pnd – rethinking planning - Zwei verschiedene Arten von Reallaboren sind nebeneinandergestellt. Zu sehen sind links ein Workshopsetting im Mitmachbüro der ACademie für kollaborative Stadtentwicklung und rechts eine Luftaufnahme der Teststrecke für autonome Fahrzeuge und 5G Mobility des Aldenhoven Testing Centers.
Zwei typische und zugleich sehr verschiedene Reallabore der RWTH Aachen University: die ACademie für kollaborative Stadtentwicklung und das Aldenhoven Testing Center. Quellen: Pt, RWTH Aachen (Links), ATC of RWTH Aachen University GmbH (Rechts).
  1. Start
  2. Reallabore: Hoffnungen, Erwartungen und Herausforderungen
  3. Reallabore unter der Lupe: 22 Fallstudien des RWTH Living Labs Incubators
  4. Eine Klassifizierung von Reallaboren anhand von Transdisziplinaritätsgraden
  5. Wissensproduktion in Reallaboren
  6. Demokratiepolitische Herausforderungen in Reallaboren
  7. About the author(s)
  8. References

Published 31.05.2022

Reallabore um die RWTH Aachen

Rückblicke, Einblicke, Lichtblicke

Living Labs at RWTH Aachen University

Retrospection, Inspection, Circumspection

Keywords: Reallabore; Wissensproduktion; Partizipation; Transformation; Nachhaltigkeit; knowledge production; participation; sustainability

Abstract:

Reallabore werden als entscheidende institutionelle Einrichtungen für transdisziplinäre und transformative Forschung gehandelt, um den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen. Trotz dieser hohen Ansprüche an das in und durch Reallabore entwickelte Wissen, blieben bisher wichtige wissensbezogene und demokratiepolitische Fragen ungeklärt. Deshalb untersucht dieser Beitrag 22 Reallabore, die sich mit Orts-, Stadt- oder Regionalentwicklung befassen und die im Kontext der RWTH Aachen operieren. In der Analyse werden die verschiedenen Reallabore nach ihrer räumlichen und sozio-institutionellen Ordnung typologisiert und die besonderen Merkmale der Wissensproduktion in Reallaboren in Relation zu deren Zielsetzung (funktionalem Sinn) und Herangehensweise (funktionaler Struktur) erfasst. Dabei treten wichtige demokratiepolitische Herausforderungen zutage, die adressiert werden sollten, wenn Reallabore einen Beitrag zur Großen Transformation leisten sollen.

Living Labs are heralded as important institutions for transdisciplinary and transformative research to meet the challenges of our time. Despite these high expectations regarding the knowledge developed in and through Living Labs, important epistemological and political questions have so far remained unaddressed. Therefore, this article examines 22 Living Labs that deal with local, urban or regional development and operate in the context of RWTH Aachen University. The analysis categorizes the different Living Labs with respect to their spatial and socio-institutional order and examines the characteristics of knowledge production in Living Labs in relation to their objective (functional sense) and approach (functional structure). The discussion reveals democratic challenges that ought to be addressed if Living Labs are supposed to contribute to the Great Transformation.

Reallabore: Hoffnungen, Erwartungen und Herausforderungen

Im Kontext von verantwortungsvoller (Grunwald 2014: 274) oder missionsorientierter Forschung und Innovation (Mazzucato 2018: 4), wird von der Wissenschaft erwartet, dass sie hilft, die Große Transformation hin zu einer nachhaltigen Zukunft zu begleiten und zu unterstützen (Schneidewind et al. 2016; WBGU 2011). Unter anderem werden der Klimawandel, ungezügelte Ressourcennutzung (Seibert und Rees 2021) und schwindende Biodiversität (Bradshaw et al. 2021) als drängende Probleme unserer Zeit angesehen, die ein konzertiertes Handeln von Akteuren aus allen gesellschaftlichen Bereichen erfordern. Gesellschaftliche Transformationsprozesse sind komplex (Waddock et al. 2015) und erfordern neues beziehungsweise anderes Handeln, Wissen, Framing und Organisieren (Pel et al. 2020). Als Ausdruck eines neuen Deals zwischen Wissenschaft und Gesellschaft (Lieven und Maasen 2007) werden Reallabore oft als vielversprechende Plattformen für transdisziplinäre Forschung zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen gesehen. So bewarb das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie Reallabore als „neues wirtschafts-, innovations- und digitalisierungspolitisches Instrument“, um sozio-technische Innovationen in „zeitlich und räumlich begrenzten Testräumen“ zu entwickeln und zu erproben (BMWi 2018: 1). Außerdem hat der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen den Kommunen ans Herz gelegt, „Freiräume und Experimentierfelder für Pioniere des Wandels“ zu schaffen und sich selbst als mögliche Pioniere zu verstehen (WBGU 2011: 316).

Wie die Vielfalt der Protagonist:innen und Unterstützer:innen vermuten lässt (Schäpke und Stelzer et al. 2018; Defila und Di Giulio 2018; Parodi und Beecroft 2021), unterscheiden sich Reallabore als neue Form des Experiments auf der Suche nach nachhaltigen Lösungen (Caniglia et al. 2017) stark in ihrem spezifischen Fokus und Ansatz. Gemeinsam sind ihnen jedoch offene Innovationsprozesse (Leminen et al. 2012), die das Co-Design, die Co-Produktion und die Co-Evaluation von Wissen (Wanner et al. 2018) durch maßgeschneiderte Kommunikations- und Kollaborationsstrategien in bestimmten räumlichen und zeitlichen Settings beinhalten (Bergmann et al. 2021). Kennzeichnend ist zudem der Anspruch, Transformationsprozesse in Reallaboren anzustoßen und wissenschaftlich zu begleiten (Trenks et al. 2018). Eine einheitliche Definition von Reallaboren beziehungsweise Living Labs gibt es in diesem breiten, inter- und transdisziplinären Forschungs- und Praxisfeld nicht. Dennoch – oder deswegen – erfreut sich dieser intuitiv verständliche Begriff großer Beliebtheit und wird inzwischen für viele verschiedene Vorhaben verwendet, die mit nachhaltiger, sozio-technischer Innovation befasst sind und die Kollaboration verschiedener Akteure beinhalten (Compagnucci et al. 2021). Für ein besseres Verständnis und eine historische Einordnung des Phänomens Reallabor wird im Folgenden eine Kurzübersicht über die verschiedenen kursierenden Begrifflichkeiten und ihre Historie gegeben:

