Published 2.07.2025
Push, Pull und Ermöglichung
Effektive Maßnahmenbündel für nachhaltige Mobilität
Push, Pull and Enabling
Effective Policy Packages for Sustainable Mobility
Keywords: Mobilitätswende; Maßnahmenbündel; Praxistheorie; Pendelpraktiken; effektive Interventionen ; mobility transition; policy packages; social practice theory; commuting practices; effective interventions
Abstract:
In der Gestaltung nachhaltiger Mobilität spielt die Frage nach verkehrspolitischen und -planerischen Interventionen eine zentrale Rolle. Als besonders wirksam gelten kombinierte, integrierte Maßnahmenbündel. In einer qualitativen Untersuchung von Pendelpraktiken in der Rhein-Main-Region wurden in zwei transdisziplinären Workshops konkrete Maßnahmen für nachhaltige Pendelmobilität abgeleitet. Die Ergebnisse regen an, den in Fachdebatten etablierten Topos der Kombination von Push- und Pull-Maßnahmen zu differenzieren: Erstens sollten restriktive Push- und fördernde Pull-Instrumente um ermöglichende Maßnahmen ergänzt werden. Diese erleichtern den Übergang zwischen verschiedenen Pendelpraktiken und das Erlernen neuer Routinen. Zweitens sollten effektive Maßnahmenbündel verschiedene Aspekte des Pendelns (neben Infrastrukturen und physischen Gegebenheiten auch Fähigkeiten und Symbole und Emotionen) sowie damit verbundene Alltagspraktiken adressieren.
Finding suitable interventions is a key concern for achieving sustainable mobility. So-called policy packages – coherent bundles of different measures – are argued to be particularly suitable interventions. Following a qualitative analysis of commuting practices in the Rhine-Main region, two transdisciplinary workshops were conducted in order to derive specific measures for sustainable mobility. The findings encourage a more nuanced view of the widely cited approach to combine push and pull measures: Firstly, push measures aimed at discouraging undesirable mobility behavior and pull measures aimed at promoting desirable mobility behavior should be supplemented by enabling measures. These enable the shift in commuting practices and adapting new routines. Secondly, effective bundles of measures should address different aspects of commuting (infrastructure and physical conditions as well as competencies and symbols and emotions) as well as related everyday practices.
Effektive Maßnahmenbündel für die Mobilitätswende
Für eine Transformation in Richtung nachhaltiger Mobilität braucht es neben technischen Innovationen auch Veränderungen auf der Nachfrageseite von Mobilität, einschließlich des Mobilitätsverhaltens. Da Interdependenzen und Pfadabhängigkeiten im Mobilitätssystem für dessen Stabilität sorgen, müssen verschiedene Akteur für Veränderungen aktiv intervenieren (Geels 2012). Eine Frage ist dabei, welche Arten von verkehrspolitischen und -planerischen Interventionen und welche Kombinationen von konkreten Maßnahmen die Transformation zu nachhaltiger Mobilität am ehesten ermöglichen.
In der Mobilitätsforschung wird argumentiert, dass einzelne Maßnahmen für grundlegende Veränderungen im Mobilitätssystem nicht ausreichend seien. Vielmehr bedarf es kombinierter und integrierter Ansätze sowie seitens der Mobilitätsplanung und -politik der Bündelung von Maßnahmen in sogenannten Policy Packages (Maßnahmenbündel) (Givoni 2014; Thaller et al. 2021). Als erfolgsversprechend gilt hierbei die Kombination von restriktiven Maßnahmen, die ein unerwünschtes Verhalten einschränken (Push-Maßnahmen) und Maßnahmen, die ein gewünschtes Verhalten fördern (Pull-Maßnahmen). Die als äußert wirkungsvoll geltenden Push-Maßnahmen sollen durch eine Kombination mit den öffentlich akzeptierteren Pull-Maßnahmen einfacher umzusetzen sein (Hekler et al. 2022). In einigen europäischen Großstädten (z.B. Kopenhagen, Wien, Zürich) konnte mit solchen Maßnahmenbündeln die Autonutzung reduziert werden. Trotzdem ist deren breite Umsetzung insbesondere auch in anderen räumlichen Kontexten noch gering. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass in der Formulierung von Maßnahmen typischerweise davon ausgegangen wird, dass Mobilitätsverhalten auf individuellen und rationalen Entscheidungen beruht. Dies wird allerdings der Komplexität von Mobilitätsverhalten und seiner Einbettung in gesellschaftliche Strukturen nicht gerecht (Kent 2022). Diese Komplexität lässt sich jedoch mit der sozialwissenschaftlichen Praxistheorie abbilden (siehe nächster Abschnitt für Erläuterung der Praxistheorie).
