Published 15.02.2021

Neuer Siedlungsbau in Deutschland

Über das Verhältnis von Wohnungsangebot und Infrastruktur

Housing and Infrastructure in New Development Areas at the Fringes of German Metropolises

Keywords: Siedlungsbau; Wohnungswesen; Infrastruktur; Berlin; Hamburg; Frankfurt; Housing; Urban Infrastructure

Abstract:

Der Artikel zielt darauf ab, einen Querblick über die Siedlungsentwicklungen an den Rändern von Hamburg, Frankfurt und Berlin zu leisten und dabei zu erörtern, inwiefern der heutige quantitativ umfangreiche Wohnungsbau an dessen Stadträndern an vergangene Siedlungsbauepochen anknüpft – vor allem, weil die neuen Quartiere in der Nachbarschaft zu Siedlungen des 20. Jh. bzw. der Jahrtausendwende entstehen. Ein besonderes Augenmerk wird auf die sozio-infrastrukturelle Ausstattung und die Rolle der Wohnungsbauakteure gelegt. Ersteres wird in Verknüpfung zu mobilitätspolitischen Ansprüchen verhandelt, letztere in Bezug auf die unterschiedliche Verfasstheit der Akteure (z.B. öffentlich, genossenschaftlich). Der Artikel reflektiert die Forschungen im Kasseler Verbund Neue Suburbanität und basiert auf Begehungen der Stadträume und Interviews mit der Wohnungswirtschaft.

The article aims is to provide a cross-sectionals overview of the developments in the outskirts of Hamburg, Frankfurt and Berlin. Large-scale housing is built – at least according to the quantities. The article therefore discusses the links of today’s development to past epochs: modern housing of the 20th century as well as the time around 2000 – above all because the new areas are spatial neighbors of their ‘predecessors.’ Particular attention is paid to the socio-infrastructural equipment and the role of housing companies. The former links to recent changes in mobility policies, the latter to current housing policy debates and the specific roles of housing companies (e.g. public, cooperative). The article reflects the research of the research project New Suburbanisms. It is based, among other, on site surveys and expert interviews with housing companies.

Frankfurt, Hamburg und Berlin stehen heutzutage exemplarisch für Metropolregionen in Deutschland, die ihr Wachstum nicht mehr nur durch Nachverdichtung befriedigen können, sondern neue Stadtteile an den Stadtrand setzen müssen, um der zusätzlichen Wohnungsnachfrage Herr zu werden. Diese drei Städte sind auch der räumliche ­Fokus des Forschungsverbunds namens Neue Suburbanität in den Jahren von 2018 bis 2021, angesiedelt an der Universität Kassel, dem auch der Autor angehört. Die Verbindung von Aspekten des Städtebaus, des Wohnungswesens, aber auch der quartiersbezogenen Milieu­forschung und der Freiraumplanung einerseits mit der Erforschung der generellen raumstrukturellen Entwicklungslinien andererseits, ist Ziel dieses Forschungsverbunds. Der Autor schuldet daher Dank für gemeinsame Diskussionen über die neuen Stadt­quartiere und gemeinsame Begehungen der entsprechenden Stadträume in Frankfurt, Berlin und Hamburg. Viele Argumentationen dieses Artikels konnten durch Diskussionen mit den Verbundmitgliedern (an der Universität Kassel, der HafenCity Universität Hamburg, der Technischen und der Humboldt-Universität Berlin) geschärft werden.

Im Rahmen des Forschungsverbunds wurden in den Jahren 2019 und 2020 eine Reihe von Expert:innen-Inter­views mit Wohnungsbauakteuren in Hamburg, Berlin und Frankfurt geführt, wobei bewusst kommerziell agierende Projektentwickler:innen bzw. Wohnungsunternehmen, Wohnungsbaugenossenschaften und – in Hamburg und Berlin – die projekt­entwickelnden Akteure der öffentlichen Hand als Interviewpartner:innen ausgewählt wurden. So ist es möglich, sowohl den Vergleich zwischen den Städten, hier mit Blick auf mögliche Gemeinsamkeiten, als auch den Vergleich zwischen den unterschiedlichen Akteurstypen von Wohnungsunternehmen in der Stadtentwicklung (Krüger 2019a, 2020a), hier mit Blick auf mögliche Unterschiede, zu ermöglichen. Die Interviewpartner:innen sind, soweit aus der Sache heraus überhaupt möglich, nach Möglichkeit anonymisiert und stehen für ihren Akteurstyp und für ihre Stadt.

Ergänzend zu diesen Interviews fanden in den Jahren 2018 und 2019 gemeinschaftliche Begehungen der bestehenden Neubauquartiere aus den 1990er und 2000er Jahren statt sowie – je nach Gegebenheit – des jeweiligen agrarisch genutzten Raums, der Kulisse für den Siedlungsbau geworden ist. Diese interdisziplinäre Herangehensweise führte auch dazu, überraschende Gegebenheiten in den Blick zu nehmen, die man nicht als allererstes auf der Liste hatte bei den Spaziergängen in den Stadträumen (vgl. Lamnek und Krell 2016: 105–120, Weißhaar 2013 zum planerischen Spazierengehen). So geriet auch das Feld der Infrastrukturplanung in den Blick, von welchem aus die Siedlungsbauvorhaben in diesem Beitrag am Schluss reflektiert werden.

