Published 2.05.2024

Das Komplexitätsdilemma

Über das Problem, die Konflikthaltigkeit räumlicher Entwicklung zu vermitteln 

The complexity dilemma

On the problem of communicating the conflictual nature of spatial development

Keywords: Stadtentwicklung; Konflikt; Kommunikation; Komplexität; Urban development; conflict; communication; complexity

Abstract:

In raumbezogener Planung und Entwicklung gehören Konflikte zur Natur der Sache die Vielzahl und Widersprüchlichkeit von Zielen und Akteuren, Belangen und Interessen sowie deren Kollision in konkreten Räumen verdichten sich zu einer enorm konflikthaften Komplexität, die im Prozess verarbeitet werden muss. Daraus folgt: Nicht Konflikt und Komplexität sind das Problem, sondern der Umgang mit ihnen. Was heißt das in der Praxis? Um diese Frage möglichst konkret beantworten zu können, illustrieren drei Fallgeschichten – begleitend zum eigentlichen Text – typische Auseinandersetzungen. Vor diesem Hintergrund werden zunächst die gesetzlich vorgesehenen Formen zum Umgang mit der Komplexität räumlicher Entwicklung angesprochen. Nimmt man die Beteiligung der Öffentlichkeit an diesen Prozessen in den Blick, wird allerdings deutlich: Die öffentliche Auseinandersetzung bleibt häufig unterkomplex. Versuche, dieses Problem zu überwinden, münden in ein Dilemma – ohne klaren Ausweg.

In spatial planning and development, conflicts are part of the nature of things: the multiplicity and contradictoriness of goals and actors, concerns and interests as well as their collision in concrete spaces condense into an enormous conflictual complexity that has to be dealt with in the process. From this follows: The problem is not conflict and complexity, but how to deal with them. What does this mean in practice? In order to answer this question as concretely as possible, three case histories - accompanying the actual text - illustrate typical disputes. Against this background, the forms provided by law for dealing with the complexity of spatial development are addressed first. However, if we then take a closer look at public participation in these processes, it becomes clear that the public debate often remains undercomplex. Attempts to overcome this problem lead to a dilemma - without a clear way out.

Prolog: Galtungs Konfliktbegriff

Raumbezogene Planung und Entwicklung ist konflikthaltig: Wenn die Auseinandersetzung mit widersprüchlichen Zielen die Substanz alltäglicher Arbeit ausmacht. Wenn private und öffentliche Belange miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Wenn jede Veränderung des Status Quo zu Protesten führen kann – und selbst dessen Beibehaltung vor Konflikten nicht schützt. Dann ist das in diesem Handlungsfeld der Normalfall.

Um dem in Wissenschaft wie Praxis gerecht zu werden, bedarf es eines geeigneten Begriffs von Konflikt. Dazu hat der Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung schon 1975 einen bemerkenswerten Vorschlag unterbreitet: Konflikt als Lebensform lautet der Titel einer seiner Veröffentlichungen aus dieser Zeit. Damit brachte er bereits die zentrale Prämisse seiner Überlegungen zum Ausdruck: Widersprüche – zwischen Zielsetzungen, Wertvorstellungen, Interessen etc. – sind allgegenwärtig. Um zu verstehen, warum und auf welche Weise sie zum Gegenstand manifester Auseinandersetzungen werden, müssen zwei weitere Faktoren in den Blick genommen werden: Haltungen und Verhalten. Damit entsteht ein Konfliktdreieck (Galtung 2007; Schrader 2018), zwischen dessen Ecken ein sich verstärkender dynamischer Zusammenhang besteht – und das in großen Teilen unsichtbar ist (siehe Abbildung 1).

Die Abbildung zeigt ein Dreieck an dessen Ecken Haltungen, Widersprüche und Verhalten stehen. Sie stehen in Wechselwirkung, wobei Verhalten sichtbar ist während die anderen beiden Komponenten unsichtbar sind.
Abbildung 1: Komplexität des Konflikts. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Galtung 2007 und Schrader 2018.

Dieses Galtung’sche Konfliktdreieck lässt sich sehr gut für Konflikte im Kontext räumlicher Entwicklung(splanung) nutzen. Denn auch hier

  • gilt die Galtung’sche Prämisse: Widersprüchliche Ziele, Interessen etc. gehören zur Natur der Sache. Zwar ist von Planungskonflikten zumeist dann die Rede, wenn es hoch hergeht, wenn das Meer öffentlicher Aufmerksamkeit schäumt. Aber erhitzte Bürgerversammlungen, Demonstrationen und Social-Media-Kampagnen sind im Galtung’schen Sinne lediglich Formen des Umgangs mit Konflikten. Und diese sind, anders als es die mediale Vermittlung gemeinhin nahelegt, Ausnahmen. Die Mehrzahl aller von Kommunen betriebenen Planungen werden abgewickelt, ohne dass sich das Meer der öffentlichen Aufmerksamkeit auch nur kräuselt. 
  • sind die Haltungen, mit denen die Beteiligten zueinander (Vertrauen/ Misstrauen) sowie zur Substanz der Planungsaufgabe (Grad der Betroffenheit, Art der Interessen etc.) stehen, auch in Planungs- und Entwicklungsprozessen von erheblicher Bedeutung.
  • gibt es viele Formen der Konfliktbearbeitung – gesetzlich geregelte, administrative, politische, aber auch informelle Einflussnahmen, juristische Schritte, öffentlichen Protest et cetera.
  • ist ein Großteil der Aktivitäten im Konfliktdreieck unsichtbar – zumindest aus der Perspektive lokaler Öffentlichkeiten (dazu ausführlicher Selle 2022).
  • herrscht Dynamik. Allerdings geht sie nicht ausschließlich von der Konfliktsubstanz aus (wie das in vielen Adaptionen des Dreiecks durch eine rechts unten beginnende Spirale dargestellt wird), sondern kann von allen Seiten ihren Ausgang nehmen und dabei die streitigen Inhalte mitunter deutlich verformen. Das heißt: Die Dreiecksdarstellung kann jeweils nur eine Momentaufnahme sein, die in jeder Hinsicht in Bewegung ist – mal geordnet, mal chaotisch. Mithin muss bei diesem Konfliktbegriff eine Zeitachse hinzugedacht werden. Denn nur so können die Prozesse räumlicher Planung und Entwicklung, die sich oft über verschiedene Ebenen und viele Jahre erstrecken, angemessen abgebildet werden.