  • Genutzt wurde der Begriff Living Laboratory wohl zuerst von Thomas Knight im Jahre 1749, um zu beschreiben, dass sowohl (ein) Körper als auch die Umgebung für ein Experiment von Relevanz sind (Leminen und Westerlund 2019).
  • Das US-amerikanische Institute for Motivational Research unterhielt in den 1950er Jahren ein Living laboratory, um Zuschauerreaktionen auf Fernsehwerbung zu analysieren. Zur Datenerhebung wurden dabei sowohl fotografische Aufnahmen durch eine versteckte Kamera als auch Ergebnisse von Fokusgruppen mit Proband:innen genutzt (Leminen und Westerlund 2019; Billboard TV Commercials Quarterly 1956).
  • Das Frankfurter Küchen Projekt der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky in den 1920er Jahren und das Street Life Projekt des Journalisten William H. Whyte in den 1970ern, bei denen jeweils raumgebundene Bewegungsabläufe erfasst und analysiert wurden, inspirierten wohl die ersten häuslich-anmutenden, aber mit High-Tech ausgestatteten und der Mensch-Maschine-Interaktion gewidmeten Living Labs in den USA in den 1990ern (Alavi et al. 2020) und in Europa in den frühen 2000ern. Zu den Pionieren in den USA gehörte das Massachusetts Technology Institute (MIT) und in Europa die finnische Firma Nokia (Leminen und Westerlund 2019).
  • Bereits in den 1990er Jahren wurde der Begriff Living Lab(oratory) auch für Multi-Stakeholder Projekte und Prozesse genutzt, die sich mit komplexen Problemen von globaler oder zumindest regionaler Relevanz in lokalen Settings befassten, zum Beispiel in Nachbarschaften oder Quartieren (Leminen und Westerlund 2019).
  • Auf politischer Ebene hielt der Begriff durch das European Network of Living Labs (ENoLL) Einzug, welches im November 2006 unter der Schirmherrschaft der finnischen Präsidentschaft ins Leben gerufen wurde (European Commission 2016). Ziel war es, offene und co-kreative Innovationsökosysteme und -praktiken zu fördern (ENoLL).
  • In Deutschland wird seit den 2010er Jahren, vor allem seit dem ersten umfassenderen, durch das baden-württembergische Forschungsministerium geförderte, Reallaborforschungsprogramm (Schneidewind 2014) oftmals der Begriff des Reallabors für transdisziplinäre, transformative (Forschungs-)Projekte in realen Settings genutzt (Parodi et al. 2016; Beecroft 2018).
  • Verwandte gebräuchliche Begriffe betonen bestimmte Dimensionen der realweltlichen, experimentellen, transformativen und transdisziplinären Arbeit in Reallaboren, wie zum Beispiel das regulatorische Experimentieren in Regulatory Sandboxes (BMWK) oder den sektorübergreifenden Wandel in sogenannten Transition Labs. Für Living Labs mit einem stadtplanerischen Fokus hat sich der Begriff der Urban Labs beziehungsweise der Urbanen Reallabore etabliert (Schneidewind 2014).
  • Der Begriff des Reallabors wurde im Rahmen eines Special Issues mit einem Fokus auf transdisziplinäre Transformationsforschung der Forschungszeitschrift GAIA als Real-world Laboratory (Schäpke und Bergmann et al. 2018) ins Englische übersetzt, wird allerdings bisher ausschließlich in der deutschsprachigen Forschungsgemeinschaft genutzt. International ist weiterhin der Begriff der Living Labs gebräuchlich. Diese Begebenheit begründet auch die Divergenz zwischen dem deutsch- und dem englischsprachigen Titel dieses Beitrags.

Die Geschichte des Phänomens Reallabor macht deutlich, dass eine allgemeingültige Definition des Begriffs weder existiert noch erstrebenswert zu sein scheint.

Stattdessen lassen sich aus der umfassenden sozial- und geisteswissenschaftlichen Begleitforschung typische Charakteristiken von Reallaboren herauskristallisieren, wie zum Beispiel ihre transdisziplinäre Forschungsorientierung, ihr Bildungsbezug, ihre transformative und normative Ausrichtung (insbesondere auf Nachhaltigkeit) sowie ihr auf Skalierbarkeit abzielender Modell- und Laborcharakter (Parodi und Beecroft 2021). Neben vielen Reallaboren mit einem normativen Fokus auf Nachhaltigkeit finden sich in der Praxis ebenfalls viele, die primär Transformationsprozesse im Bereich Digitalisierung anstoßen und begleiten sollen (Böschen et al. 2021). Im Allgemeinen zeichnet Reallabore der Einbezug heterogener Stakeholdergruppen in offene Innovationsprozesse aus, die mit Produkten, Dienstleistungen, Geschäftsmodellen (Hossain et al. 2019), Technologien, gesetzlichen Richtlinien, alltäglichen Verhaltensweisen oder Planungsprozessen befasst sein können.

Anhand solcher Charakteristiken wird eine Einordnung verschiedener praktischer Ausprägungsformen von Reallaboren möglich und erlaubt eine systematische Diskussion, inwieweit Reallabore einen Beitrag zu evidenzbasierten und demokratischen Wandel leisten beziehungsweise leisten können. Mit einem Fokus auf Reallabore in den Bereichen Orts-, Stadt- und Regionalentwicklung beleuchtet dieser Beitrag deswegen wissens- und demokratiebezogene Aspekte der Arbeit in Reallaboren. Der Fokus bietet sich an, da Reallabore gerade in diesem Kontext als transformatives und transdisziplinäres Forschungs- und Kollaborationsformat etabliert wurden (Schneidewind 2014; Engels und Walz 2018; Nesti 2018). Die Vielzahl der in den letzten Monaten und Jahren entstandenen Projekte und Einrichtungen an und um die RWTH Aachen, die sich mit lokalen und regionalen Transformationsprozessen in der Produktion, der Stadt- und Landschaftsplanung, der Mobilität, des Arbeitens, des Wohnens und des (Zusammen-)Lebens befassen, verfolgen einen transdisziplinären Ansatz. Sie zeugen ebenfalls von der Etablierung des Begriffs Reallabors beziehungsweise den damit einhergehenden Innovationsansätzen im Kontext der Orts-, Stadt- und Regionalentwicklung.

Die übergeordnete Frage dieses Beitrags ist demnach, in wie weit Reallabore, die sich mit Orts-, Stadt- und Regionalentwicklung befassen, einen Rahmen für evidenzbasierten, demokratischen Wandel bieten. Nach einem kurzen Überblick über das methodische Vorgehen werden die empirischen Daten in drei Schritten analysiert. Zunächst werden 22 Reallabore in Bezug auf ihre räumliche Ordnung untersucht und anhand verschiedener Transdisziplinaritätsgrade typologisiert, um einen generellen Einblick in die sozio-institutionellen Arrangements innerhalb der einzelnen Reallabore zu gewinnen. Aufbauend auf diese Einordnung werden anschließend die Merkmale verschiedener, in Reallaboren aktuell vorfindlichen Evidenzkulturen beleuchtet. Die so gewonnenen Einblicke in die Settings, Prozesse und Strukturen, die der Co-Produktion von Wissen in Reallaboren zugrunde liegen, münden schließlich in eine Diskussion der demokratiepolitischen Herausforderungen für die Arbeit in und mit Reallaboren.