Dieser Beitrag nutzt daher Erkenntnisse einer praxistheoretischen Untersuchung von Pendelpraktiken, um Folgerungen für die Formulierung effektiver Maßnahmenbündel in der Planungspraxis abzuleiten.
Die zu Grunde liegende Forschungsfrage lautet: Welche (neuen) Maßnahmen für nachhaltiges Pendeln lassen sich aus einer praxistheoretischen Perspektive ableiten und wie sind diese in wirksame Maßnahmenbündel zu integrieren? Basierend auf einer praxistheoretischen Untersuchung von Pendelmobilität in der Rhein-Main-Region wurden in zwei transdisziplinären Workshops Maßnahmen für nachhaltige Pendelmobilität erarbeitet und in Bezug zu effektiven Policy Packages gesetzt. Dadurch entstand zum einen eine Übersicht aus effektiven Maßnahmen aus praxistheoretischer Perspektive und zum anderen ein Rahmen für die Formulierung effektiver Maßnahmenbündel, der die Kombination von Push- und Pull-Maßnahmen mit sogenannten ermöglichenden Maßnahmen ergänzt.
Policy Packages und Praxistheorie in der Literatur
Das Konzept der Policy Packages basiert auf der Idee, dass kohärente Bündel von Maßnahmen, die auf dasselbe Ziel ausgerichtet sind, effizienter als verschiedene Einzelmaßnahmen sind. Zentral hierfür ist, dass Maßnahmen so kombiniert werden, dass das Bündel möglichst effektiv und umsetzbar ist. Dabei gilt es, unerwünschte Nebeneffekte einzelner Maßnahmen abzuschwächen (Effektivität steigern) und die öffentliche Akzeptanz für das Bündel zu schaffen (Umsetzbarkeit erhöhen) (Givoni 2014). Eine ähnliche Argumentation findet sich in der Diskussion um die Kombination von Push- und Pull-Maßnahmen zu Maßnahmenbündeln mit einer hohen Wirksamkeit und gleichzeitigen öffentlichen Akzeptanz (Hekler et al. 2022). Ein vereinfachtes Beispiel hierfür wäre die Kombination einer City-Maut – eine Push-Maßnahme, um Autofahren weniger attraktiv zu machen – mit der Einführung von kostenlosem öffentlichem Verkehr (ÖV) – einer Pull-Maßnahme, um den ÖV attraktiver zu machen. In Hinblick auf das Design solcher Maßnahmenbündel schlagen Thaller et al. (2021) basierend auf ihrer Analyse verschiedener Maßnahmen ein allgemeines Modell zur Erstellung von Policy Packages vor: Grundlage der Bündel bilden Infrastruktur- und raumstrukturelle Maßnahmen. Weitere Maßnahmen in den Bündeln sollten so ausbalanciert sein, dass sie zum einen auf grundlegende Veränderung abzielen und zum anderen umsetzbar sind, was in engem Zusammenhang mit den Dimensionen Push und Pull steht (Thaller et al. 2021). Bisherige Arbeiten zu Policy Packages zeigen also die Relevanz der Bündelung von Maßnahmen zu Maßnahmenbündeln. Diesen Studien ist die Perspektive auf Mobilitätsverhalten als individuelle und rationale Entscheidungen gemein. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive lässt sich daran kritisieren, dass dies nicht der Komplexität von Mobilitätsverhalten und seiner Einbettung in gesellschaftliche Strukturen gerecht wird.