In Hamburg Oberbillwerder, dem Blankenburger Süden im Berliner Nordosten und der von der Frankfurter Presse so getauften „Josefstadt“ - offiziell: Frankfurt Nordwest (­Harting 2019) kulminieren die Anstrengungen der Akteure, Suburbanität neu zu gestalten. Die drei geplanten Siedlungen sind keine Reallabore, sondern aus ihrer simplen Faktizität heraus ein wesentlicher Teil des Lebens in deutschen Millionenstädten um das Jahr 2050 herum. Darüber bereits jetzt mehr zu wissen, erklärt das Interesse der Forschenden daran. Deswegen wurden zum Hochschultag vor Ort 2019 Vertreter:innen aus Berlin, Hamburg und Frankfurt eingeladen, ihre neuen Siedlungsprojekte vorzustellen und als Podium zu diskutieren. Alle drei Städte besitzen frappierende stadträumliche Ähnlichkeiten:
Ihre neuen Siedlungen sollen jeweils in Teilregionen der Stadt entstehen, wo sowohl im 20. Jahr­hundert als auch in den 1990er Jahren überregional bedeutsamer Siedlungsbau stattfand. Die Nachbereitung des Hochschultags mündete in einer Reflexion dieser Podiumsdiskussion durch den Autor (Krüger 2020b); diese Reflexion wurde dann zur Grundlage dieses Artikels.

Die städtischen Teilräume: Frankfurt-Nordwest, Berlin-Nordost und Hamburg-Ost

Die drei Städte zeichnen sich in den 1920er Jahren sowohl durch intensiven Siedlungsbau als auch durch frühe stadtregionale Verflechtungen aus. Auch nach dem 2. Weltkrieg blieb in ­diesen Städten der Siedlungsbau an den Rändern prägend – so stehen unter anderem in Hamburg die größten durch die Neue Heimat gebauten Siedlungen der Urbanität durch Dichte (Lepik und Strobl 2019). Frankfurt hat die Nordweststadt. Hamburg baute über­regional bekannte Siedlungen wie Steilshoop und Mümmelmannsberg. Berlin hat sowohl die Gropius­stadt und das Märkische Viertel als auch einige der größten Siedlungen des ­Komplexen Wohnungsbaus der 1970/80er Jahre. Das baukulturelle Erbe der Wohnungsbaumoderne 1919–1989 ist in allen drei Städten reichhaltig (Krüger 2019b). Nach der Wiedervereinigung und bis weit in die 2000er Jahre bildeten Hamburg und Frankfurt gemeinsam mit München ein Trio der fast ununterbrochen wachsenden Großstädte mit andauernder Knappheit am Wohnungsmarkt. Und heute sind München, Frankfurt, Hamburg und seit einigen Jahren eben Berlin vier der fünf größten deutschen Städte, die ihr Wachstum auch mit neuen Stadtrandsiedlungen bewältigen.
Berlin fokussiert sich auf den Nordosten, der in Teilen den Eindruck erweckt, zwischen 1930 und 1990 tatsächlich nichts anderes als Reservefläche gewesen zu sein. Als ­einstige Rieselfelder lagen sie anlässlich der Bildung von Groß-Berlin 1920 noch sehr weit weg vom Stadtzentrum; wohingegen die Rieselfelder am östlichen Stadtrand den Groß­siedlungen Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen Platz machten. Die Teilung der Stadt bedeutete dann über mehrere Jahrzehnte im Nordostraum tatsächlich eine Stagnation, was sich heute beispielsweise schmerzhaft in der unterdurchschnittlich ausgebauten Verkehrsinfrastruktur ablesen lässt. Auch wenn in den 1970/80er Jahren die Siedlungen des Komplexen Wohnungsbaus von Osten aus näher an diesen Raum heranrückten, rückte dieser Raum erst nach dem Mauerfall wieder in den Fokus. In den Ortsteilen Karow und Franz­ösisch-Buchholz entstanden dann in den 1990er Jahren sogenannte „Neue Vor­städte“, die als Pendant zur Kritischen Rekonstruktion in der Innenstadt den Städtebau der wiedervereinigten Stadt prägen sollten (vgl. Hesse und Wolf 2005).

Für Hamburg ist der Osten – Marschland statt Rieselfeld – seit den 1960er Jahren ein Entwicklungsraum, wo Siedlungen entstehen. Als wenn sie die Quadranten eines gemeinsamen Raums bilden sollten, entstanden und entstehen (im Uhrzeigersinn) Bergedorf-West in den 1960er, Allermöhe-Ost in den 1980er, Allermöhe-West in den 1990er Jahren und nun Oberbillwerder. Dabei steht Bergedorf-West für das Leitbild der Urbanität durch ­Dichte und Allermöhe-West für den Städtebau der 1990er Jahre. Allermöhe-Ost ist ein interessantes – und in dieser Größe westdeutschlandweit seltenes – Beispiel aus den 1980er Jahren, in denen der Schwenk vom modernen Siedlungsbau zum damals ­postmodern ­genannten Städtebau vollzogen wurde. Daher wird trotz einzelner spät­moderner ­Elemente in Allermöhe-Ost dann Allermöhe insgesamt der Postmoderne zugeordnet. Die folgende Übersicht fasst die beschriebenen Entwicklungen zusammen:

Tabelle 1: Übersicht der Siedlungen und ihrer Epochen. Quelle: Eigene Darstellung.

Neue Siedlungsbauten – Oberbillwerder und andere

Da in Hamburg die Planungen zu Oberbillwerder am weitesten gediehen sind und es bereits seit 2019 einen fertigen Masterplan gibt (IBA Hamburg 2019), wird sich die folgende Erörterung des neuen Siedlungsbaus in erster Linie auf Oberbillwerder beziehen – mit vergleichenden Querverweisen auf die Situationen in Frankfurt und Berlin. Hamburg hat, was die Schnelligkeit der Planungen betrifft, im Vergleich zu Berlin und Frankfurt Glück im Sinne günstiger Ausgangsbedingungen, welche durch die städtischen Akteure genutzt werden. Oberbillwerder liegt an der Eisenbahnstrecke nach Berlin, die S-Bahn-Linie 2 Richtung Bergedorf und Aumühle besitzt bereits einen Bahnhof (wo der Quartier­seingang zu Oberbillwerder sein wird), die Grundstücke sind seit den 1920er Jahren in städtischem Eigentum, der Flächennutzungsplan sieht dort Wohnungsbau vor und zur Zeit handelt es sich um mehr oder weniger intensiv landwirtschaftlich genutzte Flächen, so dass natur- und artenschutzrechtliche Aspekte keinen ausschlaggebenden Hinderungsgrund darstellen. Hier ist Platz für etwa 7.000 Wohnungen und circa 5.000 Arbeitsplätze auf etwa 125 ha (IBA Hamburg 2019: 4).