Vordergründe mit Vorgeschichten: Drei Praxis-Beispiele

In Darstellungen von Planungskonflikten stehen oft die Formen der Auseinandersetzung (hitzige Bürgerversammlung, Demonstration etc.) und die dabei zutage tretenden Positionen im Vordergrund. Solche Momentaufnahmen stehen auch hier am Anfang von drei Fallgeschichten. Deren Aufgabe ist es, vom Vordergrund auf die Hintergründe, auf Vorgeschichten, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen, also auf die tatsächliche Komplexität von Aufgabe und Prozess, zu verweisen. Das kann hier nur skizzenhaft geschehen, lässt aber auch so – über allgemeine Aussagen zur Komplexität hinaus – konkrete Situationen räumlicher Planung und Entwicklung sichtbar werden. Alle drei Beispiele – Wiese, Brache und Lücke – bilden Alltag ab. Sie wurden aus Praxisfällen der Innenentwicklung kollagiert und betonen jeweils einzelne Prozessaspekte. Das heißt: Die reale Komplexität ist jeweils noch deutlich größer.

Die Wiese

Das geht nun schon über eine Stunde so. Nachdem zwei Mitarbeiter des Planungsamtes ihre Darstellung des Planungsvorhabens beendet haben, reiht sich eine erregte Wortmeldung an die andere: „Wie kann man in Zeiten des Klimawandels eine Wiese bebauen!“, „Eine derart dichte Bebauung passt nicht hierher“, „Ihr nehmt uns den Zugang zur freien Landschaft“ und so fort…

Die Wiese, um die es geht, ragt tief in den Ort hinein, ist von drei Seiten bebaut und öffnet sich an der vierten zur offenen Landschaft. Von der privilegierten Lage profitieren ein Hotel, Einfamilienhäuser und ein Pferdehof, der auch einen Teil des Grünraums nutzt. Es scheint kein Geheimnis zu sein, dass der Widerstand gerade aus dieser Nachbarschaft kommt. Aber offensichtlich nicht nur von dort.

Nachdem Empörung und Unruhe ein wenig nachgelassen haben, ergreift die Baubürgermeisterin, die sich bislang zuhörend zurückgehalten hatte, das Wort. Sie müsse doch noch einmal betonen, dass es sich bei der Planung nicht um eine fixe Idee der Gemeinde handele, sondern um ein Konzept der Region. Schließlich hätten sich die Umlandgemeinden nach langen Beratungen verpflichtet, an gut erschlossenen Standorten des öffentlichen Verkehrs neue Quartiere zu planen, die die Kernstadt entlasten. Man habe daraufhin sehr sorgfältig verschiedene Standorte in der Gemeinde geprüft. Das hier sei der am ehesten geeignete. Woraufhin man auch schon mit Bodenerwerb begonnen habe (erstauntes Geraune im Saal). Im Übrigen könne man versichert sein, dass wirklich alle Gesichtspunkte, die für ein solches Vorhaben von Bedeutung seien, beachtet würden: Naturschutz, Klima, Erschließung, Ortsbild und vieles mehr – aber natürlich auch die Frage der Wohnungsversorgung oder der Ortsentwicklung insgesamt. Es sei nicht immer einfach, alle Gesichtspunkte unter einen Hut zu bekommen. Aber dazu sei ja Stadtplanung da. Und im Übrigen hoffe sie, dass mit dem Wettbewerb, der demnächst ausgeschrieben werde, deutlich wird, wie man auch im Detail den verschiedenen Ansprüchen gerecht werden könne.

Das Foto zeigt eine grüne Wiese.
Abbildung 2: Potentielles Neubaugebiet? (Symbolbild). Quelle: Klaus Selle.

Die Brache

Eigentlich hatte man schon ein Konzept für die gewerbliche Neu-Nutzung eines weitgehend brach gefallenen Industrie-Areals. Dann ließ eine Koalitionspartei die Abstimmung mit Blick auf kommende Wahlen und den sich regenden Unmut in Teilen der Öffentlichkeit platzen. Der Plan wurde zurückgezogen. Die Mehrheiten wechselten. Die neue Bürgermeisterin wollte nun alles besser machen. Frühzeitig wurde die Öffentlichkeit beteiligt und in einer Versammlung das fortgeschriebene Konzept vorgestellt. Es sieht vor, dass ein auf solche Flächen spezialisiertes Unternehmen den Standort wieder gewerblich nutzbar macht und dabei die Altlastenproblematik auf eigene Kosten löst. Geschähe dies nicht, so betonte die zuständige Umweltbehörde, müsse die öffentliche Hand tätig werden und nach Bundesbodenschutzgesetz eine Sicherung vornehmen.  Das sei teuer und bedeute eine vollständige Versiegelung der Fläche – ohne dass sie wieder in Nutzung genommen werden könne. Aus diesen und anderen Gründen, ergänzte der Planungsdezernent in der Versammlung, seien Vorstellungen von Begrünung, Ökosiedlung und so fort – man müsse es so deutlich sagen – unrealistische Träumereien.