Eine gesamtheitliche Perspektive auf Mobilitätsmuster und deren zeitliche und räumliche Bezüge bietet die Praxistheorie (Kent 2022). Sie untersucht menschliches Handeln als soziale Praktiken – also routinisierte Handlungen, die Menschen alltäglich ausführen und welche immer im gesellschaftlichen Kontext zu verstehen sind. Damit trägt sie der Tatsache Rechnung, dass individuelles Verhalten immer mit symbolischen und materiellen gesellschaftlichen Strukturen zusammenhängt und von diesen maßgeblich beeinflusst wird (Reckwitz 2002). Unterschieden werden dabei Praktiken als Einheit und Praktiken in der Ausübung: Die Ausübung einer bestimmten Praktik – beispielsweise zur Arbeit fahren – variiert meist ein wenig je nach Kontext und mit jeder Durchführung. Wenn eine bestimmte Praktik von vielen Menschen einer Gesellschaft wiederholt ausgeführt wird, entsteht diese Praktik als Einheit in der Gesellschaft. Sie besteht dann als recht stabiles gesellschaftliches Konstrukt und dient als Vorlage, wie eine bestimmte Handlung in dieser Gesellschaft durchgeführt wird (Shove et al. 2012). Das Bestehen einer Praktik hängt davon ab, dass sie immer wieder ausgeübt wird. Dementsprechend ändern sich Praktiken, wenn viele Menschen über einen längeren Zeitraum die Praktik anders ausüben (Watson 2012).
Um Praktiken zu untersuchen, werden in den meisten Studien die verschiedenen Elemente, die eine Praktik ausmachen, betrachtet. In der am weitesten verbreiteten Operationalisierung unterteilen Shove et al. (2012) diese Elemente in die Kategorien Materialität/ materielle Arrangements (Objekte und Infrastrukturen), Kompetenzen (Wissen und Fähigkeiten) und Bedeutungen (kulturelle Gepflogenheiten und Bilder). Die Praktik des Pendelns mit dem Auto ließe sich dann beispielsweise durch die materiellen Elemente Auto und Verkehrswege, die Fähigkeit, Auto fahren zu können und das Wissen über passende Routen und die Bedeutung des schnell zur Arbeit Kommens beschreiben. Eine bestimmte Praktik ist außerdem immer eingebettet in ein Praktiken-Netzwerk, welches zeitliche und räumliche Zusammenhänge herstellt (Shove et al. 2012). So ist das Pendeln beispielsweise eingebettet in weitere Alltagpraktiken, die vor, nach oder während des Pendelns stattfinden. Beispiele wären einkaufen, Kinderbetreuung und arbeiten.
Bisherige praxistheoretische Untersuchungen in der Mobilitätsforschung haben die vielfaltigen Zusammenhänge von Mobilitätspraktiken mit anderen Bereichen des sozialen Lebens verdeutlicht. Interventionen für nachhaltiges Pendeln liegen daher nicht nur im direkten Bereich des Pendelns, sondern auch in den Bereichen der Aktivitäten, die vor, während und nach dem Pendeln stattfinden (Cass und Faulconbridge 2016). Weitere zentrale Erkenntnisse bisheriger Forschung sind, dass Interventionen für veränderte Mobilitätspraktiken die verschiedenen Elemente adressieren sollten (Cass und Faulconbridge 2016; Meinherz und Binder 2020). Eine Lücke besteht hier jedoch in der Ableitung konkreter Maßnahmen für nachhaltigere Mobilität.