Reallabore unter der Lupe: 22 Fallstudien des RWTH Living Labs Incubators

Um die Methoden und Prozesse der Wissensproduktion und die demokratiepolitischen Herausforderungen in Reallaboren, die sich mit Orts-, Stadt- oder Regionalentwicklung befassen, empirisch zu untersuchen, wurden 22 Fallstudien von Projekten beziehungsweise Plattformen mit diesem Fokus untersucht, die an der RWTH Aachen angesiedelt sind beziehungsweise die RWTH Aachen als Projektpartnerin beinhalten oder in anderer Form mit ihr kollaborieren. Die Untersuchung wurde durch den Living Labs Incubator, einer Maßnahme im Rahmen der Exzellenzstrategie der RWTH Aachen (2019–2026), angefertigt. Die inkludierten Projekte und Plattformen unterscheiden sich in Bezug auf ihre spezifische thematische Ausrichtung (Abbildung 1), ihre Methodik sowie ihr institutionelles Setup. Bei der Selektion der untersuchten Reallabore diente der Vorschlag von Ballon und Schuurman (2015) als Orientierung, sich zum Verständnis des Phänomens Reallabor konkrete Beispiele anzusehen, auch wenn sie nicht den Namen Reallabor oder Living Lab tragen. Als Auswahlkriterien dienten demnach ein mehr oder weniger starker Fokus auf das Thema nachhaltige Transformation, ein transdisziplinärer Forschungsansatz mit klarer Orientierung in Richtung Erprobung, Anwendung, Lernen und Einbettung der Arbeit in Multi-Stakeholder Aktivitäten sowie ein Raumbezug. Dabei steht, wie in Abbildung 1 zu sehen, der Raumbezug zu Orts-, Stadt- und Regionalentwicklung zentral und ist gleichzeitig eine thematische Überschneidung mit anderen Themenbereichen gegeben. Weiterführende Informationen zu den einzelnen Reallaboren, beispielsweise Angaben zu Zielsetzung, Laufzeit und Projektbeteiligten, finden sich in den jeweiligen Steckbriefen auf der Webseite des Living Labs Incubators (LLI 2021).

Die grafische Darstellung zeigt, dass alle der 22 berücksichtigten Reallabore den Themengebieten Orts-, Stadt- und Regionalentwicklung sowie Nachhaltigkeit und Klimawandel zugeordnet werden können. Andere relevante und sich oftmals überschneidende Themengebiete sind Digitalisierung, Energie und Ressourcen sowie Mobilität.
Abbildung 1: Thematisch sortierte Übersicht über die 22 Fallstudien. Quelle: Eigene Darstellung.

Zu jedem Reallabor beziehungsweise Projekt mit transdisziplinärem, experimentellem und transformativem Charakter wurden leitfadenbasierte Gespräche mit zentral involvierten Forschenden geführt. Der Interviewleitfaden konzentrierte sich auf die Zielsetzung, die methodische Herangehensweise und die räumliche und sozio-institutionelle Organisation der Reallabore. Außerdem wurden Fragen zu Herausforderungen, zur Datenerfassung und -analyse sowie zur Evaluierung gestellt. Die Interviews wurden von März bis November 2021 und aufgrund der Covid-19 Pandemie zumeist online via Zoom geführt und dauerten im Schnitt 60 Minuten. Die Transkripte wurden softwaregestützt mithilfe von AmberScript angefertigt und manuell überarbeitet.

Eine Klassifizierung von Reallaboren anhand von Transdisziplinaritätsgraden

Da es viele sich oftmals stark unterscheidende Projekte und Initiativen gibt, die sich Reallabor nennen beziehungsweise die Reallaborcharakter haben, wurden bereits einige Versuche unternommen, Ordnung in die Vielfalt zu bringen. Eine Klassifizierung aus dem Bereich Mensch-Maschine-Interkation unterscheidet zum Beispiel visited places, instrumented places, instrumented people und lived-in places und basiert darauf, ob Orte oder Menschen zwecks Datenerfassung mit Sensorik ausgestattet werden und ob die jeweiligen Orte temporär oder permanent von Teilnehmenden genutzt werden. In dieser Klassifizierung wird der Reallabortypus der innovation spaces (Tabelle 1) ergänzend erwähnt, der verschiedene Stakeholder aktiv in Innovationsprozesse einbindet (Alavi et al. 2020). Diesem letzten Typ ähneln viele der hier diskutierten Reallabore. Auch wenn diese Klassifizierung nur einen Teil der Reallaborforschung erfasst, zeigt sie unter anderem auf, dass nicht-akademische Akteur:innen, je nach dem Setup eines Reallabors und abhängig von den jeweils angewandten Methoden der Datenerhebung und Kollaboration, mehr oder weniger aktiv in Reallaborprozesse eingebunden sein können.

Tabelle 1: Fünf Reallabortypen im Bereich Mensch-Maschine Interaktion im Vergleich.
Quelle: Basierend auf Alavi et al. (2020: 19).

In der Begleitforschung zu Reallaboren werden schon seit einiger Zeit unterschiedliche Methoden, Formate und Strukturen für die aktive Einbindung nicht-akademischer Akteure diskutiert (Defila und Di Giulio 2019). Eine Einordnung der hier betrachteten Reallabore anhand ihrer unterschiedlichen Ausprägung von Transdisziplinarität nach Defila et al. (2006) zeigt, dass Reallabore, an denen die RWTH Aachen beteiligt ist, in der Praxis durchweg einen Rahmen für transdisziplinäre Forschung bieten (Tabelle 2). Dabei werden die verschiedenen Transdisziplinaritätsgrade daran bemessen, ob Praxisakteure als externe Beteiligte oder sogar als gleichberechtigte Mitglieder des Projektteams an der Forschung beteiligt sind (Defila und Di Giulio 2019). Auffällig ist, dass der Großteil der Reallabore (17/22) bereits transdisziplinär angelegt ist, da Partner aus Wissenschaft und Forschung mit Praxispartnern aus der Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft in einem Konsortium kollaborieren. Die übrigen fünf Reallabore werden zwar nicht von transdisziplinär angelegten Konsortien getragen, sind aber dennoch mehr oder minder transdisziplinär ausgerichtet, weil sie entweder längerfristige Kollaborationen mit Praxispartnern eingegangen sind (Mittelstadt als Mittmachstadt) beziehungsweise anstreben (Blockchain Reallabor), oder einen regelmäßigen Austausch mit Praxispartnern planen oder bereits pflegen (Urban Energy Lab 4.0) oder weil sie partizipative Methoden einsetzen, um Erfahrungen und Erwartungen von Nutzer:innen oder Bürger:innen einzufangen (Living Lab Energy Campus, Rainwater Living Lab).

Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch die zeitliche Dimension. Während alle Reallabore bereits früh im Prozess mit Praxispartner:innen aus der Wirtschaft oder dem öffentlichen Sektor kollaborieren, findet die Einbindung von Nutzer:innen beziehungsweise Bürger:innen zu sehr unterschiedlichen Zeiten im Projektverlauf statt. In vielen Fällen ist Partizipation ein zentrales Element des Reallabors und co-kreative Prozesse finden sich über den gesamten Projektverlauf verteilt (ACademie der kollaborativen Stadtentwicklung, CoProGrün, KlimaNetze, OecherLab, proGIreg, Reallabor Templergraben, Reallabor Theaterplatz). Manche Reallabore involvieren Bürger:innen beziehungsweise (potenzielle) Nutzer:innen durch zielgerichtete Informationsveranstaltungen, Workshops oder Umfragen (Living Lab Energy Campus, OecherLab, Rainwater Living Lab). Für wieder andere steht das praktische Ausprobieren und Verbessen technischer Innovationen im möglichst realen Anwendungskontext an erster Stelle. Interessierte Bürger:innen können sich online oder vor Ort informieren beziehungsweise werden zum Ende des Projektabschluss über Erfahrungen und Ergebnisse informiert (ACCorD, Aldenhoven Testing Center, Reallabor Nivelstein, Reallabor Tiefengeothermie Rheinland).

Tabelle 2: Einordnung der 22 Reallabore anhand von Transdisziplinaritätsgraden im Forschungsmanagement basierend auf Defila et al. (2006).

Vor dem Hintergrund dieser grobkörnigen Erfassung von Transdisziplinaritätsgraden stellt sich die Frage, in welchen Konstellationen Akteure aus Wissenschaft beziehungsweise Forschung, Wirtschaft, Gesellschaft und dem öffentlichen Sektor in die jeweiligen Reallaborprozesse eingebunden sind. Es zeigt sich, dass wenn wissenschaftliche Akteur:innen ein Reallabor alleine koordinieren, es entweder das dezidierte Ziel des Reallabors ist, eine Kollaboration mit nicht-wissenschaftliche Akteuren einzugehen, oder diese bei der Beantwortung mancher Fragestellungen, zum Beispiel bezüglich Erwartungshaltungen, Nutzungsmöglichkeiten oder -verhalten zurate zu ziehen beziehungsweise zu beobachten. Wenn sich nun verschiedene Akteursgruppen die Koordination eines Reallabors in einem Doppel, Triple- oder Quadrupelhelix Arrangement (Compagnucci et al. 2021) teilen, lassen sich drei Arten von Reallaboren unterscheiden:

  1. Reallabore, an denen Forschung, Wirtschaft und zumeist auch der öffentliche Sektor beteiligt sind, die die Öffentlichkeit über Pläne, Fortschritt und Resultate informieren (zum Beispiel ACCorD, Aldenhoven Testing Center, Reallabor Nivelstein, Reallabor Tiefengeothermie),
  2. Reallabore, an denen Forschung, Wirtschaft und zumeist auch der öffentliche Sektor beteiligt sind, die Privatpersonen als (mögliche) Nutzer:innen involvieren (zum Beispiel SmartQuart, TransUrban.NRW, Waldlabor Köln) und
  3. Reallabore, die Privatpersonen als Bürger:innen involvieren (zum Beispiel CoProGrün, KlimaNetze, Living CoastLab).

Diese Unterscheidungen zeigen zum einen auf, dass Reallabore in der Praxis zwar zumeist Vertreter:innen aller relevanten Akteursgruppen berücksichtigen, aber nicht alle Akteursgruppen gleichermaßen in Entscheidungs- und somit Entwicklungsprozesse eingebunden sind. Stattdessen lässt sich eine Korrelation zwischen der Herangehensweise (funktionalen Struktur) und Zielsetzung (funktionalen Sinn) von Reallaboren feststellen:

  1. Reallabore der 1. Art zielen auf technische Optimierung ab und werden oftmals zusätzlich zur Technikkommunikation genutzt. Innerhalb eines eng gesteckten institutionellen Rahmens wird experimentiert, um technische Reifegrade zu verbessern und Möglichkeiten für eine Markteinführung beziehungsweise großflächige Anwendung zu evaluieren.
  2. Reallabore der 2. Art nutzen partizipative Methoden, um neben der zentralen Arbeit des Konsortiums an technischen Innovationen und gegebenenfalls nötigen Neuerungen in der institutionellen Rahmung, die gesellschaftliche Einbettung zu verbessern, zum Beispiel in Bezug auf Nutzbarkeit. Die (technischen) Lösungen zu einem definierten Problem werden vorab entweder durch das Konsortium oder Fördernde definiert.
  3. Reallabore der 3. Art befassen sich vornehmlich mit sozialer Innovation, welche in manchen Fällen die Co-Kreation technischer Innovationen beinhaltet. In diesem Kontext werden sowohl die genauen, lokal-spezifischen Konturen des zu lösenden Problems deliberativ erörtert, sowie Möglichkeiten der institutionellen, organisatorischen oder technischen Lösung co-kreativ erarbeitet. So entwickelte Lösungen sind vielfach nur bedingt für andere Lokalitäten oder Kontexte geeignet.

Die Unterscheidung von Reallaboren anhand von Transdisziplinaritätsgraden ist eine Möglichkeit, um Grenzziehungen, die sich in Reallaboren vollziehen, sichtbar zu machen.

So treten Unterschiede in Akteurskonstellationen und deren Begründung im funktionalen Sinn und in der funktionalen Struktur von Reallaboren deutlicher zu Tage. Die Implikationen dieser Unterschiede im Hinblick auf Merkmale der Wissensproduktion in Reallaboren werden im Folgenden erörtert.

Wissensproduktion in Reallaboren

Eine wichtige Frage stellt sich in Bezug auf einen Kernzweck von Reallaboren: die Gewinnung neuen Wissens. Bisher beleuchtete die sozialwissenschaftliche Begleitforschung die Wissensproduktion in Reallaboren vor allem in Bezug auf Kollaborations- und Kommunikationsmethoden (Bergmann et al. 2021; Wanner et al. 2018; Pohl et al. 2010). Sie ließ dabei Besonderheiten des in und durch Reallabore gewonnenen Wissens samt seiner epistemischen Qualität weitestgehend außer Acht. Die zentralen Unterscheidungsmerkmale von Reallaboren, wie ihre Zielsetzung und ihr Setup, lassen vermuten, dass sich die Wissensproduktion auch jeweils unterschiedlich vollzieht. Zunächst sollen aber Gemeinsamkeiten der verschiedenen praktischen Ausprägungen des Phänomens Reallabor beleuchtet werden. In der Wissenschafts- und Technikforschung unterscheidet man verschiedene Wissenskulturen (Knorr-Cetina 2011; Zittel 2014), die beispielsweise hinsichtlich ihrer Praktiken der Konstruktion von Evidenz charakterisiert werden können (Böschen 2013; Collins 1998). Was als Evidenz gewertet und was als Wissen validiert wird, ist dabei ein sozialer Aushandlungsprozess zwischen direkt beteiligten und anderen Akteuren und hängt zum einen von der Struktur wissenschaftlicher Disziplinen (Böschen 2013) und zum anderen von Arbeitsteams und Ressourcen ab (Knorr-Cetina 2011).