Das ließen die damit angesprochenen Vertreterinnen und Vertreter einer Initiative nicht auf sich sitzen: Die Stadt sei phantasielos. Es gelte einen Neuanfang zu wagen. Und von den vielen Nachteilen des aktuell verfolgten Konzeptes, etwa Schwerlastverkehr in der Stadt, sei gar nicht mehr die Rede. Die Bürgermeisterin ergriff das Wort. Alle Fakten lägen doch nun auf dem Tisch. Auch wenn sie das Wort hasse, aber: das aktuelle Konzept sei alternativlos. Und es gäbe nur ein kleines Zeitfenster, in dem das zu realisieren sei …“ Zornige Wortmeldungen waren die Folge: Das stimme doch alles gar nicht. Was sie da betreibe, sei im Übrigen Hinterzimmerpolitik: Man habe sich auf Gedeih und Verderb einem Investor ausgeliefert. Und als die Bürgermeisterin beschwichtigend rief „Sie können mir da schon vertrauen“, war deutlich zu hören: „Genau das nicht“.

Das Foto zeigt Überreste einer Industriebrache.
Abbildung 3: Brachenrecycling (Symbolbild). Quelle: Klaus Selle.

Die Lücke

Eines Tages kamen Bauwagen – und Bauarbeiter. Die zogen einen blickdichten Bauzaun um das Gelände des seit mehreren Monaten leerstehenden, alten Geschäftshauses. Und dann kamen die Bagger. In wenigen Tagen war das Gebäude abgerissen. Unmittelbar anschließend wurde ein Großteil des Abbruchmaterials vor Ort geschreddert und abtransportiert. Die Irritation der Öffentlichkeit war nicht nur wegen des damit verbundenen Lärms groß. Vielmehr trug dazu ein Bauschild bei, das die geplante Neubebauung zeigte – deutlich wuchtiger als die bisherige. Und die beiden alten Ulmen waren auch verschwunden. Es häuften sich die Anfragen in der Stadtverwaltung, ob das denn alles rechtens sei und ob es nicht viel richtiger wäre, in der dicht bebauten Innenstadt eine grüne Oase zu schaffen.

Aus der Baubehörde verlautete dazu lediglich: Da sich die Neubebauung im Wesentlichen „in die Eigenart der näheren Umgebung“ einfüge, sei sie nach § 34 BauGB zu genehmigen. Das, was für viele überraschend gekommen sein mag, hatte eine lange und verwickelte Vorgeschichte. Im Zuge des Strukturwandels der Innenstadt war der Leerstand absehbar gewesen. Grundstückseigentümerin und Pächter konnten sich aber nicht über Perspektiven des Standortes verständigen. Dann gelang es dem rührigen Stadtmarketing, einen geeignet erscheinenden Investor zu finden und ihn zum Engagement zu bewegen. Zur Vorgeschichte gehört wohl auch, dass es eine intensive Auseinandersetzung innerhalb des Verwaltungsvorstandes darüber gab, ob die Kommune hier von einem Vorkaufsrecht hätte Gebrauch machen können oder sollen.

Das Foto zeigt hinter einem Bauzaun Maschinen, die ein Haus abreißen.
Abbildung 4: Abriss für Neubau im Bestand (Symbolbild). Quelle: Klaus Selle.

Konflikthaltige Komplexität 

Die Otto von Bismarck zugeschriebene Feststellung, Politik sei die Kunst des Möglichen bringt zum Ausdruck: 

Wer politisch handlungsfähig werden will, muss zwischen widerstreitenden Zielen, Interessen und Rahmenbedingungen Wege finden. 

Das, was für die Politik allgemein Bedeutung hat, gilt für raumwirksames Handeln öffentlicher Akteure umso mehr. Denn hier sind bereits wesentliche Vorgaben in sich widersprüchlich, sind weitere Akteure raumprägend und kollidieren Ziele im gleichen Raum. Das alles verklumpt sich zu einer Komplexität, die typisch ist für Aufgaben räumlicher Planung und Entwicklung.

Um diese Zusammenhänge nicht nur abstrakt darzustellen, wurden den folgenden Überlegungen drei Fallgeschichten aus der Praxis vorangestellt (s.o.). Dabei geht es um typische Konstellationen bei der Bewältigung der für nachhaltige Stadtentwicklung besonders bedeutsamen Aufgabe der Innenentwicklung. Im Spannungsfeld zwischen allgemeinen Betrachtungen und solchen konkreten Beispielen werden – so ist zu hoffen – die Inhalte plastischer, als dies ohne solch exemplarischen Praxisbezüge möglich wäre.