Vorgehen zur Identifikation von Maßnahmen
Die Identifikation von Maßnahmen für nachhaltiges Pendeln fand im Rahmen des Projektes PendelLabor (2020-2023) statt. Das Projekt hatte zum Ziel, Pendel- und Planungspraktiken in der Rhein-Main-Region zu untersuchen und Ansätze für deren nachhaltige Transformation zu identifizieren (Nitschke et al. 2022). Im Rahmen des Projektes wurde unter anderem ein Reallabor in zwei Landkreisen im Rhein-Main-Gebiet durchgeführt (siehe Abbildung 1). In diesem Reallabor wurden in einem Co-Design-Prozess mit Praxisakteur:innen Maßnahmen für nachhaltiges Pendeln erarbeitet. In einem daran anschließenden Mobilitätsexperiment hatten 40 Pendler:innen die Möglichkeit, anstelle mit dem Auto auf eine andere Art zu pendeln. Die Teilnehmer:innen wurden so ausgewählt, dass verschiedene Pendelwege (in die Großstadt Frankfurt, in die Nachbargemeinde, innerhalb des Landkreises), Pendelhäufigkeiten, Haushaltskonstellationen und sozio-demographische Faktoren (wie Alter und Geschlecht) abgedeckt waren. Deren veränderte Pendelpraktiken wurden anschließend untersucht.
In zwei projektinternen transdisziplinären Workshops wurden basierend auf den Erkenntnissen aus dem Reallabor Maßnahmen für nachhaltigeres Pendeln erarbeitet. Aufbauend auf die Maßnahmen, die im Co-Design entwickelt wurden, wurden in einem ersten Workshop weitere Maßnahmen vom transdisziplinären Projektteam gesammelt. Dieser Workshop war anhand des im Projekt erarbeiteten Wirkgefüges strukturiert, welches Pendeln im Einfluss von vier Bereichen versteht: Siedlungs- und Raumstruktur, Pendelverkehr, Individuum und Haushalt und Erwerbsarbeit und Unternehmen (Nitschke et al. 2022). In einem zweiten Workshop evaluierte das Projektteam das Mobilitätsexperiment hinsichtlich erkennbarer Herausforderungen der Pendler:innen und leitete daraus Interventionen ab. Hierbei waren folgende Fragen leitend: Wo im Wirkgefüge liegen die Knackpunkte für Pendler:innen? Mit welchen Maßnahmen lässt sich auf die Probleme eingehen? Somit entstand eine umfassende Liste an möglichen Maßnahmen, die im Nachgang der Workshops aufbereitet und kondensiert wurde.

Maßnahmen für nachhaltiges Pendeln
Als Ergebnis des oben beschriebenen Vorgehens entstand eine Liste mit 34 aus praxistheoretischer Sicht sinnvollen Maßnahmen (siehe Tabelle 1). Diese Liste ist als Projektergebnis zu verstehen: Sie umfasst also nicht alle denkbaren mobilitätsplanerischen und -politischen Interventionen, sondern vor allem jene Maßnahmen, die sich durch die praxistheoretische Analyse und den umfassenden Blick auf Pendeln im Kontext weiterer Alltagsaktivitäten ergeben. Zudem ging es um Pendeln im städtischen Umland einer Großstadt beziehungsweise vom Umland in die Großstadt – für andere räumliche Kontexte, die etwa ländlicher oder städtischer geprägt sind, können sich weitere und andere Maßnahmen ergeben.

Die Maßnahmen sind neun Handlungsfeldern zugeordnet und stehen jeweils in Bezug zu den drei Praktiken-Elementen und dem Praktiken-Netzwerk (also Aktivitäten vor, während und nach dem Pendeln). Die neun Handlungsfelder sind angelehnt an Hekler und Gertz (2023): Direkt übernommen wurden Förderung des öffentlichen Verkehrs (ÖV), Radverkehr, Fußverkehr, E-Mobilität und Multi- und Intermodalität & Sharing. Das Handlungsfeld Marketing wurde in Kommunikation und Kompetenzförderung unbenannt. Raumstrukturelle Maßnahmen, Organisatorische Maßnahmen und Prozessorientierte Maßnahmen wurden ergänzt, um die indirekten Maßnahmen von Hekler und Gertz (2023) zu spezifizieren. Diese Anpassungen ergaben sich aus der praxistheoretischen Perspektive auf das Pendeln. Der Begriff Kompetenzentwicklung trägt der Tatsache Rechnung, dass die Bereitstellung von Information nicht ausreicht, um die notwendigen Fähigkeiten für bestimmte Pendelpraktiken zu erwerben. Da ein umfassender Blick auf das Pendeln und insbesondere die damit verbundenen Alltagspraktiken viele indirekte Maßnahmen aufzeigte, schien es sinnvoll, diese in weitere Kategorien zu differenzieren.