Die grundsätzlich transdisziplinäre Ausrichtung von Reallaboren bedingt, dass in diesem Kontext neue Evidenzkulturen entstehen können. Diese beinhalten – aufbauend auf den von Böschen (2013) skizzierten Merkmalen von Evidenzkulturen – die Integration heterogener Wissensbestände aus Wissenschaft und Praxis (Grunwald et al. 2020). Da manche Reallabore fast geschlossene Systeme darstellen (wie die eingangs erwähnten visited places oder instrumented places (Alavi et al. 2020)), während andere in eher offenen Systemen arbeiten (lived-in places oder innovation spaces (Alavi et al. 2020)), unterscheidet sich die Kontrolle über das jeweils betrachtete System und somit die mögliche oder berücksichtigte Menge von Einflussfaktoren auf beobachtete oder gemessene Effekte. Demnach ist das zentrale Evidenzkriterium der soziale Konsens (Pinch und Bijker 1984) über Wirkungspotenziale oder sogar Wirksamkeit (Grunwald et al. 2020) in Bezug auf eine Vielzahl von Effekten. Dies können Effizienzeffekte, Lerneffekte, Nachhaltigkeitseffekte oder Netzwerkeffekte sein (Grunwald et al. 2020). Die wichtigsten Merkmale einer co-kreativen Evidenzkultur sind in Tabelle 3 neben den bereits identifizierten Evidenzkulturen (Böschen 2013) aufgeführt.

Tabelle 3: Evidenzkulturen nach Böschen (2013), ergänzt um eine co-kreative Evidenzkultur.
Quelle: Eigene Darstellung.

Die oben anhand ihrer Transdisziplinaritätsgrade unterschiedenen Reallabore weisen auch aufschlussreiche Unterschiede in der Wissensproduktion auf. So arbeiten Reallabore der 1. Art in relativ geschlossenen Systemen, die aufgrund begrenzten Zutritts beziehungsweise erlaubten Zutritts nur für „certified experts“ (Defila und Di Giulio 2018) einen hohen Grad an Sicherheit bieten, und die festgelegte Verfahren und Maßstäbe anwenden, um Funktionalität, Effektivität und Effizienz neuer technischer Komponenten zu bemessen:

Fahrzeuge oder ähnliche Mobilitätslösungen können potenziell gefährliche Maschinen sein. Sie können erst dann in den öffentlichen Verkehr gebracht werden, wenn man wirklich sicher ist, dass sie die technische Reife dazu haben. Dafür gibt es Umgebungen wie eben bei uns am Aldenhoven Testing Center. Ein weiterer Grund ist die Reproduzierbarkeit von Tests. Bis auf die Witterung kann man immer wieder unter sehr gleichen Bedingungen testen, um herauszufinden: „Bin ich besser oder schlechter geworden?“.

Dipl.-Ing. Micha Lesemann, Geschäftsführer des Aldenhoven Testing Centers

Gegenüber den ganz oder relativ geschlossenen Systemen, ähnlich den visited places und instrumented places (Alavi et al. 2020), wie sie in Reallaboren dieser Art genutzt werden, finden die Aktivitäten der Reallabore der 2. Art in halb oder ganz offenen Systemen, wie zum Beispiel in Wohnungen, Quartieren (SmartQuart, TransUrban.NRW) oder Parks (Waldlabor Köln) statt. Diese werden im Alltag als lived-in places (Alavi et al. 2020) genutzt und im Rahmen der Projekte besonders gestaltet oder mit neuer Technik und Funktionalität ausgestattet. Die Wissensproduktion zeichnet sich hier durch einen Multi-Methoden-Ansatz aus, der darauf abzielt, heterogene Wissensbestände zu integrieren, um sich bewährende Technologien oder räumliche Arrangements großflächiger in die Anwendung zu bringen:

Im Rahmen des Reallabors SmartQuart kommen neue Technologien wie die Verwendung von Wasserstoff zur Anwendung. Im realen Umfeld werden innovative Konzepte zur klimaeffizienten Energieversorgung von Gebäuden und Quartieren, inklusive Mobilität, erprobt und umfassend untersucht. Eine interdisziplinäre Arbeitsweise ist dabei unerlässlich.

Univ.-Prof. Dr.-Ing. E. Beusker zu dem Projekt SmartQuart, dem ersten durch das damalige BMWi geförderten Reallabor der Energiewende

In den innovation spaces (Alavi et al. 2020) der Reallabore der 3. Art entfalten sich hingegen co-kreative Prozesse in offenen Systemen. Zumeist werden alle Interessierten eingeladen, den Prozess mitzugestalten. Dabei entstehen auf den lokalen Kontext passgenau zugeschnittene Ideen und Lösungen:

Nach dieser ersten Ansprache gab es verschiedene Börsenveranstaltungen. Wir sind mit einer Ideen-Börse gestartet, wo alle Akteure aus den unterschiedlichsten Gruppen zusammengekommen sind und erst mal diskutiert haben, sowohl in offenen Runden als auch in Ideenrunden, die wir auf Grundlage der Diskussion definiert haben […]. Die so entstandenen Ideen haben wir als Projektinitiatoren dann weiterentwickelt und thematisch geclustert. Anschließend haben wir thematische Workshops mit Gruppen organisiert, die sich genau für dieses Thema interessierten und dazu auch externe Experten eingeladen […]. Dann gab es einen Prozess, bei dem unsere Akteure vor Ort, also NGO, Verwaltung, Landwirtschaftsuniversität und Landwirtschaftskammer, die Gruppen, die an den konkreten Projekten, die sich langsam herauskristallisierten, arbeiteten, vor Ort gecoacht und bei der Weiterentwicklung unterstützt haben. […] Dann hatten wir die Projekt-Börse, bei der wieder alle Akteure zusammengekommen sind und in einem von uns unterstützten Format ihre Projekte vorgestellt und sich ausgetauscht haben […]. Die Projekte wurden dann letzten Endes zu Machbarkeitsstudien weiterentwickelt. Am Projektende fand noch mal eine Projekt-Plattform statt, auf der dann die fertig entwickelten oder auch schon in Umsetzung befindlichen Einzelprojekte vorgestellt wurden.