Es lässt sich bisher nur für Oberbillwerder konkreter abschätzen, welcher städtebaulichen Grundidee der Siedlungsbau folgen wird (Vgl. IBA Hamburg 2019: 16). Inwieweit Oberbillwerder eingedenk seiner quantitativen Dimension an die Wohnungsmoderne und/oder an die sogenannte Postmoderne anknüpft (Altrock und Krüger 2019a) oder sich bewusst davon abgrenzt, wird man endgültig erst nach Fertigstellung der Gesamtsiedlung be­urteilen können. Ein erster deutlicher Kontrast zum Siedlungsbau der Wohnungsmoderne wird durch die Tatsache markiert, dass Oberbillwerder nicht eine Siedlung, sondern fünf Quartiere werden soll (IBA Hamburg 2019: 20ff). Bahnquartier, Parkquartier und Grünes Quartier werden dabei eher durch Geschosswohnungsbau geprägt sein, das Agriquartier und das Blaue Quartier durch Reihen- und Einfamilienhäuser. Grundsätzlich kennen auch die drei Nachbarsiedlungen diesen Ansatz: Dicht im Zentrum, niedrigere Einzelgebäude am Siedlungsrand. Gerade Allermöhe-Ost versuchte in den 1980er Jahren, durch eine gewisse Innenorientierung Teilquartiere und Nachbarschaften zu bilden. Die Unterschiede sind aber für Oberbillwerder kontrastreicher zu erwarten. Mit dem Bahnquartier wird – eingedenk der Hochschulansiedlung (siehe unten) – ein eher an innerstädtischen Typologien orientiertes Quartier entstehen, in dem auch bereits im Masterplan eine hohe Dichte und flexible blockspezifische Höhenentwicklungen vorgesehen sind.

Wenn es gelingt, hier mindestens blockweise Wohnen, Hochschule, zentrale Bauten (Supermarkt/ Nahversorgungszentrum, Schwimmhalle, Markthalle am Bahnhof) zu mischen, dann ist tatsächlich eine gewisse Lebendigkeit zu erwarten. Grünes Quartier und Parkquartier werden demgegenüber deutlich stärker durch das Wohnen geprägt werden; hier ist auch eher zu erwarten, aktuelle Entwicklung des preiswerten Wohnungsbaus re­präsentiert zu sehen – das kann beispielsweise eine zeitgenössische Interpretation von Serialität sein und somit auch an Qualitäten der Wohnungsmoderne anknüpfen. Die beiden Randquartiere im Norden und Westen werden im Wesentlichen durch Einfamilien- und Reihenhausbau geprägt sein, familienorientierte Suburbia, lagebedingt etwas dichter bebaut als ein pures Einfamilienhausgebiet. Das hat auch mit der Veränderung zwischen erster Entwurfsidee und finaler Fassung des Masterplans zu tun. Im Unterschied zu ­früheren Planungen wie in Allermöhe sieht der Masterplan keine größeren piazzaartigen Situationen vor, sondern eher kleinräumige Plätze, die sich wiederum wie in Allermöhe jeweils aus einer axialen Straßensituation ableiten. Diese Oberbillwerderaner Achse wird – leicht versetzt – nach Norden fortgesetzt; für diese setzte sich im Planungsprozess der Name „Rambla“ fest (Gefroi 2018: 14), obwohl durch die Anlage von Wasserläufen oder Kanälen eher die Anmutung eines Fleets oder einer Gracht entstehen wird. Inwieweit in Richtung des einfamilienhausgeprägten Agriquartiers im Norden die Fortsetzung jener fleetigen Rambla mit Nicht-Wohnnutzungen in den Erdgeschosszonen stattfindet, wird sich im Laufe der Umsetzung zeigen, denn diese aktiven Erdgeschosszonen sollen ganz bewusst nicht nur im Zentrum entstehen, sondern an insgesamt elf Quartiersplätzen.

Stadtregionale Einbindung, regionale Anbindung, Zentrumsbildung

Doch zuvor soll auf die stadtregionale Ebene gezoomt werden, wo sich die Neubau­planungen in allen drei Städten in einem innerhalb der jeweiligen Stadtgrenzen gelegenen Kontext befinden und sich in diesen auch einbetten müssen, sollen sie nicht ent­koppelte Satelliten am Stadtrand werden. In Hamburg handelt es sich, wie oben beschrieben, um den Osten, in Frankfurt den Nordwesten, in Berlin den Nordosten. Zum besseren Verständnis der Geographie des Berliner Nordostens ist anzumerken, dass der historische Ortsteil Blankenburg zum Namensgeber der neuen Siedlung wird, es also ähnlich wie bei Karow, Buchholz und Buch hier im Detail jeweils alte (vor 1945) und neue Siedlungen (nach 1980) dieses Namens existieren, der gesamte Raum aber einen einzigen Stadtraum darstellt.

Begonnen wird in Frankfurt: Wie in Hamburg war auch in dort die Nähe zur S-Bahn – hier die S5 – ein ausschlaggebendes Kriterium für die Wahl dieses Gebiets am Niederurseler Hang (Frankfurt am Main 2019b); ein besonders gewichtiger Aspekt ist zudem, dass diese Bahnstrecke (auch) Teil der Regionaltangente West wird (ebd.) – vom Nordwesten der Region aus via Eschborn, Höchst wird durch eine neue Mainquerung der Flughafen erreicht. Damit läge ein Verkehrsknoten im Grenzgebiet von Frankfurt und der Vorder­taunusgemeinde Steinbach zwar in einem derzeitigen Nirgendwo, es böte sich aber wie beim in den 1990er Jahren geplanten, aber nicht gebauten Bahnhof am Berlin-Karower Eisenbahnkreuz (vgl. hierzu SenBWV 1999: 47ff) die Möglichkeit, einen regional bedeut­samen Verkehrsknoten neu zu entwickeln.