Ziele: Spannungsverhältnisse allenthalben

„Die für die Planungsforschung vielleicht interessanteste Frage ist sicherlich jene, wie sich die Ziele erstens der Decarbonisierung durch regenerative Energien und zweitens Effizienzsteigerung durch Beschleunigung von Planungsverfahren mit dem Anspruch verstärkter Beteiligung auf der einen Seite und der Wahrung von Nachhaltigkeitsaspekten […] auf der anderen Seite vereinbaren lassen.“ (Diller 2022: 71) Jede ernsthafte Auseinandersetzung mit räumlicher Planung und Entwicklung mündet irgendwann in solchen Fragen: Zielwidersprüche gehören in diesem Handlungsfeld zur Grundausstattung – ob es um programmatische Aussagen geht (wie denen aus jüngsten Koalitionsverträgen, die Diller analysiert) oder Alltagsaufgaben, wie sie in den Fallgeschichten beschrieben werden.

Das hat seine Ursprünge schon in der gesetzlichen Basis. Bereits das Grundgesetz eröffnet ein für das Planen und Bauen elementares Spannungsverhältnis: Mit Artikel 14 wird das Eigentum gewährleistet (Abs. 1) und zugleich dem Gemeinwohl verpflichtet (Abs. 2). 

Ihre volle Entfaltung finden die gesetzlich angelegten Spannungen im Baugesetzbuch. Dort wird schon in § 1 gefordert, dass die Bauleitplanung „eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung [gewährleistet], die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen […] miteinander in Einklang bringt“. Dass ökonomische, ökologische und soziale Suffizienz-Ziele vielfach eben nicht in harmonischen Einklang zu bringen sind, sondern in herber Dissonanz verhallen können, dürfte dabei keine neue Nachricht sein.

Aber damit des Spannungspotenzials nicht genug: Im nächsten Absatz des gleichen Gesetzes folgt eine Liste von vierzehn Punkten (nebst zahlreichen Unterpunkten), die „bei der Aufstellung der Bauleitpläne insbesondere zu berücksichtigen“ sind. Da kommen schon einmal die Belange der Nr. 2 (Wohnbedürfnisse) mit denen der Nr. 8b (Landwirtschaft) oder Nr. 14 (Ausreichende Versorgung mit Grün und Freiflächen) in Kollision – um nur ein Beispiel (mit Bezug zur Fallgeschichte 1) von unendlich vielen weiteren zu nennen. 

Akteure: Plural und multilateral

Ein flüchtiger Blick auf die Konflikte um Wiese und Brache könnte den Eindruck erwecken, da stünden sich zwei Konfliktparteien gegenüber: Die Öffentlichkeit gegen die Stadt

Häufig werden Planungskonflikte tatsächlich in eben solchen bilateralen Konstellationen beschrieben. Die Wirklichkeit aber ist multilateral. 

Das hat zahlreiche Reibungsflächen zwischen vielen Akteuren zur Konsequenz. Schon die gerafften Falldarstellungen machen das deutlich: Da agieren verschiedene Gebietskörperschaften, Planungsinstitutionen, Ämter, Behörden, Verbände und städtische Teilöffentlichkeiten auf verschiedene Weise, zu unterschiedlichen Zeitpunkten, in diversen Konstellationen.

Im und um den Planungsbereich leben Menschen, sie besitzen Grundstücke, nutzen die Räume, betreiben Geschäfte, befürchten Veränderungen, hoffen auf Verbesserung. Sie sind in unterschiedlichem Maße (potenziell) Betroffene: Zum Teil müssen sie erhebliche Beeinträchtigungen befürchten – man denke nur an Hotelbetreibende mit dem Standort am Rande der offenen Landschaft (Fall 1) oder an die Belastungen durch Schwerlastverkehr im Umfeld des Gewerbestandortes (Fall 2). Einige sehen allgemeine Gefährdungen (des Grundwassers, des Stadtklimas), vertane Chancen (städtebauliche Aufwertung, mehr Grün) oder erwarten Verbesserungen (des Wohnungsangebotes, der Belebung der Innenstadt). Und nicht zuletzt verfügen alle hier involvierten Akteure über unterschiedliche Rechte, Mittel und Möglichkeiten, ihr Interesse und Befürchtungen kundzutun. 

Dann gibt es noch diejenigen, von deren Engagement es abhängt, ob bauliche Entwicklungen überhaupt stattfinden. In allen drei Fällen waren die Kommunen froh, nach zum Teil langer Suche Partner:innen gefunden zu haben, die im Sinne der Planungsziele zu handeln bereit sind: Im Wiesen-Fall mussten Wohnungsbauträger gefunden werden, die sich überhaupt der ungeliebten Aufgabe (öffentlich geförderter) Mietwohnungsbau (zudem verdichtet in Umland-Lagen) widmen. Für die Brache brauchte es Spezialisten, die mit derlei komplizierten Brownfield-Developments umzugehen wissen. Und für die Neubebauung in der Innenstadt (Fall 3) war man glücklich, sowohl einen Investor mit passendem Nutzungskonzept zu finden als auch den Grundstückseigentümer überhaupt zum Verkauf bewegen zu können. Das gelang nur mit viel Überzeugungsarbeit und einigen Anreizen. Denn über andere Steuerungsmöglichkeiten verfügt die Kommune in einem solchen Fall nicht.

Aus dieser Akteursvielfalt mit ihren komplexen Binnenbezügen, den Möglichkeiten und Grenzen der Einflussnahme und Steuerung ergeben sich parallele und einander überlagernde kommunikative Konstellationen. Vielfach sind sie selbst für unmittelbar Beteiligte nicht immer vollständig überschaubar (ausführlicher zum Transparenzdilemma: Selle 2022).