Dr.-Ing. A. Timpe zum vom BMBF geförderten Projekt CoProGrün – Co-produzierte Grünzüge als nachhaltige kommunale Infrastruktur

Dieser Vergleich der Wissensproduktion in unterschiedlichen Reallaboren bestätigt die Beobachtung, dass sich Reallabore in Spannungsfeldern zwischen kontrolliertem Experimentieren und offener Co-Kreation sowie zwischen lokaler Einbettung und der Entwicklung transferier- beziehungsweise skalierbaren Lösungen bewegen (Engels et al. 2019). Somit wird deutlich, wie sich die verschiedenen Arten und Aufgaben von Reallaboren entlang eines Spektrums bewegen. Zwar steht immer das Ziel im Mittelpunkt, Innovationen bis zur Implementierung oder zumindest Implementierbarkeit reifen zu lassen, allerdings variiert die Offenheit der Systeme, in denen experimentiert wird. Mit dem Öffnungsgrad des Systems verändern sich auch die zugelassene beziehungsweise betrachtete Menge der Einflussfaktoren und somit der Grad der Kontextspezifizität der entstehenden Innovationen. Je offener Experimentierräume sind, desto mehr werden Rahmenbedingungen als gegeben betrachtet und können lokale Einflüsse auf den Innovationsprozess und sein Ergebnis wirken. Umgekehrt ermöglichen es geschlossenere Systeme, sowohl mit technischen Innovationen als auch mit – für die jeweilige Innovation – idealen Rahmenbedingungen zu experimentieren. Insofern steht der Öffnungsgrad der Experimentierräume im Bezug zur angestrebten Transferier- und Skalierbarkeit.

Anhand der hier betrachteten 22 Beispiele lässt sich feststellen, dass Reallabore, die einen engen Orts- oder Stadtbezug haben, oftmals als offene Experimentierräume gestaltet sind, die den örtlichen Kontext als gegeben nehmen und auf den Innovationsprozess und sein Ergebnis wirken lassen. Derweil wird in Reallaboren, die einen regionalen oder sogar nationalen Fokus haben, der Versuchsaufbau beziehungsweise die Intervention, inklusive Problemdefinition, möglicher technischer Lösung(en) und zugelassener Einflussfaktoren, stärker vorgegeben.

Folglich laufen in Reallaboren, in denen transferier- und skalierbare Innovationen entwickelt werden sollen, eingeschränktere Prozesse in geschlosseneren Systemen ab, während Reallabore mit engem Ortsbezug zumeist offener gestaltet sind.

In der Beobachtung, dass Innovationen, die auf Skalierung ausgerichtet sind, Bürger:innen eher als Nutzer:innen involviert werden und innovative Lösungen nicht co-kreativ entwickelt, sondern allenfalls partizipativ evaluiert werden, tritt die demokratiepolitische Bedeutung der Grenzziehung um Reallabore deutlich zu Tage. Dieser Aspekt soll im Folgenden diskutiert werden.

Demokratiepolitische Herausforderungen in Reallaboren

Mit der transformativen Ausrichtung von Reallaboren stellt sich auch die Frage nach ihrer demokratiepolitischen Einbettung. Gehandelt als Partizipationsplattformen für offene Innovationsprozesse (Gascó 2017; Leminen et al. 2012), ermöglichen Reallabore theoretisch ein opening up (Stirling 2008) der sozio-technischen Entwicklung. Es besteht unter anderem die Möglichkeit, die in der Forschung, Entwicklung und Planung technischer Infrastrukturen (zum Beispiel im Energiesystem) oftmals eng gezogenen Systemgrenzen (Grunwald 2019) in Reallaboren so zu ziehen, dass Partizipation zu akzeptierter und mitgetragener Transformation führen kann. Dies wird möglich, da Nutzen und Lasten von Innovationen eher erkannt und ihre Verteilung gerechter gestaltet werden können. In wie weit wird also das Forschungs- und Kollaborationsformat Reallabor dazu genutzt, um zukunftsgerichtete Entscheidungen deliberativ und demokratisch herbeizuführen?

Nun steht der Anspruch, in und durch Reallabore sozial robustes Wissen (Nowotny 2000) für nachhaltige Entwicklung hervorzubringen, der Beobachtung gegenüber, dass die – sowohl in Bezug auf ihr Budget als auch in Bezug auf den möglichen Transfer beziehungsweise die Hochskalierung ihrer Ergebnisse – größeren Reallabore von Konsortien gelenkt werden, an denen Bürger:innen nicht als Entscheidungsträger:innen beteiligt sind. Diese größeren Reallabore gehören zu den identifizierten 1. und 2. Arten, die die Öffentlichkeit lediglich informieren oder mithilfe partizipativer Evaluationsmethoden als Nutzer:innen involvieren. Des Weiteren hat diese Art von Reallaboren zumeist einen regionalen oder sogar nationalen Fokus (beispielsweise die Energiewende oder die Mobilitätswende), konzentriert sich auf Technologieentwicklung und basiert auf Kollaborationen zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und oftmals auch dem öffentlichen Sektor. Diese Beobachtungen passen zu den Ergebnissen jüngerer Reallaborforschung, die deren „techno-ökonomische Innovationorientierung“ (Wagner und Grunwald 2019) und eine Reihe damit einhergehender Aspekte kritisiert:

Living lab initiatives have attracted considerable criticism, echoing in part well-known critiques of scientism from STS and beyond. Some of the main lines of critique concern the surrender of public space to commercial interests; the creation of material lock-ins through the weight of flagship demonstration projects; the fabrication of new inequalities and potential threats to democracy under the guise of openness and inclusion; a lack of attention to problems of risk governance and consent for emerging technologies; unclear ethical ramifications on large-scale public experimentation; and misguided promises of ready-made transferability and scalability.

(Pfotenhauer et al. 2021: 13)

Zugleich wurden die demokratischen Defizite kommerzialisierter Hochschulen und Universitäten bereits angemahnt (Scholz 2020) und anhand von einigen mit digitalen Innovationen befassten Reallaboren aufgezeigt (Böschen et al. 2021). Verbunden mit der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe, den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen und dabei Kosten und Nutzen der Großen Transformation gerecht zu verteilen (Klinsky und Golub 2016), stellt sich die Frage, ob Reallabore überhaupt den adäquaten Rahmen für das oft als erstrebenswert erachtete opening up (Stirling 2008) der Technologieentwicklung bieten können.

Reallabore, die mit der Großen Transformation oder den negativen Auswirkungen des aktuellen Wirtschaftssystems buchstäblich vor Ort befasst sind, zeigen diesbezüglich Möglichkeiten auf.

Hier treten öffentliche Institutionen in den direkten Kontakt mit der lokalen Bevölkerung und es werden Lösungen in Zusammenarbeit mit Akteur:innen aus Wissenschaft und Wirtschaft entwickelt und erprobt.

Wichtig ist hierbei, dass der Prozess der Co-Kreation bereits beim Co-Design ansetzt und die Bürgerschaft oftmals an Ausschreibungen, Anträgen, und Auswahlverfahren beteiligt ist. Gleichzeitig lassen sich diese Prozesse nicht beliebig skalieren. Deswegen wurden Innovationsparlamente als institutionelle Rahmung von Reallaboren vorgeschlagen (Böschen 2021), um über Eckpunkte oder Leitplanken der zukünftigen (nachhaltigen) Entwicklung zu entscheiden, für deren Umsetzung sich die experimentelle, transdisziplinäre Wissensproduktion und Innovation in und durch Reallabore zu bewähren scheint.