In einem anderen Entwicklungsaspekt war seinerzeit Frankfurt Riedberg weiter als Hamburg in Oberbillwerder: Hier wurde ein Hochschulstandort bereits angesiedelt (freilich eingedenk der Tatsache, dass die Idee der Ansiedlung von universitären Standorten dort älter ist als die Idee des Neubauquartiers). Hamburg möchte der Hochschule für Angewandte Wissenschaften einen Campus in Oberbillwerder bauen (Feldhaus 2019), der sich in dem zentralen Quartier rund um den Bahnhof auf mehrere Blöcke verteilen wird und der mit anderen Nutzungen (Wohnen und Nichtwohnen) in noch zu präzisierender Körnigkeit gemixt werden soll (vgl. IBA Hamburg 2019: 36ff). Aus dem Verhältnis von Wohnen und Arbeiten ist der Hamburger Anspruch erkennbar, mehr als nur eine Wohnsiedlung zu bauen. Auch hier kann man es als glücklichen Umstand bezeichnen, dass in den gesamtstädtischen Überlegungen zu einem gewerblichen Ankernutzer die öffentliche Hand Bedarfe anmelden konnte. Die Verlagerung eines Krankenhauses und die Verlagerung einer Hochschule wurden geprüft; eben letztere will nach Oberbillwerder ziehen und ist – im Unterschied zum Krankenhaus – auch relativ feinkörnig in die Stadtstruktur der neuen Siedlung integrierbar (für das Krankenhaus wird am Ist-Standort anderswo in Bergedorf investiert).

Der Blankenburger Süden in Berlin wiederum wird eher als allgemeines Wohngebiet mit benachbartem oder eingestreutem Gewerbegebiet geplant werden (SenSW 2019b: 10). Zudem gibt es mit dem Campus in Buch, am wiederum äußeren Ende dieses Berliner Teilraums, bereits einen etablierten und überregional bedeutenden Wissenschaftsstandort (Medizin). Gar nicht vermeiden lässt sich das Ansinnen, rund um den bestehenden S-Bahnhof Blankenburg eine Zentrumsfunktion zu schaffen, die für den gesamten Nordosten bedeutsam sein wird (SenSW 2019a). Sicherlich wäre das Karower Eisenbahnkreuz eine planerische Alternative der gemeinsamen Ansiedlung eines ÖPNV-Knotens und ­Zentrums gewesen. Aber rund um diesen Ort bleibt die suburbane Landschaft so wie sie aktuell ist, so dass der S-Bahnhof-Blankenburg sich mittiger im stadtregionalen Kontext befindet. Von dort in die allgemeinen Wohngebiete Karows, Blankenburgs oder Buchholz‘ wird man circa 15 Minuten Weg (Fahrrad, ÖPNV) jeweils einplanen müssen; zugleich kann dieses regionale Zentrum dafür identitätsbildende Aufgaben im Berliner Nordosten wahrnehmen. Dies – wieder zurück nach Frankfurt – ist vergleichbar mit der Rolle des Nordwestzentrums, welches über die Nordweststadt hinaus Zentralitätsfunktionen wahrnimmt. Welche Rolle die neuen Quartiere am Niederurseler Hang jenseits des Wohnens in Frankfurt einnehmen werden, muss einstweilen (Stand Mitte 2020) offen bleiben.

Wohnbautypologien und Zielgruppen

Die Wohnbautypologien Oberbillwerders ergeben sich im Prinzip bereits aus der Grundidee des Masterplans (vgl. IBA Hamburg 2019: 20ff), und hier sind auch keine grund­legenden Abweichungen zum Siedlungsbau der anderen Metropolen zu erwarten: Geschossbau, durchaus in Blockrandbebauung, aber auch mit flexibler Höhenentwicklung; Reihenhaus, durchaus als englische Zeile; Einfamilienhaus. Auffällig scheint zunächst, dass wieder viel Geschosswohnungsbau entstehen soll. Zumindest ergibt sich insbesondere aus der Perspektive der Gegnerschaft der Bebauung mehr als nur ein Vorbehalt gegen neue Hochhäuser. Jedoch ist suburbaner Geschosswohnungsbau als solches keine wirkliche neue Entwicklung. Die 1990/2000er Jahre – hier exemplarisch Frankfurt-Riedberg, Berlin-Karow und Hamburg-Allermöhe – zeigen dies; nicht nur innerhalb der Stadt­grenzen, sondern auch – wiederum exemplarisch – im ostdeutschen suburbanen Wohnungsbau der 1990er Jahre mit seinen euphemistisch „Wohnpark“ genannten dreigeschossigen Wohnbau­projekten (Aring und Herfert 2001: 52–53). Ebenso lässt sich in den Randlagen der Städte (z.B. rund um die Hamburg-Bergedorfer Altstadt) sowie im Umfeld von gut erreichbaren S- oder Regionalbahnhöfen eine Reihe von aktuellen Geschosswohnungsbauprojekten beobachten (z.B. Bernau und Eberswalde nordöstlich Berlins, vgl. Krüger 2021), die sich städtebaulich in die Kleinstadtsituationen einfügen, aber nach draußen ziehende Zielgruppen ansprechen sollen. Nichtsdestoweniger scheint es eine ungebrochene, mind­estens medial vermittelte Erwartungshaltung des Einfamilien- und Reihenhausbaus zu geben, wenn draußen etwas entsteht. Auffällig sind eher die Maßstäblichkeit und der Wille, deutlich mehr als drei Geschosse zu bauen; verbunden mit der Intention, eigenständige, in sich abgeschlossene und dennoch innerhalb des Teilraums vernetzte Stadtstrukturen zu schaffen. Man könnte es Siedlungsbau nennen, wenn sich nicht von einigen Akteuren gegen das Wort Siedlung dabei gewehrt werden würde (Interviewquellen C und G).