Räume: Zuspitzungen vor Ort

Widersprüchliche Zielvorgaben und divergente Akteursinteressen gehören zur normalen Ausstattung von Konflikten. In der Stadtentwicklung stellt Raum jedoch einen zusätzlichen Faktor dar, der sowohl aus sich heraus Spannungsfelder generiert, als auch durch die Kollision von Zielen an einem Ort Konfliktpotenziale erhöht, denn jede Fläche, auf die sich mögliche Planungen richten, hat Geschichte und Bedeutung (für diese, jene, alle), ist mit Rechten belegt, Gegenstand von Interessen und (häufig) divergenten Nutzungsansprüchen. 

Standorte bringen zudem Vorprägungen mit, die Rahmenbedingungen für Planungsabsichten setzen. Diese können aus naturräumlichen Gegebenheiten (Fall 1), Altlasten und anderen Lagefaktoren (Fall 2), aus planungsrechtlichen Ausgangsbedingungen (Fall 3) und vielem anderen resultieren. Daraus folgt: Man kann in abstrakten Programmen (etwa zur Stadtentwicklung) viele Ziele in Listen problemlos untereinander vereinen. Wenn es aber um konkrete Standorte und begrenzte Flächen geht, entstehen Widersprüche und Unverträglichkeiten. Regelmäßig gerät etwa das Gebot des BauGB, Flächenwachstum nach außen durch Verdichtung nach innen zu vermeiden mit dem Ziel, Freiräume aus stadtklimatischen und vielen anderen Gründen zu erhalten, in Konflikt.

Konflikte, Komplexität und Kommunikation

Ruft man das Stichwort Komplexität in Wikipedia auf stößt man dort auf Umschreibungen wie „Gegenteil von Einfachheit und Überschaubarkeit“. Man erhält den Hinweis, dass „widersprechende Zielsetzungen, Dilemmata und nicht determinierbares Verhalten autonomer Systemeinheiten“ zum Entstehen von Komplexität beiträgt (vgl. Wikipedia o. J.) All das gilt für räumliche Planung und Entwicklung: Schon die Fallgeschichten illustrieren das. 

Die Vielfalt der Akteure, Interessen, Ziele und Belange, die Heterogenität und Vorprägung der Räume, die verwickelten Bezüge und Abhängigkeiten – und die aus alledem resultierenden latenten und evidenten Widersprüche – lassen keinen Zweifel: Hier herrscht Komplexität. 

Es ist dieser spezifische Aspekt, der bei den folgenden Überlegungen zu Umgangsformen im Mittelpunkt steht. Dabei erweist sich, dass insbesondere die kommunikative Bewältigung der Komplexität in und mit der Öffentlichkeit eine erhebliche Herausforderung darstellt.

Misslingende Deliberation? 

Die Einsicht in Konflikthaltigkeit und Komplexität raumbezogener Planung ist nicht neu. Insofern gibt es dafür auch bereits eine Lösung. Die Rede ist von der Abwägung. Sie bildet den Kern gesetzlich geregelter Planungsprozesse und stellt sozusagen die Standardform der Konfliktaustragung im Galtung’schen Sinne dar. In diesem Kontext spielt auch die Beteiligung der Öffentlichkeit eine Rolle. Wie wird sie im Alltag des Planens gestaltet? Wie wird hier mit Komplexität umgegangen? 

Abwägung in der Bauleitplanung: Ein perfekter Modus der Komplexitätsbewältigung?

Mit dem Baugesetzbuch werden vor allem Verfahren der Bauleitplanung gesetzlich geregelt. Betrachtet man sie unter dem Gesichtspunkt der Bewältigung von Komplexität näher, so findet man ein Verfahrenselement vor, das von alters her für solche Zwecke eingesetzt wird: die Deliberation. Schon im römischen Recht galt der Grundsatz: „Deliberandum est diu quod statuendum est semel“. Frei übersetzt: Das, was ein für alle Mal festgesetzt werden soll, muss zuvor ausführlich bedacht und beraten werden.

Das trifft exakt Aufgabe und Verfahren der Bauleitplanung: Hier werden Festsetzungen mit erheblichen, dauerhaften Folgen getroffen. Daher sind mehrere Schritte des Bedenkens und Beratens vorgesehen, die in den „materiellen Kern des Planungsprozesses“ münden (Schmidt-Eichstaedt 2010: 12). Die Rede ist von der Abwägung und der ihr vorlaufenden zweistufigen Behörden- und Öffentlichkeitsbeteiligung.

Ohne hier in rechtliche Details einsteigen zu wollen, kann man einem solchen Verfahren durchaus attestieren, dass es grundsätzlich geeignet ist, die relevanten Gesichtspunkte zur Bewältigung einer komplexen Planungsaufgabe zusammenzutragen und sie in ihrer Konflikthaltigkeit abzuwägen (§§ 1, 3 und 4 BauGB). Drei Aspekte sind zum Verständnis dieser Umgangsform mit der Vielfalt und Komplexität einander widerstreitender Gesichtspunkte von Bedeutung: Sie

  • ist ein administrativer Prozess: Es obliegt der Verwaltung, diesen Prozess zu organisieren, die Gesichtspunkte vieler – Verbände, Behörden, Institutionen und organisierte wie nicht-organisierte Öffentlichkeiten – zu erfassen und die Abwägung nachvollziehbar zu gestalten.
  • unterliegt der juristischen Überprüfbarkeit: Wenn beispielsweise von der Planung berührte Belange in wesentlichen Punkten nichtzutreffend ermittelt oder bewertet worden sind, kann der Plan seine Rechtskraft verlieren (§ 214 BauGB).
  • ist im strengen Sinne deliberativ, also beratend und nicht entscheidend. Das Abwägungsergebnis der Verwaltung dient also vor allem der Vorbereitung politischer Beschlüsse.