Die verschiedenen Maßnahmen zielen dabei unterschiedlich stark auf verschiedene Elemente der Pendelpraktiken oder das Praktiken-Netzwerk ab. Die Tabelle zeigt daher außerdem, auf welchen Aspekt eine Maßnahme hauptsächlich einzahlt. So fördern einige Maßnahmen etwa vorwiegend den Kompetenzaufbau, zum Beispiel durch eine individuelle Mobilitätsberatung. Die Maßnahme Funktionierende Infrastruktur in Szene setzen ist daneben ein Beispiel, welches die mit dem Pendeln verbundenen Bedeutungen und Emotionen verändert soll. Andere Maßnahmen haben einen direkten Effekt auf die Materialität beziehungsweise die materiellen Arrangements des Pendelns, indem sie Infrastrukturen und physische Gegebenheiten ändern. Ein Beispiel hierfür wäre der Ausbau fahrradfreundlicher Infrastruktur. Weitere Maßnahmen adressieren das Praktiken-Netzwerk, etwa wenn es um die unabhängige Mobilität für Kinder oder flexible Arbeitszeiten geht. Einzelne Maßnahmen betreffen mehrere Elemente der Pendelpraktik: So werden in einem Mobilitätsexperiment sowohl neue materielle Elemente bereitgestellt (beispielsweise ein E-Bike), der Aufbau neuer Kompetenzen gefördert (etwa Radfahren) und mit dem Pendeln verbundene Bedeutungen verändert (beispielsweise Spaß oder Bewegung). Damit sich Pendelpraktiken verändern, bedarf es sowohl Veränderungen in den verschiedenen Elementen der jeweiligen Praktik als auch Änderungen im Praktiken-Netzwerk (Cass und Faulconbridge 2016; Meinherz und Binder 2020).
Da die Maßnahmen unterschiedliche Elemente oder das Praktiken-Netzwerk adressieren, müssen verschiedene Maßnahmen zu passgenauen Bündeln kombiniert werden, damit sie Veränderungen bewirken können.
Push-, Pull- und Ermöglichung kombinieren
Die im Projekt identifizierten Maßnahmen wurden mit der aktuellen und umfassenden Übersicht von Hekler und Gertz (2023) verglichen, welche den derzeitigen Diskussionsstand im Rahmen von Policy Packages abbildet. Hierbei wurden vier Dinge deutlich: Erstens wurden im Projekt keine Push-Maßnahmen identifiziert. Dies liegt vorwiegend daran, dass am Mobilitätsexperiment Personen teilnahmen, die bereits – aus finanziellen oder gesundheitlichen Gründen – motiviert waren, eine neue Pendelpraktik zu erproben. Auf der einen Seite ist dies eine Limitierung des Projektes, da sich die Ergebnisse auf Erfahrungen von veränderungsoffenen Personen beziehen. Auf der anderen Seite bleiben Push-Maßnahmen auf einer übergeordneten und breiteren Ebene weiterhin relevant, da sie einen Anreiz für Veränderung setzen, der im Projekt durch die Motivation der Teilnehmenden gegeben war. Beispiele hierfür wären eine City-Maut, die Abschaffung des Dienstwagenprivilegs oder die Reduzierung von Kfz-Fahrspuren (Hekler und Gertz 2023). Zweitens zeigt sich, dass sich die meisten in der Literatur diskutieren Pull-Maßnahmen auf Materialität beziehungsweise materielle Arrangements beziehen, wie etwa ein Ausbau der Radinfrastruktur, attraktiver ÖV oder die Ausweitung geteilter Mobilitätsangebote. Während solche Maßnahmen auch in dieser Untersuchung eine hohe Relevanz haben, zeigt sich zudem, dass Maßnahmen der Kompetenzförderung und Bedeutungsveränderung hier hinzugefügt werden sollten. Drittens erweitert die vorliegende Untersuchung die Perspektive auf indirekte Maßnahmen. Die Flexibilisierung der Erwerbstätigkeit ist bereits eine viel diskutierte Maßnahme, jedoch zeigen sich im Bereich der Kinderbetreuung und Einkaufstätigkeiten weitere Maßnahmenfelder, die einen erheblichen Einfluss auf das Pendeln haben können. Hier hat das vorliegende Projekt einige Maßnahmen identifiziert – diese Liste ist aber mit Sicherheit noch nicht komplett und sollte künftig weiter ergänzt werden. Viertens beinhaltet die Übersicht der Maßnahmen schließlich auch solche, die weder der Kategorie Push noch Pull zugeordnet werden können. Vielmehr unterstützen sie die Integration eines neuen Verkehrsmittels in den Alltag – wie beispielsweise das Mobilitätsexperiment.