Wie sich nun der Städte- oder eben Siedlungsbau dann in Architektur übersetzen lässt, wird in Hamburg von den Zielgruppen und von den Akteurstypen des Wohnungsbaus (Krüger 2019a, 2020a) abhängen, die sich potenziell in Oberbillwerder einbringen werden – denn der Entstehungsprozess der Siedlung ist dialogisch konzipiert, so dass insbesondere die Wohnungsbauakteure ihre Vorstellung einbringen können. Sie müssen diese sogar einbringen, denn es werden spezifische Produktionsbedingungen aus ihrer Perspektive existieren; jene hier detailreich auszuführen, fehlt der Platz. Nur so viel: Nur wenn es gelingt, in einer preislichen Abgrenzung zur inneren Stadt urban zu bauen, wird es gelingen, Investoren auch für jene Baufelder zu finden, die nicht im gängigen Sinne – also Einfamilienhaus, Reihenhaus, (serieller) sozialer Wohnungsbau – entwickelt werden sollen. Es gilt der Hamburger Drittelmix (BSW - Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen Hamburg o. J. a). Es werden etwa 20 % durch die beiden kommunalen Unternehmen Saga und Fördern-und-Wohnen gebaut (Interviewquellen A, D). Daraus ergibt sich eine immobilienökonomisch erwartbare Problemlosigkeit der Kalkulation für Einfamilien- und Reihenhäuser in Agriquartier und Blauem Quartier sowie für den sozialen Wohnungsbauanteil in den drei anderen Quartieren; das ist mit der Charakterisierung dieser Segmente als gängig gemeint.

Interessant werden demnach eher andere Aspekte: Genossenschaftlicher Wohnungsbau und Baugemeinschaften werden politisch hoch gehandelt. Es gibt die ambitionierte Vorgabe, dass 1/5 der Grundstücke an Baugemeinschaften vergeben werden sollen (Interviewquelle A). Sollten sich für Oberbillwerder dafür neue Gruppen bilden, dann wären das in der nächsten Dekade ebenso viele neue Baugruppen, wie sich in Hamburg in den letzten 100 Jahren gebildet haben. Das ist in der Tat ambitioniert. Aus ganz unterschiedlichen Gründen ist erwartbarer, dass sich potenzielle Gruppen den Wohnungsgenossenschaften zuordnen und unter ihrem Dach agieren werden, da dies einer einzelnen Gruppe, die gemeinschaftlich wohnen und leben will, die Projektrealisierung erleichtert (Interviewquelle A). Zudem ermöglicht es den Genossenschaften, die politische Vorgabe des Fünftels Baugemeinschaften zu nutzen, um nicht in Vergabeverfahren um das zweite Drittel freifinanzierten Mietwohnungsbaus von kommerziellen Akteuren (Immobilienunternehmen im Fondseigentum) ausgestochen zu werden. Das gilt auch bei Konzeptvergabeverfahren, denn freilich sind auch kommerzielle Wohnungsakteure in der Lage, gute Wohnbau­konzepte entsprechend der politischen Vorgaben abzuliefern. Frankfurt (siehe unten) ist mit seinen Beschlüssen 2019 (Frankfurt am Main 2019a) eine deutlich präzisere Operationalisierung des politischen Wunsches nach mehr gemeinschaftlichen/genossenschaftlichen Wohnformen gelungen; Berlin wird sehen, wo sich die traditionell dort starken Genossenschaften und die linke Koalition treffen, wenn sie ihre Mieten­deckelkämpfe ausgefochten haben (siehe unten sowie Interviewquelle F). Für Berlin und Frankfurt lassen sich Aussagen zu Bautypologien und Zielgruppen zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht abschätzen. Aber es lässt sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sowohl für Hamburg, als auch für Frankfurt und Berlin annehmen, dass die Zielgruppen des ­Quartiers in einem noch auszulotenden Spannungsfeld von Urbanität und Suburbanität stehen werden.

Um für Frankfurt die Zielgruppen hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Zusammensetzung aber besser beurteilen zu können, ist es notwendig, Anhaltspunkte für eine wohnungspolitische Setzung durch die Stadt Frankfurt zu bekommen; hier ist seit dem Baulandbeschluss im Dezember 2019 eine entsprechende Dynamik zu erwarten. Auch Berlin hat klare Vorgaben: Dort, wo ein öffentliches Berliner Wohnungsunternehmen baut, entstehen 50 % preiswerter Wohnraum, der sich an Inhaber eines Wohnberechtigungsscheins (WBS) richtet (Interviewquellen B, E). Die öffentlichen Wohnungsunternehmen sind sich bewusst, dass dies Konsequenzen für das spätere Management des Quartiers haben wird. Selbst ein kommerzieller Projektentwickler kooperiert für seinen Siedlungsbau in Neu-Lichterfelde Süd mit Trägern der sozialen Arbeit, denn auch dort wird dieser WBS-geeignete Wohnraum entstehen (dieser Wohnraum wird durch ein öffentliches Wohnungsunternehmen dann übernommen).

Auch in Berlin entstehen diese Quartiere für gemischte sozioökonomische Schichten und damit auch vornherein für Ärmere. In dieser Hinsicht schließen die großen Neubauquartiere tatsächlich an die Tradition des 20. Jahrhunderts an. Letztendlich werden gesamtstädtische wohnungspolitische Setzungen mehr Einfluss auf die Dynamik der Mischung der erwünschten Zielgruppen haben als städtebauliche, quartiersspezifische Konzepte.