Allerdings künden viele öffentlich ausgetragene Konflikte davon, dass Verlauf und Ergebnisse dieser Verfahren nicht immer und nicht von allen akzeptiert werden. Man muss daher – Galtung folgend – nach dem Umgang mit den Verfahren, ihrer Ausgestaltung in der Praxis fragen. Das soll hier am Beispiel der Kommunikation mit der Öffentlichkeit geschehen.

Frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung: Angemessen informiert?

Die hier lediglich skizzierten Fallgeschichten zeigen – trotz der notwendigerweise stark verkürzten Darstellung –, wie komplex selbst einfach erscheinende (Stadt-)Entwicklungen sein können. Betrachtet man sie im Hinblick auf die Vermittlung dieser Komplexität zur Öffentlichkeit hin, wird zunächst deutlich: In einer Vielzahl von Fällen findet gar keine Kommunikation statt. So werden, wie im Fallbeispiel Lücke, viele Vorhaben, die im Zusammenhang bebauter Ortsteile (§ 34 BauGB) geplant sind, erst mit Beginn der Baumaßnahmen, öffentlich sichtbar.

Ist hingegen die Aufstellung eines Bebauungsplanes erforderlich und wird dieser nicht im beschleunigten Verfahren (§ 13a BauGB) durchgeführt, besteht immerhin die Chance, dass die Öffentlichkeit im Wege der frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung (§ 3 Abs. 1 BauGB) über das Vorhaben informiert wird. Wie dies geschieht und welche Informations- und Beteiligungsmöglichkeiten angeboten werden, war kürzlich Gegenstand einer breit angelegten, 100 Verfahren in Deutschland einbeziehenden Untersuchung (Decker & Selle 2023). Fasst man die Ergebnisse mit Blick auf die hier interessierenden Fragen zusammen, ergibt sich folgendes Bild:

  • Von den Vorgeschichten (wie sie etwa in den Fällen Wiese und Brache angedeutet werden) erfährt man in der Regel nichts.
  • Konfrontiert wird die interessierte Öffentlichkeit mit Vorhaben, die sehr häufig schon recht detailliert durchgeplant sind – obwohl der Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt des Planungsverfahrens noch von inhaltlicher Offenheit ausging.
  • Bei der Darstellung der Inhalte dominiert die für Laien unverständliche Zeichensprache der Bauleitplanung. Auch erläuternde Texte sind nur selten allgemeinverständlich.
  • Der Umfang des bereit gestellten Materials reicht von spärlich (etwa: amtliche Bekanntmachung im Behördendeutsch) bis überwältigend (zahlreiche übergeordnete Pläne, Gutachten zu Einzelfragen, die nur für Fachleute verständlich sind und deren Bedeutung für den Planungsfall aus Laienperspektive nicht begriffen werden kann).

Insbesondere der letzte Befund macht das Dilemma, um das es hier geht, deutlich: die diversen Gutachten, Fachpläne etc. sind ebenso wie die Stellungnahmen zahlreicher Behörden und Träger öffentlicher Belange rechtlich wie inhaltlich Bestandteil der jeweiligen Planung. Aber sie lassen sich nicht zur Öffentlichkeit hin vermitteln. Jedenfalls nicht in der behördengängigen Form.

Polarisierung im Prozess: Verhältnisse plattgeschlagen?

Niklas Luhmann hat einmal festgestellt: „Gegen Komplexität kann man nicht protestieren. Um protestieren zu können, muß man … die Verhältnisse plattschlagen.“ (1997: 861) Genau das geschieht in vielen zugespitzten, öffentlich ausgetragenen Konflikten. Es scheint nur mehr um Ja oder Nein, um Zustimmung oder Ablehnung zu gehen: Die Wiese bebauen – ja oder nein. Das Konzept zur Wiedernutzung der Brache billigen – oder nicht. Dass mit diesen Planungen weiter reichende Ansprüche, lange Vorgeschichten und umfängliche Vorklärungen verbunden waren, bleibt unberücksichtigt. Für die Praxis kommunaler Stadtplanung und -politik kann das handfeste negative Folgen haben. Fünf seien hier erwähnt:

  • Es entsteht ein Problemverschiebebahnhof: Aufgaben bleiben ungelöst, Zeitfenster schließen sich oder es wird so lange nach Standorten gesucht, bis man einen findet, dessen wesentliche Eignung darin besteht, dass dort kein Widerstand artikulationsstarker Akteure zu befürchten ist. 
  • Damit wird auch schon auf den nächsten Aspekt verwiesen: Protest ist sozial wie substanziell hoch selektiv: Es kommen nur diejenigen zu Wort, die das Wort ergreifen. Und es werden nur mehr die Aspekte thematisiert, die von den streitenden Parteien in den Vordergrund gestellt werden. Regelmäßig sind etwa bei der Innenentwicklung diejenigen nicht vertreten, die auf den zu schaffenden Wohnraum angewiesen wären.
  • Das Potenzial von Konflikten wird nicht genutzt: Widerstreitende Interessen, Zielkonflikte und Co. haben ja durchaus auch eine produktive Seite. Sie zwingen zur Suche nach Lösungen, die zwischen Ja und Nein, zwischen Entweder und Oder liegen. Das kann zu sinnvollen Kompromissen oder kreativen neuen Lösungen führen – substanziell wie prozessual. Durch die vorschnelle öffentliche Zuspitzung auf Pro und Contra bleiben diese Konfliktpotenziale ungenutzt.
  • Derart zugespitzte Auseinandersetzungen werden nicht nur gelegentlich von interessierten Kreisen in Oben-Unten-Konflikte umgedeutet (die da oben gegen uns hier unten) und erhalten damit zusätzliche politische Sprengkraft – mit Folgen (wie im Fall 2).
  • Im Zuge solcher Eskalationen wird häufig mit einseitigen oder schlicht falschen Argumenten, vornehmer ausgedrückt: mit strategischen Verfälschungen operiert. Es werden auch Interessen verschleiert oder in den Schafspelz des Gemeinwohls gehüllt. Da müssen dann die Kaltluftströme – ob vorhanden oder nicht – herhalten, um (wie im Fall Wiese) eine Bebauung zu verhindern, obwohl es doch den Anrainern eigentlich um den Schutz ihrer bisherigen Aussicht, die Abwehr unerwünschter Bevölkerungsgruppen in der Nachbarschaft und letztlich um den Wert ihrer Immobilien geht. Um Missverständnisse zu vermeiden: Nicht die Interessen sind das Problem, sondern das Verschleiern. So lassen sich Konflikte nicht inhaltlich bewältigen, denn man sucht an den falschen Stellen nach Lösungen.


Nun sind natürlich nicht nur die Haltungen protestierender Teil der städtischen Öffentlichkeit für das Plattschlagen der inhaltlichen Komplexität und den Verlauf von Konfliktbearbeitungen relevant. Selbstverständlich spielen auch alle anderen Beteiligten – oft entscheidende – Rollen. Ob es nun die (lokalen) Medien sind, die die lautstark vorgetragenen Positionen und die mit ihnen verbundenen reduzierten Problemsichten übernehmen. Oder diejenigen, die über entwicklungsrelevante Grundstücke verfügen und ihre Macht zur Verengung der Handlungsoptionen nutzen. Oder jene, die das Denken in Alternativen und Varianten als Zeitverschwendung und Öffentlichkeit a priori als Störfaktor ansehen. Und nicht zuletzt diejenigen, die aus der Eskalation politisches Kapital schlagen und nach Kräften in das Protesthorn blasen.

Sie tragen alle auf ihre Weise dazu bei, dass die Auseinandersetzung inhaltlich unterkomplex wird und Prozesse scheitern bevor auch nur näherungsweise die Potenziale einer sachgerechten Suche nach Konfliktlösungen ausgeschöpft wurden.

Epilog: Komplexitätszumutungen

Zum Dilemma wird der kommunikative Umgang mit den für räumliche Planung und Entwicklung typischen Konflikten dadurch, dass es keine für alle Beteiligten befriedigende Lösung zu geben scheint: Bauleitplanung ist eine fachliche Aufgabe mit vielen Facetten, zudem eingezwängt in zahlreiche rechtliche Erfordernisse. Daraus resultiert die begründete Auffassung, dass sie auch einer fachlich und rechtlich angemessenen Darstellung bedarf. Ebenso unstrittig aber ist auch, dass auf diese Weise große Teile der (nicht-fachlichen) Öffentlichkeit weder erreicht, geschweige denn zu Erörterung befähigt werden. So redet man vielfach aneinander vorbei, schüttelt (im Konfliktfall) auf allen Seiten die – häufig schon zornroten – Köpfe.

Ein (Aus-)Weg könnte darin bestehen, dass man beides leistet: für die fachlich-rechtliche Kommunikation die geeigneten Unterlagen erstellt, sie aber zugleich übersetzt – in alltagstaugliche Sprache und anschauliche Darstellungen. Dabei ließe sich dem Albert Einstein zugeschriebenen Grundsatz folgen: „Man sollte alles so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher“. In diesem Fall bedeutet das, die inhaltliche Komplexität, also die Vielfalt der Gesichtspunkte sowie die Pluralität von Akteuren und Interessen, auf verständliche Weise sichtbar zu machen.

Die Reaktion der zuständigen Fachverwaltungen auf eine solche Zumutung ist absehbar. Wahlweise: Dafür sind wir nicht zuständig., Wie sollen wir das auch noch schaffen?! oder: Öffentlichkeitsarbeit sollen die machen, die das gelernt haben! Tatsächlich gibt es inzwischen Kommunen, in denen eine entsprechende Aufteilung zwischen Fach- und Kommunikationsaufgaben versucht wird. Ob das einen gangbaren Weg darstellt, muss sich noch zeigen. So oder so eröffnet sich damit jedoch ein nächstes Dilemma – das zwischen Breite und Tiefe: Seit einigen Jahren gibt es Bemühungen, Demokratie vor Ort zu stärken. Das soll dadurch erreicht werden, dass möglichst viele beteiligt werden. Dazu sind, so die gängige Ansicht, niedrigschwellige Angebote notwendig. Als solche gelten im Handlungsfeld Stadtentwicklung beispielsweise Wunsch- und Ideensammlungen. So wird dann etwa gefragt „Was macht für Sie eine nachhaltige Stadt aus?“ oder „Wie sieht Ihr Quartier der Zukunft aus?“. Im Ergebnis werden so oft viele Hundert, wenn nicht Tausende von Anregungen auf Pinnwänden und Netzseiten eingesammelt. Das geschieht mit bester Absicht, ist jedoch für viele Fragen der Stadtentwicklung unangemessen (ausführlicher Selle 2021). Denn hier gilt, was Willy Brandt bezogen auf Bismarck einmal feststellte: Dessen „oberste Maxime, die Politik als Kunst des Möglichen zu erkennen, [sei] zu oft mit dem Munde nachvollzogen und zu wenig mit Verstand befolgt worden. Denn sie bedeutet, dass […] es weder Kunst noch Politik ist, im Wunschdenken befangen zu bleiben“ (Brandt 2012: 589).

