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- Ein von Bürger:innen initiierter Bürgerrat
- Mini Publics als politische Hoffnungsträger
- Bürgerlotterie: Sozial gerechte Klimapolitik per Zufall?
- Fallstudie Klima-Zukunft Vorarlberg
- Soziodemographische Schieflagen
- Merkmal formaler Bildungsabschluss
- Merkmal Alter
- Merkmal Migrationsgeschichte
- Teilnehmendenauswahl als Gelingensbedingung
- About the author(s)
- References
Published 15.10.2023
Bürgerräte in der Klimakrise
Die soziale Frage am Fallbeispiel Klima-Zukunft Vorarlberg
Citizens‘ Councils and the Climate Crisis
The Social Question - A Case Study on Vorarlberg Citizens‘ Council on Climate Future
Keywords: Bürgerrat; Demokratie; Klimarat; Klimakrise; Partizipation; Mini publics; citizens’ council; democracy; climate crisis; participation
Abstract:
Bürgerräte kommen in der Bewältigung der Klimakrise zum Einsatz, um gesellschaftspolitisch umstrittene Maßnahmen mit Blick für soziale Gerechtigkeit zu diskutieren. Die Innovation liegt vor allem in der Zufallsauswahl der Teilnehmer:innen, die die Bevölkerung in ihrer soziodemographischen Zusammensetzung abbilden sollen. Das demokratiepolitische Ziel besteht darin, allen Stimmen gleichberechtigt Gehör zu verschaffen und somit der sozialen Schieflage der traditionellen Institutionen entgegenzusteuern. Damit sind Hoffnungen auf eine höhere Inklusivität und schließlich Responsivität des politischen Systems für alle Bevölkerungsgruppen verbunden, was wiederum die Vertrauenskrise der Demokratie entschärfen soll. Der Forschungsartikel zeigt anhand des Bürgerrats Klima-Zukunft Vorarlberg, warum Repräsentativität nicht nur, aber besonders bei Klimaräten, eine Gelingensvoraussetzung ist und welche Anforderungen an den Rekrutierungsprozess der Teilnehmer:innen gestellt werden müssen.
Mini publics are used for dealing with the climate crisis to discuss socio-politically controversial measures with a focus on social justice. The innovation lies primarily in the random selection of participants, who are supposed to represent the population in its sociodemographic composition. The policy goal is to give all parts of society an equal voice, thus counteracting social imbalances of traditional institutions. This is linked to hopes for increasing inclusiveness and, finally, higher responsiveness of the political system for all social classes, which in turn is intended to defuse the crisis of trust in democracy. Using the example of the Vorarlberg Citizens’ Council on Climate Future, this research article shows why representativeness is a prerequisite for success, not only but especially in climate assemblies and what requirements have to be imposed on the recruitment process of participants.
Ein von Bürger:innen initiierter Bürgerrat
Seit nunmehr zehn Jahren sind Bürgerräte in der Vorarlberger Landesverfassung verankert. Die Konstitutionalisierung brachte den Vorarlberger:innen das Recht, selbständig Bürgerräte einzuberufen, indem sie für das Thema ihrer Wahl mindestens 1.000 Unterstützungserklärungen sammeln. Der nachfolgende Text widmet sich einem solchen von Bürger:innen initiierten Bürgerrat, nämlich Klima-Zukunft Vorarlberg, als Fallstudie für die Herausforderung der sozialen Frage in der Klimakrise. Im Mittelpunkt steht die Untersuchung der Prozessgestaltung. Sie behandelt die Frage, warum Repräsentativität besonders bei Klimaräten eine Gelingensvoraussetzung ist, welche Anforderungen an den Rekrutierungsprozess der Teilnehmer:innen gestellt werden müssen und was sich daraus für die künftige Organisation von Bürgerräten als Teil der räumlichen Planung und Entwicklung von Städten und Regionen lernen lässt.