Urban und draußen

Urbanität und Stadtrandlage sollen gewissermaßen eine Symbiose eingehen, darauf deuten sowohl die grundlegenden städtebaulichen Vorstellungen (soweit aus Masterplänen bereits ablesbar) als auch die eben beschriebenen gesamtstädtischen wohnungs­politischen Setzungen. Zudem wird, zumindest in Hamburg, auch explizit der Anspruch formuliert, dieselben Milieus in Oberbillwerder anziehen zu können wie in der Innenstadt (Interviewquelle D). Das steht in krassem Widerspruch zu dem Klischee von Bergedorf als weit draußen liegendem Bezirk, dass er als eigenständiger Teil des Bundeslandes wahr­genommen wird. Die aktuelle Marktlage und die Nichterweiterbarkeit von Quartieren wie St. Pauli und St. Georg lassen die genannten Ansprüche bis zu einem gewissen Grad realistisch erscheinen; es ist nicht unwahrscheinlich, dass hinsichtlich der Nachfrage Neubaugebiete wie Oberbillwerder, Altona (Neue Mitte, BSW Hamburg o. J. b) und die aktuellen, eher wohnorientierten Bauabschnitte der Hafencity Richtung Wilhelmsburg (Sprung über die Elbe, BSW Hamburg o. J. c) in der Zielgruppe gleichwertig gesehen werden. Dass in die Einfamilien- und Reihenhäuser Oberbillwerders Familien ziehen sollen, braucht ebenso nur kurz erwähnt werden wie das Schielen der potenziellen Investoren auf Studierende als belebende urbane Zielgruppe, wenn eine Hochschule dorthin zieht.

Oberbillwerder entsteht in einer Zeit angespannter Wohnungsmärkte. Bergedorf-West ist als Siedlung der 1960er Jahre ein Kind seiner Zeit und war in seiner eigenen Gründerzeit wie viele Quartiere der Brandt-Ära ein Zeichen des Fortschritts (Harnack 2018: 174). Insbesondere die Frankfurter Nordweststadt und die eingangs erwähnten großen Neue-Heimat-Siedlungen in Hamburg und München hatten damals den Charakter von Vorbildern (ebd., Lepik und Strobl 2019). Sie vermittelten im Übrigen ein zeitgenössisches Verständnis von Urbanität, welches sich in dem Leitbild der Urbanität durch Dichte auch sprachlich widerspiegelt. Etwas anders sah es etwa 25 Jahre danach aus: Allermöhe wurde zu einer Zeit gebaut (1980/90er Jahre), in der selbst Hamburg nicht unbegrenzt wuchs. Der Bau von Frankfurt-Riedberg verzögerte sich und es wurde schließlich mit geringeren Dichten gebaut, in Berlin blieb der Siedlungsbau der 1990er Jahre hier und da unvollendet oder wurde weniger dicht als geplant bebaut (vgl. SenSW 2018). In Allermöhe zeigt sich im Rückblick, dass ohne die östliche Nachwendezuwanderung aus der ehemaligen DDR und der ehemaligen UdSSR damals in die Phase des Leerstands hinein neugebaut ­worden wäre (Körner 1993). Bergedorf-West, Allermöhe-Ost und -West sind heute demographisch stabil. In der Planung wurden eher mittelschichtige Zielgruppen angezogen und die ­soziale Ausgleichsfunktion der Stadtrandquartiere auf einer gesamtstädtischen Ebene eher als notwendiges Übel und weniger als aktiv zu planende Entwurfsaufgabe begriffen. Erst seit wenigen Jahren, zum Teil seit 2012 (Allermöhe) bzw. 2019 (Bergedorf-West), sind diese Gebiete Teil der (sozialen) Stadterneuerung (Überblick der Hamburger Gebiets­kulissen, BSW Hamburg 2020).

Das ist in Oberbillwerder anders; zur Zielgruppe Oberbillwerders gehören auch die weniger Begüterten (also diejenigen, welche die unteren Wohnraumsegmente benötigen). Den Beteiligten ist klar, wenn sich Geflüchtete aus der nahe gelegenen Siedlung am ­Mittleren Landweg sinnvollerweise im Stadtraum verteilen, wird auch ein Teil von ihn­en in den ­sozial gebundenen Wohnraum in Oberbillwerder ziehen – die Siedlung am ­Mittleren Landweg soll schließlich ebenfalls zu einer demographisch durchmischten Siedlung weiter­entwickelt werden (vgl. Projektseite ). Das wird von den Wohnungsmarkt­akteuren und beim Bezirk Bergedorf bewusst für den Siedlungsbauprozess als Tatsache wahr­genommen. Vergleichbare Aussagen finden sich bei denjenigen, die in Berlin die Quartiere Buckower Felder, Neu-Lichterfelde Süd und Wasserstadt Oberhavel entwickeln (Interviewquellen ­C, E).

Infrastruktur und Siedlungsbau

Die soziale Infrastruktur ist – auch wegen der angestrebten sozialen Mischung – ein eigen­ständiger Baustein der Planung; auch deswegen wird nicht automatisch von ­einem (Zweit-)Autobesitz in jeder Familie ausgegangen. Das Bezirksamt Bergedorf begreift alle vier Gebiete als gemeinsamen Planungsraum soziokultureller Aktivitäten. Im Sinne des – auf Englisch übersetzten und daher leicht dem Verdacht des Zwecks Vermarktung anheimfallenden – Begriffs der Connected City wird eine Analyse der Infrastruktur­ausstattung Oberbillwerders nur im gemeinsamen Zusammenhang mit Allermöhe und Bergedorf-West stattfinden können. Auch in Berlin wird der Planungsraum für die Infra­strukturausstattung den gesamten Nordostraum umfassen müssen und nicht nur die Neubausiedlung im Ortsteil Blankenburg. Der Ansatz des Masterplans für Oberbill­werder, der sich übrigens in kleinerem Maßstab auch für die Siedlung Buckower Felder in Berlin (900 WE geplant) wiederfindet, ist nun, die unterschiedlichen Funktionalitäten der infrastrukturellen Anforderungen auf eine Art räumlich zu bündeln, dass eine mögliche Konsequenz ein verändertes alltägliches Nahmobilitätsverhalten sein kann.