Aus diesen Erkenntnissen haben wir einen Rahmen für die Formulierung von Policy Packages entwickelt (siehe Abbildung 2). Dieser basiert auf der Idee der Kombination von Push- und Pull- Maßnahmen (Thaller et al. 2021) und ergänzt die ermöglichenden Maßnahmen. Aus einer praxistheoretischen Perspektive auf Mobilität verstehen sich Push-Maßnahmen als solche, die die Zirkulation bestimmter Praktiken-Elemente einschränken und Pull-Maßnahmen als solche, die die Zirkulation bestimmter Elemente fördern. Dies bezieht sich auf die Praktiken als Einheit, also die sozial geteilten Elemente einer Praktik. Die Ableitung entsprechender Maßnahmen scheint in Bezug auf Materialität und materielle Arrangements recht simpel, indem der Zugang verschiedener Verkehrsmittel zur Infrastruktur entweder ermöglicht oder eingeschränkt wird. Kompetenzen und Wissen in Bezug auf bestimmte Mobilitätsformen wiederum lassen sich durch Trainingsprogramme und Informationskampagnen in der Gesellschaft verbreiten. Komplizierter erscheint es, sozial geteilte Bedeutungen zu Mobilitätsformen zu verändern. Ein Ansatz wäre hierbei die Umsetzung von prozessorientierten Maßnahmen wie betriebliches Mobilitätsmanagement, da sich hierdurch Narrative über Mobilität in Betrieben beeinflussen lassen. Diese Hypothese wäre zukünftig zu überprüfen. Eine andere Möglichkeit wäre es, Bedeutung durch Kommunikationskampagnen zu verändern, wie es Meinherz und Fritz (2021) vorschlagen. Insgesamt lässt sich das Portfolio an Push- und Pull-Maßnahmen jedoch durch solche Maßnahmen ergänzen, die auf Kompetenzen und Bedeutungen abzielen.

In einem Maßnahmenbündel sollen Push-Maßnahmen also eine bestimmte Pendelpraktik erschweren oder verhindern und Pull-Maßnahmen eine alternative Pendelpraktik attraktiver machen. Unsere und andere Studien zeigen jedoch, dass sich unterschiedliche Pendelpraktiken nicht einfach miteinander ersetzen lassen, sondern vielmehr mit komplexen Veränderungen im Alltag einhergehen (Cass und Faulconbridge 2016; Meinherz und Binder 2020). Daher sollten ermöglichende Maßnahmen in effektive Maßnahmenbündel aufgenommen werden. Dieses Konzept baut auf der Idee auf, dass der Wechsel von Verkehrsmitteln für Alltagswege ein Prozess mit mehreren Stufen ist: Das alte Verkehrsmittel aufgeben, das neue Verkehrsmittel auswählen und dieses in den Alltag integrieren (Meinherz und Binder 2020). Ermöglichende Maßnahmen sollen dabei den Übergang zwischen verschiedenen Pendelpraktiken unterstützen und das Erlernen neuer Routinen erleichtern. Entsprechende Maßnahmen befördern die Aneignung einer neuen Pendelpraktik, indem sie die Integration eines neuen Verkehrsmittels in die Alltagsroutine erleichtern. Diese Maßnahmen stehen also zwischen der Praktik als sozial geteilter Einheit und der Durchführung von Praktiken mit dem Ziel, mehr Menschen für bestimmte Praktiken zu gewinnen. Sie sollen dabei unterstützen, die bereits existierenden Elemente miteinander zu verbinden, um eine bestimmte Mobilitätsform zu adaptieren. Ermöglichende Maßnahmen können so den Effekt von Push-Maßnahmen moderieren und unterstützen die Wirkung von Pull-Maßnahmen. Ein effektives Policy Package sollte demnach aus Push- , Pull- und ermöglichenden Maßnahmen bestehen.