Mini Publics als politische Hoffnungsträger
Bürgerräte und Bürgerversammlungen als mini publics, also repräsentatives Abbild der Bevölkerung, kommen meist dann zum Einsatz, wenn gesellschaftspolitisch umstrittene Fragen zu diskutieren sind (Farrell und Suiter 2019). Deshalb verwundert es nicht, dass zuletzt gehäuft Klimaräte auf der politischen Agenda stehen. Da die Herausforderung der Klimakrise sämtliche Gesellschaftsschichten betrifft, zahlreiche Politikfelder berührt und umwälzende soziale und wirtschaftliche Konsequenzen erfordert beziehungsweise auch bei Nichthandeln nach sich ziehen wird, sind repräsentativ-deliberative Instrumente besonders gefragt (Dryzek und Stevenson 2014; Wissen 2019). Ihr Vorteil wird nicht zuletzt darin gesehen, dass sie langfristige Lösungen eher in den Blick nehmen können als traditionelle Institutionen der repräsentativen Demokratie, die stets auch die nächste Wahl politisch kalkulieren (Fischer 2017; Smith 2021; Sandover et al. 2021). Mittlerweile gibt es umfassende empirische Evidenz, dass Deliberation in mini publics den Gemeinsinn (Wang et al. 2020) sowie insbesondere die Sorge um künftige Generationen fördert (MacKenzie und Caluwaerts 2021; Kulha et al. 2021). Außerdem sind sie stets auch Instrumente der politischen Bildung, wie sie in der Klimakrise als nötig angesehen werden (Devaney et al. 2020; Muradova et al. 2020).
Untersuchungen zeigen, dass deliberative Prozesse positive politische Werthaltungen unterstützen und befördern können, etwa bezogen auf politische Selbstwirksamkeit, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten als Bürger:in sowie allgemein ins politische System. Während diese Effekte auf die Teilnehmer:innen bislang in ihrer kurzfristigen Wirkungen nachgewiesen waren (Gastil 2018), gibt es mittlerweile Belege für die bleibende Wirkung der deliberativen Erfahrung (Knobloch et al. 2020) – wobei sich das gesteigerte Politikvertrauen kontextspezifisch auf jenen Politikbereich, der zur Beratung stand, verorten lässt (Boulianne 2019). Außerdem lassen sich in Bezug auf die Vertrauensfrage – wenn auch in geringerem Ausmaß – Hinweise auf Spillover-Effekte auf die breitere Öffentlichkeit finden (van der Does und Jacquet 2023). Letztere treten hauptsächlich bei länger dauernden oder institutionalisierten Prozessen auf, wodurch höhere mediale Aufmerksamkeit und Responsivität gesichert sind. Somit erweisen sich jene Prozesse als wirkmächtige Antworten auf die Krise der Demokratie, indem die deliberative Erfahrung hilft, demokratische Werthaltungen wie eine Kultur des guten Gesprächs und des aktiven Zuhörens zu befördern, und die Vertrauenswerte in traditionelle demokratische Institutionen steigert (Grönlund et al. 2010).
In Bezug auf die Klimakrise kann mithilfe von mini publics ein gesellschaftliches Mandat (Howarth et al. 2020) für eine ambitionierte Klimapolitik erreicht werden. Die wachsende Unterstützung ist nicht nur unter den Teilnehmer:innen sondern auch in der Öffentlichkeit nachgewiesen (Devaney et al. 2020). Zudem gibt es für die Klimaräte in Irland, Frankreich und dem Vereinigten Königreich Evidenz, dass sie das nachfolgende Gesetzgebungsverfahren zur Klimapolitik tatsächlich beeinflussten (Duvic-Paoli 2022). Nicht nur in den genannten Staaten, auch auf regionaler und kommunaler Ebene lassen sich Klimaräte nicht mehr aus der Politikgestaltung wegdenken, wie hier am Fallbeispiel Vorarlberg gezeigt wird.
Bürgerlotterie: Sozial gerechte Klimapolitik per Zufall?