Zuerst soll der Blick auf die (unerwartete) Renaissance der Quartiersgarage gelenkt werden. Diese ist eher der (westdeutschen) Wohnungsbaumoderne zuzuordnen. In den Siedlungen der Urbanität durch Dichte wurde angestrebt, das zu erwartende Parkplatzproblem einer mehr und mehr massenmotorisierten Gesellschaft durch Hoch- oder Quartiers­garagen zu lösen, dies als Teil eines zugleich autogerechten wie fußgängerfreundlichen Siedlungsbaus: Denn das Verschwinden der Autos und das Platz-Schaffen für eigenständige Fußwegnetze in der alltäglichen Nahmobilität ist sowohl ein Merkmal der Urbanität durch Dichte als auch des Komplexen Wohnungsbaus, wo dem Parkplatzbedarf mit großflächigen Parkplätzen bzw. randlagigen Anwohnergaragen begegnet wurde (vgl. Harnack et al. 2020 für Urbanität durch Dichte, Grunze 2017 für Komplexen Wohnungsbau). Demgegenüber bevorzugte der Siedlungsbau der 1990er Jahre in Hamburg, Berlin und Frankfurt das klassische Straßenraumparken, dies auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Berlin-Kreuzberger IBA 1987 und der sich damals durchsetzenden Behutsamen Stadterneuerung.

Von beiden vormaligen Leitbildern möchte sich Oberbillwerder dennoch abheben. Ziel des Umgangs mit Parken ist – analog zur Moderne – das eigentliche Verschwindenlassen des ruhenden Verkehrs. Die Tiefgarage scheidet aus Baugrundgründen und den damit verbundenen Kosten aus, daher muss das Parken oberirdisch gebündelt werden. Das an sich ist mit Blick auf süddeutsche Neubauquartiere seit den 1990er Jahren und mit Blick auf die Moderne noch nicht innovativ. Doch der Plan für Oberbillwerder geht einen Schritt weiter. Das weitestgehende Verbot des Parkens im Straßenraums soll die Straße dem Fußgänger zurückgeben. Bezüge lassen sich zu den grünen Fußgängerräume der Urbanität durch Dichte (1960/70er Jahre), zu der Verkehrsberuhigung der Behutsamen Stadterneuerung der Innenstadtquartiere (1980/90er Jahre) oder zu zeitgenössische Debatten um eine Verkehrswende finden. An welche Bezüge mehr und an welche weniger angeknüpft wird, scheint für den Moment nachrangig. Es geht, wie oben erläutert, um sogenannte urbane Zielgruppen, so dass man gerade in Städten wie Berlin, Hamburg und Frankfurt in Konkurrenz zu eben jenen Quartieren der Behutsamen Stadterneuerung steht, die heute als Repräsentanten der Reurbanisierung das Image des großstädtischen Lebens gelten. Freilich geht es – wie schon vor 50 Jahren – primär um die infrastruktur­elle Notwendigkeit, Stadtrandquartiere so zu bauen, dass sie eben nicht mehr autoaffine Lebensstile bevorzugen. Schließlich sollen die zusätzlichen Pendelströme durch S-Bahn (Hamburg, Berlin) und U-Bahn (Frankfurt) bewältigt werden.

In Oberbillwerder wird vom Bahnhof aus gedacht (vgl. auch die Kritik an einem Siedlungsbau ohne Berücksichtigung eines Bahnhofs bei Altrock und Krüger 2019b), der Stadt­eingang und Zentrum werden soll. Eine Kette unterschiedlicher Plätze erschließt vom Bahnhof aus nacheinander Funktionen wie Markthalle (am Bahnhof), Hochschulplatz, Grüne-Loop-Kreuzung mit Schwimmbad und zentralen Einkaufsbereich. Das ist eine zwar eher ungewöhnliche Kombination an Funktionen zwischen Bahnhof und zentralem Platz, findet sich aber als Kette von Platzsituationen auch schon in älteren Stadtrandsiedlungen wie – fast direkt gegenüber – in Allermöhe am benachbarten S-Bahnhof Nettelnburg oder im Siedlungsbau der Spätmoderne (z.B. am S-Bahnhof Berlin-Marzahn entlang der Marzahner Promenade oder entlang der U-Bahnhöfe der Berliner Gropiusstadt).

Neuartig geht der Masterplan Oberbillwerders dagegen mit den Quartiersplätzen um, indem dort der Quartiersplatz durch die Quartiersgarage markiert wird – und das gleich elf Mal. Mobilitätsinfrastruktur wird zum städtebaulichen Merkzeichen, denn die Quartiers­garage soll auch Ort multimodaler Verkehrsangebote sein. Zehn Quartiersplätze mit angeschlossener Hochgarage bilden ein dezentrales Netz infrastruktureller Cluster. Im Unter­schied zu einem Vorbild der 1990er Jahre, Freiburg-Vauban, sind die Garagen nicht in einer Art zweiten Reihe hinter der zentralen Achse Vauban-Allee angeordnet, sondern mitten im Quartier. Zugleich sind die einige dieser Quartiersplätze in unmittelbarer räumlicher Nähe von Schulstandorten, dessen jeweiliges Grundstück zwischen Quartiersplatz und Grünem Loop (einer schematischringförmigen Grünanlage) vermittelt, die Schule also quasi eine urbane Front am Quartiersplatz und eine grüne Front zum Grünen Loop vermittelt.

Diese Quartiersgaragen sollen – und dies ist das Interessante – alle eine infra­strukturelle und/oder Nahversorgungsnutzung als aktive Erdgeschosszone besitzen. Es bündeln sich – je nach Tageszeit – nahmobile Erledigungen: zur Schule gehen/kommen, zum Auto/Fahrrad gehen, Brötchen beim Bäcker oder Bier beim Kiosk holen. Die Ähnlichkeit des Ansatzes zeigt sich in den Buckower Feldern, wo eine der beiden Quartiersgaragen – mit aktiver Erdgeschosszone – baulich-räumlich auch an einem Platz mit einer Jugendeinrichtung gebündelt wird – und die Schule (Bestandsobjekt) schräg gegenüber liegt. Die andere Quartiersgarage der Buckower Felder liegt am anderen Ende des Quartiers in einer Eingangssituation und entspricht daher eher dem etablierten Modell der Quartiersgarage am Quartierseingang, wie es mit Bezug auf Freiburg-Vauban erwähnt wurde. In diesem Zusammenhang lohnt sich der Blick in das entstehende Freiburg-Dietenbach, wo 10 der 12 Quartiersgaragen ebenfalls entlang einer Erschließungsringstraße entstehen sollen. Auch hier finden sich andere infrastrukturelle Einrichtungen wie Kitas und Schulen in unmittelbarer Nähe, aber dezentrale Quartiersplätze werden nicht an der Quartiers­garage ausgebildet. Die städtebaulichen Überlegungen gehen in Oberbillwerder also ­einen Schritt weiter als in Dietenbach.