About the author(s)

Julia Backhaus, Human Technology Center, RWTH Aachen University

Stefan John, Human Technology Center, RWTH Aachen University

Stefan Böschen,
Human Technology Center & Käte Hamburger Kolleg Kulturen des Forschens, RWTH Aachen University

Ana de la Varga,
Human Technology Center & Käte Hamburger Kolleg Kulturen des Forschens, RWTH Aachen University

Gabriele Gramelsberger,
Professorin für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie, RWTH Aachen University; Ko-Direktorin des Käte Hamburger Kollegs

References

Alavi, Hamed; Lalanne, Denis; Rogers, Yvonne (2020): The Five Strands of Living Lab: A Literature Study of the Evolution of Living Lab Concepts in HCI. ACM Transactions on Computer-Human Interaction 27 (2): 1–26.

Ballon, Pieter; Schuurman, Dimitri (2015): Living labs: concepts, tools and cases. 17 (4).

Beecroft, Richard (2018): Das Reallabor als transdisziplinärer Rahmen zur Unterstützung und Vernetzung von Lernzyklen. URL: https://pub-data.leuphana.de/frontdoor/index/index/docId/1031. Zugriff am 27.04.22.

Bergmann, Matthias; Schäpke, Niko; Marg, Oskar; Stelzer, Franziska; Lang, Daniel J.; Bossert, Michael; Gantert, Marius; Häußler, Elke; Marquardt, Editha; Piontek, Felix M.; Potthast, Thomas; Rhodius, Regina; Rudolph, Matthias; Ruddat, Michael; Seebacher, Andreas und Sußmann, Nico (2021): Transdisciplinary sustainability research in real-world labs: success factors and methods for change. In: Sustainability Science 16: 541–564. DOI: https://doi.org/10.1007/s11625-020-00886-8.

Billboard TV Commercials Quarterly (1956): Motivation Research Invades Area From Viewing to Sale. The Billboard, 15. Dezember 1956, 16–18. URL: https://books.google.de/books?id=egoEAAAAMBAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false. Zugriff am 27.04.22

BMWi (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie) (2018): Reallabore als Testräume für Innovation & Regulierung.

BMWK (o.J.): Regulatory Sandboxes – Testing Environments for Innovation and Regulation. https://www.bmwk.de/Redaktion/EN/Dossier/regulatory-sandboxes.html, Zugriff am 04.05.22.

Böschen, Stefan (2013): Modes of Constructing Evidence: Sustainable Development as Social Experimentation-The Cases of Chemical Regulations and Climate Change Politics. Nature and Culture 8 (1): 74–96.

Böschen, Stefan (2021): Reallabore: Versammlungen unterschiedlicher Formen des Doing Sustainability verstehen – und gestalten. In: Soziologie der Nachhaltigkeit. transcript Verlag, 285–296.

Böschen, Stefan; Backhaus, Julia; de la Varga, Ana; John, Stefan; Gramelsberger, Gabriele (2021): Reallabore: Simulierte Experimente – Simulierte Demokratie? In: Braun, Kathrin; Kropp, Cordula (Hg.): In digitaler Gesellschaft. Neukonfigurationen zwischen Robotern, Algorithmen und Usern (1. Auflage). Bielefeld: Transkript Verlag.

Bradshaw, Corey; Ehrlich, Paul; Beattie, Andrew; Ceballos, Gerardo; Crist, Eileen; Diamond, Joan; Dirzo, Rodolfo; Ehrlich, Anne; Harte, John; Harte, Mary; Pyke, Graham; Raven, Peter; Ripple, William; Saltré, Frédérik; Turnbull, Christine; Wackernagel, Mathis; Blumstein, Daniel (2021): Underestimating the Challenges of Avoiding a Ghastly Future. In Frontiers in Conservation Science 1.

Caniglia, Guido; Schäpke, Niko; Lang, Daniel; Abson, David; Luederitz, Christopher; Wiek, Arnim; Laubichler, Manfred; Gralla, Fabienne; Wehrden, Henrik von (2017): Experiments and evidence in sustainability science: A typology. Journal of Cleaner Production 169: 39–47.

Collins, H. (1998): The Meaning of Data: Open and Closed Evidential Cultures in the Search for Gravitational Waves. American Journal of Sociology 104 (2): 293–338.

Compagnucci, Lorenzo; Spigarelli, Francesca; Coelho, José; Duarte, Carlos (2021): Living Labs and user engagement for innovation and sustainability. Journal of Cleaner Production 289: 125721.

Defila, Rico; Di Giulio, Antonietta (Hg.) (2018): Transdisziplinär und transformativ forschen: Eine Methodensammlung. Springer.

Defila, Rico und Di Giulio, Antonietta (Hg.) (2019): Transdisziplinär und transformativ forschen: Eine Methodensammlung. Wiesbaden: Springer Fachmedien, DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-27135-0.

Defila, Rico; Di Giulio, Antonietta; Scheuermann, Michael (2006): Forschungsverbundmanagement. Handbuch für die Gestaltung inter- und transdisziplinärer Projekte.

Deutscher Bundestag (2019): Drucksache 19/15103. URL: https://dserver.bundestag.de/btd/19/151/1915103.pdf, Zugriff am: 03.01.22.

Engels, Anita; Walz, Kerstin (2018): Dealing with Multi-Perspectivity in Real-World Laboratories: Experiences from the Transdisciplinary Research Project Urban Transformation Laboratories. GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society 27 (1): 39–45.

Engels, Franziska; Wentland, Alexander; Pfotenhauer, Sebastian (2019): Testing future societies? Developing a framework for test beds and living labs as instruments of innovation governance. Research Policy 48 (9): 103826.

ENoLL (o.J.): About us. URL: https://enoll.org/about-us/, Zugriff am: 3. Januar 2022.

European Commission (2016): The European Network of Living Labs (ENoLL) explained. URL: https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/news/european-network-living-labs-enoll-explained. Zugriff am: 3. Januar 2022).

Gascó, Mila (2017): Living labs: Implementing open innovation in the public sector. Government Information Quarterly 34 (1): 90–98.

Grunwald, Armin (2014): The hermeneutic side of responsible research and innovation. Journal of Responsible Innovation 1 (3): 274–291.

Grunwald, Armin (2019): Das Akzeptanzproblem als Folge nicht adäquater Systemgrenzen in der technischen Entwicklung und Planung. In: Fraune, Cornelia; Knodt, Michèle; Gölz, Sebastian; Langer, Katharina (Hg.): Akzeptanz und politische Partizipation in der Energietransformation. Gesellschaftliche Herausforderungen jenseits von Technik und Ressourcenausstattung / Cornelia Fraune, Michele Knodt, Sebastian Gölz, Katharina Langer (1. Auflage). Wiesbaden: Springer VS, 29–43.