Während es sowohl unter Wissenschaftler:innen als auch Aktivist:innen durchaus Stimmen gibt, die Demokratien im Kampf gegen die Klimakrise und ihre Folgen als zu langsam und ineffektiv betrachten und sich folglich für einen environmental authoritarianism aussprechen (Nie et al. 2020; Beeson 2010; Shahar 2015), zeigen wissenschaftliche Untersuchungen mehrheitlich das Überwiegen der Vorteile von demokratischen Aushandlungsprozessen. So belegte der V-Dem-Report, dass Demokratien eine ehrgeizigere Klimapolitik betreiben (V-Dem 2021). Um ein gesamtgesellschaftliches, sozial ausgewogenes Mandat zu erhalten, setzen Demokratien immer öfter auf Klimaräte.
Mit der Heterogenität der Teilnehmer:innen ist das Ziel verbunden, soziale Gerechtigkeit und höhere Legitimation für politische Maßnahmen zu erreichen. Wie Lea Elsässer nachwies, antwortet das politische System unzureichend auf das Gemeinwohl, weil die Anliegen verschiedener sozialen Klassen nicht in gleichem Maße bearbeitet werden. Für einen Zeitraum von über 30 Jahren und unterschiedliche Regierungskonstellationen hinweg zeigt sie am Beispiel Deutschlands, dass die politischen Entscheidungen des Bundestages stark zugunsten der oberen Berufs- und Einkommensgruppen verzerrt sind (Elsässer 2018; Elsässer et al. 2017).
Mini-publics stellen eine Maßnahme auf prozeduraler Ebene dar, um mittels Repräsentativität mehr Responsivität in der politischen Entscheidungsfindung und letztlich mehr Legitimation zu erreichen (Pow 2021). Ihre Teilnehmer:innen sind mittels qualifizierter Zufallsauswahl ausgewählte Personen, die nach bestimmten Kriterien (Geschlecht, Alter, formaler Bildungsabschluss, Einkommensklasse et cetera) die Bevölkerung abbilden (Ehs 2019). Mini-publics bewirken auf diese Weise gleiche Repräsentation entlang soziodemographischer Kriterien und sind eine Erweiterung des politischen Beteiligungskataloges, die strukturell auf die soziale Schieflage der Partizipation antwortet. Ihre Wirkung besteht unter anderem darin, jene Menschen (wieder) in den politischen Prozess zu bringen und zu hören, die nicht von selbst politisch aktiv sind. Darüber hinaus gewährleisten sie durch den entschleunigenden Deliberations- und Moderationsprozess ein nichtpopulistisches Partizipationsinstrument, das Desinformation entgegenwirkt, wie es nicht zuletzt in der Klimakrise gebraucht wird. Der Soziologe Fredrik Engelstad argumentierte bereits 1989, dass demokratische Gleichheit „(t)he strongest normative argument in favour of sortition“ sei (Engelstad 1989: 24). Seither ist die Literatur zur Bürgerlotterie als Auswahlverfahren kaum mehr überblickbar, das Gleichheits- und Gerechtigkeitsargument blieb stets im Fokus (Stone 2011; Stone 2016).
Auf regionaler und kommunaler Ebene gilt Vorarlberg im deutschsprachigen Raum als Pionier und Vorbild: Bürgerräte werden seit 2006 durchgeführt und sind seit 2013 in der Landesverfassung verankert. Seit der Institutionalisierung ist es möglich, dass nicht nur Landtag oder Landesregierung einen Bürgerrat beschließen, sondern auch Vorarlberger:innen selbst mittels 1.000 Unterschriften die Initiativmöglichkeit zukommt. Die 2013 erlassene Richtlinie zur Einberufung und Durchführung von Bürgerräten präzisiert das Wirkungsziel: „Eine bessere Einbeziehung und Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an politischen Prozessen kann helfen, die Kluft zwischen dem politischen System und der Gesellschaft zu verringern, der zu beobachtenden Politikverdrossenheit entgegen zu wirken und gemeinsam getragene Lösungen für die drängenden Herausforderungen unserer Zeit zu finden“ (Präambel zur Richtlinie). Zur Teilnehmendenauswahl führt die Richtlinie unter § 5b aus: „Die Auswahl der teilnahmeberechtigten Personen erfolgt auf Basis des Melderegisters/Wählerverzeichnisses für das betroffene Gebiet. Bei der Zufallsauswahl ist auf eine größtmögliche Diversität zu achten. Daher ist es notwendig, die Kriterien Alter und Geschlecht bei der Auswahl zu berücksichtigen.“
Fallstudie Klima-Zukunft Vorarlberg
Die präsentierten Daten beruhen auf der wissenschaftlichen Evaluation des Bürgerrats Klima-Zukunft Vorarlberg, die im Auftrag des Büros für Freiwilliges Engagement und Beteiligung (FEB, Amt der Vorarlberger Landesregierung) durchgeführt wurde. Der Bericht gibt nicht die gesamte wissenschaftliche Bewertung wieder, sondern konzentriert sich auf die Auswahl der Teilnehmer:innen und erörtert sie gemäß den OECD-Evaluationskriterien im Bereich Richtigkeit der Prozessgestaltung (OECD 2021).