Die Tatsache, dass es Stellplätze (nahezu) ausschließlich in den Quartiersgaragen geben wird, ist in Oberbillwerder (und auch in Dietenbach und Buckow) gegenüber den ­Planungen der 1990er Jahre – von Einzelfällen wie Freiburg-Vauban abgesehen – eine vergleichsweise radikale Weiterentwicklung des Siedlungsbaus. Ob es im Alltag funktion­ieren wird, hängt dann aber nicht nur von Städtebau und infrastruktureller Ausstattung ab, sondern sicherlich auch davon, wie die Quartiersgaragen finanziert werden, wer sie baut und betreibt – und was das Falschparken im öffentlichen Raum kosten wird.

Ausblick: Wenn das alles klappt

Aus den Ausführungen wird ersichtlich, dass vieles von dem, was in Oberbillwerder, aber auch anderswo passieren soll, sehr voraussetzungsvoll ist. Nicht nur, dass intersektoral agiert und dementsprechend integriert gesteuert werden muss, hinter den Ideen stecken immer finanzielle Konstellationen und Akteure, welche den Bau, die Betreiberschaft und die kontinuierliche Unterhaltung der unterschiedlichen Nicht-Wohn-Nutzungen regeln müssen. Zudem handelt es sich bei den hier angesprochenen Nicht-Wohn-Nutzungen fast vollständig um gemeinnützige Unternehmungen unter der gemeinsamen Überschrift der sozialen Infrastruktur, an welcher die beteiligten Wohnungsbauunternehmen des Quartiers einen wie auch immer zu erfassenden Anteil tragen werden. Eine planungsgeschichtliche Linie zieht sich zur Epoche der Wohnungsmoderne 1919-1989. Diese ist nicht nur ein städtebauliches Erbe, sondern umfasst auch besondere Raumproduktionsbedingungen der Weimarer Republik, der DDR und der alten Bundesrepublik, die bis 1989 eine Wohngemeinnützigkeit kannte (Krüger 2019a, b). Wohnungsbau und Infrastruktur wurden in dieser Zeit mindestens integriert, wenn nicht aus einer Hand geplant gebaut und in Teilen auch betrieben.

Angenommen, der Masterplan Oberbillwerders lässt sich so umsetzen wie gedacht und es entsteht auch andernorts ein Siedlungsbau, der Wohnungsbau und Infrastruktur­ausstattung integriert plant,

  • dass es ein Anreizsystem der Alltagsmobilität gibt, welches den eigenen Autogebrauch am Stadtrand (!) gleichwertig zu anderen Mobilitätsmodi macht, weil man jeden Einstieg in die Mobilität am selben Ort (dem Quartiersgaragenplatz) findet,
  • dass es eine infrastrukturelle Versorgung gibt, die sowohl dezentral als auch ge­clustert stattfindet und Begegnungs- und Beratungsstellen prominenter sichtbar im öffentlichen Raum sind, weil sie sich auch mal neben dem Bäcker befinden, und
  • dass es aufgrund der Clusterung der fußläufigen Nahmobilität an bestimmten ­Orten aufgrund funktionaler alltäglicher Wegelogiken gelingt, städtebaulich herausge­hobene Orte und dementsprechend öffentliche Räume zu beleben;

wäre ein solcher Siedlungsbau zumindest hinsichtlich seiner funktionalen Zusammen­hänge und seiner hier nicht näher betrachteten Governance (die sich insbesondere auf das Zusammenspiel von Planung, Vergabe und Betrieb von Wohnungen und Infra­strukturen fokussieren müsste) eine mögliche Innovation in der Planung. Weder ist er eine Fortführung der Siedlungsbauprojekte der 1990/2000er Jahre, noch entsteht er in völliger Abgrenzung zum Siedlungsbau der Wohnungsbaumoderne 1919-1989, welcher noch immer als abschreckende Folie von Meinungsmacher:innen in der Stadtentwicklung genutzt wird. Der Bezug zur Wohnungsbaumoderne findet sich nicht nur in Bezug auf quantitative Größe und die Lage am Stadtrand: Man plant nicht nur für ein frei­finanziertes, auto­orientiertes Familiensuburbia – man plant für breite Schichten.

About the author(s)

Arvid Krüger ist Planer und Post-Doktorand an der Uni Kassel im Forschungsverbund Neue Suburbanität. Er hat in Berlin und Stockholm studiert und 2018 in Weimar zur Stadterneuerung von Großsiedlungen promoviert. Seine Forschung verbindet er mit der Planungspraxis. Er ist ehrenamtlich bei der SRL aktiv.

Arvid Krüger is researcher at the University of Kassel (research project: new suburbanisms). He studied in Berlin and Stockholm and did his PhD in 2018 at Bauhaus University on urban renewal of large housing estates. He combines his research with planning practice. He is honorarily working in the SRL.

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Interviewquellen

Durchführung der Interviews mit der Wohnungswirtschaft einschl. Projektentwicklern zwischen Juli und November 2019

Interview A: Vertreter:in einer Hamburger Genossenschaft

Interview B: Vertreter:in eines Unternehmens der Stadt Berlin

Interview C: Vertreter:in eines privaten Unternehmens in Berlin

Interview D: Vertreter:in eines Unternehmens der Stadt Hamburg

Interview E: Vertreter:in eines weiteren Unternehmens der Stadt Berlin

Interview F: Vertreter:in einer Berliner Genossenschaft

Interview G: Vertreter:in eines privaten Unternehmens in Hamburg