Um dem Möglichen in den schwierigen Gemengelagen der Stadtentwicklung näher zu kommen, muss man sich deren Komplexität stellen. 

Dass das nicht nur für Fachfragen gilt, sondern eine Herausforderung der Demokratie insgesamt sein kann, hat der ehemalige schwedische Ministerpräsident Olof Palme schon vor Jahrzehnten unterstrichen: „Es ist eine Irrlehre, dass es Fragen gibt, die für normale Menschen zu groß und zu kompliziert seien. Akzeptiert man einen solchen Gedanken, so hat man einen ersten Schritt in Richtung Technokratie, Expertenherrschaft, Oligarchie getan. [...] Die Politik ist zugänglich, beeinflussbar für jeden. Das ist der zentrale Punkt der Demokratie.“ (Reinert 1998: 126)

Für eine breite Beteiligung, mit der niedrigschwellig möglichst viele erreicht werden, sind etliche Aufgaben der Stadtentwicklung allerdings nicht geeignet. Statt (quantitativer) Breite ist vor allem (inhaltliche) Tiefe gefragt: Auseinandersetzungen mit der Sache, die deren Komplexität gerecht werden, Erörterungen mit allen, die betroffen und beteiligt sind oder doch sein sollten. Denn es geht in der Stadtentwicklung (auf Ebene der Bauleitplanung) nicht nur um Meinungen, sondern um konkrete Betroffenheiten, es geht um Rechte und Verantwortlichkeiten, um Schaden und Nutzen, Gewinn und Verlust und vieles andere mehr. Das ist nicht mit Klicks und schnellem Voting zu machen. Es erfordert Dialogbereitschaft und Geduld.

Es gibt im Werkzeugkasten kommunikativer Prozessgestaltung Instrumente, mit denen man an solche Aufgaben herangehen kann. Aber die Gefahr des Scheiterns ist groß. 

Aus vielen Gründen: Es fehlt auf allen Seiten an der Bereitschaft, sich solchen Prozessen auszusetzen. Und selbst wenn Erörterungen mit ausreichender inhaltlicher Tiefe zu guten Ergebnissen führen, bleibt die Frage offen, wie Prozess und Ergebnis solcher Erörterungen in die Breite, in die Meinungsbildung der lokalen Öffentlichkeit vermittelt werden können. Das Dilemma scheint offensichtlich: Wer Breite will meidet Komplexität. Wer sich ihr stellt, wer inhaltlich in die Tiefe geht, erreicht nur wenige. Wer beides miteinander verbinden will, hat viele Hürden zu überwinden und scheitert oft.

Man muss es dennoch immer wieder aufs Neue versuchen, denn der konflikthaltigen Komplexität von Stadtentwicklung ist anders nicht beizukommen. Das erinnert ein wenig an Sisyphos – nicht an dessen mythologische Strafe, sondern an das von Albert Camus (2004: 159–160) ins Auge gefasste Abarbeiten an einer wichtigen, Sinn stiftenden Aufgabe, für die es keine (abschließende) Lösung zu geben scheint.

About the author(s)

Klaus Selle, Prof. Dr., untersucht, begleitet und gestaltet Stadtentwicklungsprozesse. Nach Tätigkeiten an den Universitäten Dortmund, Hannover und als Leiter des Lehrstuhls Planungstheorie und Stadtentwicklung von 2001 bis 2018 in Aachen ist er aktuell im Kontext von NetzwerkStadt aktiv.

Klaus Selle, Prof. Dr., investigates, accompanies and designs urban development processes. After working at the universities of Dortmund, Hanover and Aachen where he held the chair of Planning Theory and Urban Development from 2001 to 2018, he is currently active in the context of NetzwerkStadt.

References

Brandt, Willy (2012): Bismarck und die Kunst des Möglichen. In: Ders.: Im Zweifel für die Freiheit. Reden zur sozialdemokratischen und deutschen Geschichte. Willy-Brandt-Dokumente Bd. 2. Bonn: J.H.W. Dietz Nachf..

Camus, Albert (2004): Der Mythos des Sisyphos. 6. Aufl., Reinbek: Rowohlt.

Decker, Ronja und Selle, Klaus (2023): Neue Blicke auf frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung im Alltag der Stadtentwicklung. Offene Vorgaben. Zurückhaltende Praxis. Dynamischer Kontext. vhw-Schriftenreihe Nr. 39. Berlin. 

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Luhmann, Niklas  (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp.

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Reinert, Adrian (1998): Mobilisierung der Kompetenz von Laien. Die Methode Planungszelle/Bürgergutachten. In: Stiftung Mitarbeit (Hg.): Wege zur Zukunftsfähigkeit – Ein Methodenhandbuch. Arbeitshilfen für Selbsthilfe- und Bürgerinitiativen Nr. 19. Bonn, 115–126. 

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Wikipedia (o. J.): Komplexität. https://de.wikipedia.org/wiki/Komplexität, Zugriff am 5. Juli 2023.