Die konkrete Ausformulierung einzelner Maßnahmenbündel hängt wiederum stark von den jeweiligen Bedingungen im Kontext der Umsetzung ab. Je nachdem welche Elemente bereits gesellschaftlich verfügbar sind, ist die Einschränkung oder Förderung weiterer Elemente mehr oder weniger relevant. Sind beispielsweise wichtige materielle Arrangements bestimmter Mobilitätspraktiken bereits verfügbar – wie etwa Radinfrastruktur – können ermöglichende Maßnahmen eine bedeutende Rolle spielen, um mehr Menschen für diese Mobilitätspraktik zu gewinnen. Sie sind daher essenziell für eine Mobilitätswende, da sie auch kurzfristig umgesetzt werden können und eine effiziente Nutzung bestehender Infrastruktur ermöglichen.
Ein Rahmenprozess für Maßnahmenbündel
Basierend auf einer praxistheoretischen Untersuchung von Pendeln in der Rhein-Main-Region konnten im Projekt PendelLabor Maßnahmen für nachhaltiges Pendeln abgeleitet werden, die das Spektrum derzeitiger Literatur erweitern. Daraus wurde ein Rahmen für die Formulierung effektiver Policy Packages abgeleitet, der auf zwei zentralen Erkenntnissen basiert: Erstens sollten effektive Maßnahmenbündel alle Elemente von Pendelpraktiken (Materialität/ materielle Arrangements, Kompetenzen und Bedeutungen) sowie damit verbundene Alltags- und Arbeitspraktiken adressieren. Push-Maßnahmen sind dann solche, die die Zirkulation bestimmter Praktiken-Elemente einschränken und Pull-Maßnahmen solche, die die Zirkulation bestimmter Elemente fördern. Zweitens sollten ermöglichende Maßnahmen in effektive Policy Packages integriert werden. Diese Maßnahmen unterstützen das Erlernen neuer Routinen und somit die Integration neuer Verkehrsmittel in den Alltag. Besonders relevante Maßnahmen sind dabei Mobilitätsexperimente oder das Ausprobieren neuer Mobilitätspraktiken ohne anfängliche (finanzielle) Einschränkungen. Somit können Menschen neue Routinen ohne Zwang oder Erfolgsdruck erlernen.
Die Relevanz bestimmter Maßnahmen hängt allerdings sehr stark von den jeweiligen Bedingungen im Kontext der Umsetzung ab. Je nachdem, welche Materialität beziehungsweise materiellen Arrangements, Kompetenzen und Bedeutungen in einem bestimmten räumlichen Kontext vorherrschen, desto mehr oder weniger wichtig sind andere Aspekte. Maßnahmenbündel sollten daher immer auf diesen Kontext angepasst sein.
Ihre Gestaltung und Umsetzung sollte in einen fortlaufenden Trägerprozess eingebettet sein. Ein solcher Prozess wäre beispielsweise die Umsetzung eines Mobilitätsmanagements. Dies könnte daher ein geeigneter Ansatz sein, um kontextspezifische Maßnahmenbündel zu identifizieren und deren Umsetzung zu unterstützen. Künftige Forschung sollte dieses Potenzial näher beleuchten.
References
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