadt hinsichtlich der Zukunft des Gebäudes an. Eine Sanierung würde sich zudem nicht direkt aus einer Machtbarkeitsstudie ergeben, sondern nur, wenn die Stadt entscheiden würde, die JVA in ihrem Besitz zu behalten. Zudem führte die Verwaltung an, die lange Dauer sowie der dadurch beurkundete schlechte Zustand der JVA könnte Investor:innen abschrecken, die sich in der Folge nach anderen Immobilien umschauen würden. Auch hier wird der Wunsch der Kapitalanleger:innen höher bewertet, als die in Beteiligungsformaten bekundeten Interessen.
Das Handeln der Stadt Göttingen lässt sich mithilfe von Holms Kategorisierung der unternehmerischen Stadt erläutern (Holm 2011: 92). Die Angst, dass sich der/die Investor:in aufgrund zu langer Wartezeit oder unsicherer Verhandlungslage zurückziehen könnte, führte die Ratspolitik dazu, an den Beschlüssen einzelner Ausschüsse vorbei zu entscheiden. Auch die Ablehnung der Studie ist ein Zugeständnis seitens der Verwaltung an den Investor, dem damit eine jahrelange Wartezeit erspart werden sollte. Dass die Immobilie definitiv veräußert wird, kann als ein Kennzeichen der betriebswirtschaftlichen Führung der Verwaltung gewertet werden. Durch den Verkauf an private Investor:innen sollen einerseits Einnahmen generiert werden, während zeitgleich auch Mittel für die Sanierung eingespart werden – da die Stadt Göttingen nicht über die finanziellen Mittel für die Sanierung verfügt, könnten nur Dritte diese durchführen. Die geplante Direktvergabe mit gewichteten Kriterien lässt sich ebenso in dieses Konzept einordnen. Einerseits widerspricht die Aussage, der Kaufpreis sei nicht mehr entscheidend, der
Tatsache, dass dieses Kriterium immer noch die zweitstärkste Kategorie und insgesamt knapp ein Drittel der gesamten Vergabekriterien darstellt. Andererseits handelt es sich bei diesem Vergabeverfahren ausdrücklich nicht um eine Konzeptvergabe, die einen deutlich größeren zeitlichen Aufwand bedeutet hätte. Durch die Direktvergabe soll ein Verkauf der JVA nun schneller geschehen. Die versprochenen Beteiligungsmöglichkeiten werden zudem ad absurdum geführt, wenn zunächst ein Direktbeschluss ohne vorherige Absprache angestrebt wird und es der Öffentlichkeit somit gar nicht möglich war, dies kritisch diskutieren zu können. Der Sanierungsbeirat kritisierte, dass obwohl nur zwei Tage vor der entsprechenden Ratssitzung ein Treffen des Beirates stattgefunden hat, dieser nicht über das Vorhaben informiert wurden ist (Stadt Göttingen 2023b). Entscheidungen und Vertragsverhandlungen über den Verkauf werden aus rechtlichen Gründen sowieso nur in nicht-öffentlichen Ausschusssitzungen behandelt. Ein offenes Agenda-Setting sowie das Einbringen eigener Ideen seitens der Bürger:innen wurden in dem Prozess um die alte JVA nicht erfüllt.
Die Stadt Göttingen begreift die Bewohner:innen und ihre gewählten Vertreter:innen nicht - wie von Lucius Burkhardt gefordert - als Ko-Produzent:innen ihrer Stadt, sondern nutzt das geschaffene Gremium, um die Weitergabe von Informationen zu vermitteln.
Von einer freien, fairen und öffentlichen Beratschlagung kann in diesem Beispiel nicht die Rede sein. Stattdessen wird die Privatisierung der Immobilie durch einen privaten Akteur vorangetrieben, obwohl es zeitgleich Bestrebungen der Göttinger Bürger:innen gibt, diese Immobilie öffentlich und gemeinsam zu gestalten. Der Verfall und die Sanierungsbedürftigkeit der alten JVA müssen als Folge der von Holm beschriebenen Deinvestitionsentscheidungen verstanden und damit als ein Produkt der städtischen Politik der letzten Jahrzehnte beschrieben werden.
Der Unwillen der Göttinger Stadtpolitik effektive Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen, zeigt sich jedoch auch an anderen Orten im Sanierungsgebiet. Genau wie die JVA soll auch der Waageplatz im Rahmen des Städtebauförderprogramms Sozialer Zusammenhalt erneuert und aufgewertet werden. Auch hier ist die Stadt Göttingen durch den rechtlichen Rahmen des Förderprogrammes angewiesen, eine Beteiligung und Berücksichtigung der Interessen der Bürger:innen zu ermöglichen. Erneut ist fragwürdig, inwieweit die Stadt diesen Interessen auch tatsächlich nachkommen will. Auf einen ausgeschriebenen Wettbewerb, der die Stadtkasse 150.000€ kostet, bewarben sich 23 verschiedene Planungsbüros. Eine Jury entscheidet Ende September 2023 über den gewinnenden Vorschlag (Brakemeier 2023e). Mit vertreten sind dabei zwei Bürger:innen, die die Jury beraten sollen. Die Vorschläge werden einen Tag vor Abstimmung der Öffentlichkeit vorgestellt, die Bürger:innen soll daraufhin mithilfe von Feedback die Jury über ihre Wünsche informieren. Nicht Teil der Ausschreibung sind vielfach geforderte öffentliche Toiletten auf dem Waageplatz. Bei einer öffentlichen Veranstaltung zu Beginn des Wettbewerbs begründete die Moderation des Abends diese Entscheidung damit, dass man es den „Trinkern nicht zu bequem“ machen wollte (Mellinger 2023). Ein CDU-Politiker sprach im Stadtrat von dem „üblichen Waageplatz-Klientel“, dem man nicht noch weiter helfen müsste (Brakemeier 2023e). Der Waageplatz ist der Ort, an dem sich die örtliche offene Drogen- und Konsumszene meist aufhält. Auch deswegen wird befürchtet, die Erneuerung des Waageplatz könnte Gentrifizierungs- und Verdrängungsprozesse auslösen. In diesem Zusammenhang wird auch die Planung von Bier- und Weinfesten durch die Stadt auf dem Platz durch Pressevertreter:innen kritisiert, die eine Unterscheidung zwischen legitimen und illegitimen Konsum verdeutlichen (Mellinger 2023a). Auch bei weiteren Bauprojekten wird im Bauausschuss und in der Öffentlichkeit wird immer wieder die fehlende Berücksichtigung der Bürger:innen kritisiert.
Bedenkt man die unzähligen Baustellen, Sanierungsgebiete und Investor:innenprojekte in der Universitätsstadt Göttingen erscheint es notwendig, dass die Bürger:innen den Druck auf die Stadtpolitik hochhalten. Richtungsweisende Projekte bestimmen den Zustand der Stadt für die kommende Jahrzehnte und nur mit ausreichend öffentlichem Druck kann verhindert werden, dass die Stadt von morgen heute an den Wünschen der Bürger:innen vorbeigeplant wird. In der Diskussion um die alte JVA jedenfalls hat die Stadt Göttingen gezeigt, dass die bloße Existenz von Beteiligungsformaten noch nicht zwingend dazu führt, dass die Belange der sich beteiligenden und interessierten Bürger:innen auch seitens der Stadt berücksichtigt und ernstgenommen werden.
References
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