Grunwald, Armin; Schäfer, Martina; Bergmann, Matthias (2020): Neue Formate transdisziplinärer Forschung: Ausdifferenzierte Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis. GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society 29 (2): 106–114.

Hossain, Mokter; Leminen, Seppo; Westerlund, Mika (2019): A systematic review of living lab literature. Journal of Cleaner Production 213: 976–988.

Klinsky, Sonja; Golub, Aaron (2016): Justice and Sustainability. In: Heinrichs, Harald; Martens, Pim; Michelsen, Gerd; Wiek, Arnim (Hg.): Sustainability Science. Dordrecht: Springer Netherlands, 161–173.

Knorr-Cetina, Karin (2011): Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen (2. Auflage). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Leminen, Seppo; Westerlund, Mika (2019): Living labs: From scattered initiatives to a global movement. Creativity and Innovation Management 28 (2): 250–264.

Leminen, Seppo; Westerlund, Mika; Nyström, Anna-Greta (2012): Living Labs as Open-Innovation Networks. Technology Innovation Management Review 2 (9). URL: https://timreview.ca/article/602, Zugriff am 28.04.2022

Lieven, Oliver; Maasen, Sabine (2007): Transdisciplinary Research: Heralding a “New Deal” between Science and Society? Transdisziplinäre Forschung: Vorbote eines ,,New Deal“ zwischen Wissenschaft und Gesellschaft? GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society 16 (1): 35–40.

LLI (Living Labs Incubator) (2021): Living Labs im LLI-Netzwerk. URL: www.humtec.rwth-aachen.de/LLI, Zugriff am: 05.01.22.

Mazzucato, Mariana (2018): Mission-Oriented Research & Innovation in the European Union. A problem-solving approach to fuel innovation-led growth. European Commission.

Nesti, Giorgia (2018): Co-production for innovation: the urban living lab experience. Policy and Society 37 (3): 310–325.

Nowotny, Helga (2000): Sozial robustes Wissen und nachhaltige Entwicklung. GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society 9 (1): 1–2.

Parodi, Oliver; Beecroft, Richard (2021): Reallabore als Möglichkeitsraum und Rahmen für Technikfolgenabschätzung. In: Böschen, Stefan; Grunwald, Armin; Krings, Bettina-Johanna; Rösch, Christine (Hg.): Technikfolgenabschätzung: Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos, 374–387.

Parodi, Oliver; Beecroft, Richard; Albiez, Marius; Quint, Alexandra; Seebacher, Andreas; Tamm, Kaidi; Waitz, Colette (2016): Von ‚Aktionsforschung‘ bis ‚Zielkonflikte‘: Schlüsselbegriffe der Reallaborfoschung.

Pel, Bonno; Haxeltine, Alex; Avelino, Flor; Dumitru, Adina; Kemp, René; Bauler, Tom; Kunze, Iris; Dorland, Jens; Wittmayer, Julia; Jørgensen, Michael (2020): Towards a theory of transformative social innovation: A relational framework and 12 propositions. Research Policy 49 (8).

Pfotenhauer, Sebastian; Laurent, Brice; Papageorgiou, Kyriaki; Stilgoe, And (2021): The politics of scaling. Social studies of science, 52 (1): 3-34.

Pinch, Trevor; Bijker, Wiebe (1984): The Social Construction of Facts and Artefacts: or How the Sociology of Science and the Sociology of Technology might Benefit Each Other. Social studies of science 14 (3): 399–441.

Pohl, Christian; Krohn, Wolfgang; Knobloch, Tobias; Jahn, Thomas; Bergmann, Matthias (2010): Methoden transdisziplinärer Forschung. Ein Überblick mit Anwendungsbeispielen, 1. Auflage. Frankfurt am Main: Campus Verlag GmbH.

Schäpke, Niko; Bergmann, Matthias; Stelzer, Franziska; Lang, Daniel (2018): Special Issue: Labs in the Real World: Advancing Transdisciplinarity and Transformations. In: GAIA 27 (1): 8-11.

Schäpke, Niko; Stelzer, Franziska; Caniglia, Guido; Bergmann, Matthias; Wanner, Matthias; Singer-Brodowski, Mandy; Loorbach, Derk; Olsson, Per; Baedeker, Carolin; Lang, Daniel (2018): Jointly Experimenting for Transformation? Shaping Real-World Laboratories by Comparing Them. In: GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society 27 (1): 85–96. DOI: https://doi.org/10.14512/gaia.27.S1.16

Schneidewind, Uwe (2014): Urbane Reallabore. Ein Blick in die aktuelle Forschungswerkstatt. In: pnd | online III | 2014: 19–25.

Schneidewind, Uwe; Singer-Brodowski, Mandy; Augenstein, Karoline (2016): Transformative Science for Sustainability Transitions. In: Brauch, Hans Günter (Hg.): Handbook on sustainability transition and sustainable peace: Springer, 123–136.

Scholz, Roland (2020): Transdisciplinarity: science for and with society in light of the university’s roles and functions. Sustainability Science 15 (4): 1033–1049.

Seibert, Megan; Rees, William (2021): Through the Eye of a Needle: An Eco-Heterodox Perspective on the Renewable Energy Transition. Energies 14 (15).

Stirling, Andy (2008): “Opening Up” and “Closing Down”. Power, Participation, and Pluralism in the Social Appraisal of Technology. Science, Technology, & Human Values 33 (2): 262–294.

Trenks, Helena; Waitz, Colette; Meyer-Soylu, Sarah; Parodi, Oliver (2018): Mit einer Realexperimentreihe Impulse für soziale Innovationen setzen – Realexperimente initiieren, begleiten und beforschen. In: Defila, Rico; Di Giulio, Antonietta (Hg.): Transdisziplinär und transformativ forschen: Eine Methodensammlung. Springer, 233–268.

Waddock, Sandra; Meszoely, Greta; Waddell, Steve; Dentoni, Domenico (2015): The complexity of wicked problems in large scale change. Journal of Organizational Change Management 28 (6): 993–1012.

Wagner, Felix; Grunwald, Armin (2019): Reallabore zwischen Beliebtheit und Beliebigkeit: Eine Bestandsaufnahme des transformativen Formats.In: GAIA 28 (3): 260-264.

Wanner, Matthias; Hilger, Annaliesa; Westerkowski, Janina; Rose, Michael; Stelzer, Franziska; Schäpke, Niko (2018): Towards a Cyclical Concept of Real-World Laboratories. A Transdisciplinary Research Practice for Sustainability Transitions. In: disP - The Planning Review, 54: 94–114, DOI: 10.1080/02513625.2018.1487651.

WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen) (2011): Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Berlin: WBGU.

Zittel, Claus (2014): Wissenskulturen, Wissensgeschichte und historische Epistemologie. RMSTA Internazionale di Filosofia e Psicologia 5 (1): 29–42.