Der Bürgerrat Klima-Zukunft Vorarlberg ging auf eine Initiativgruppe zurück, die mittels Beibringung von 1.278 Unterstützungserklärungen 2021 den zwölften landesweiten Bürgerrat ausgelöst hatte. Die von den Initiator:innen gestellte Frage knüpfte an den vom Vorarlberger Landtag im Juli 2019 ausgerufenen Klimanotstand an und lautete: „Wie kann ein gemeinsames Herangehen an die große Herausforderung der Klimakrise in Vorarlberg gelingen? Wo braucht die Politik uns? Wo brauchen wir die Politik?“ Das FEB übernahm seinem Auftrag entsprechend die Organisation des Bürgerrats, wählte 600 Vorarlberger:innen unter Beachtung der Kriterien Geschlecht (m/w), Alter (in drei Kohorten: 15–35, 36–55, 56–75) und Region (Bludenz, Bregenz, Dornbirn, Feldkirch) zufällig aus dem Melderegister und lud sie zum Bürgerrat ein. 180 Personen sagten ab, 400 reagierten nicht, 20 Ausgeloste sagten zu, am Bürgerrat teilzunehmen. Sie alle wurden zur Teilnahme eingeladen.
Die Evaluation arbeitete mit standardisierten Fragebögen, einer teilnehmenden Beobachtung und qualitativen Interviews. Zusätzlich zu den in der Vorarlberger Rechtsordnung vorgegebenen und vom FEB für die Teilnehmer:innenauswahl angewandten Charakteristika Geschlecht, Alter und Region wurden gemäß OECD zur Analyse der sozialen Ausgewogenheit weitere Merkmale erhoben: formaler Bildungsabschluss, Migrationsgeschichte und Einkommen. Neben der Erhebung der soziodemographischen Merkmale behandelten die Fragebögen folgende Themenbereiche: politisches Interesse, politische Aktivität (insbesondere in Bezug auf das Thema Klimakrise), Engagementwille und -verhalten, Vertrauen in die Landespolitik sowie Einstellungen zur Klimakrise. Außerdem wurden die drei Ebenen sozialen Lernens (kognitiv, normativ und beziehungsorientiert; Baird et al. 2014) aufgenommen sowie etablierte standardisierte Statements zur Einstellung gegenüber Umwelt und Klima eingefügt (Dunlap 2008). Die teilnehmende Beobachtung orientierte sich an den OECD-Kriterien (OECD 2021) und ergänzte sie um Standards der Partizipationsforschung zum Klimawandel (Scherhaufer und Grüneis 2014). Mit 13 Teilnehmer:innen wurden leitfadengestützte Interviews von jeweils 30 bis 45 Minuten durchgeführt. Der Leitfaden ermöglichte die Strukturierung und (Re-)Fokussierung der Interviews und gewährleistete thematische Vergleichbarkeit (Lamnek 2005). Die Interviews wurden grob kodiert und inhaltsanalytisch sowie themenzentriert ausgewertet (Flick 2007). Die Auswahl der 13 Interviewpartner:innen erfolgte auf Basis soziodemographischer Ausgewogenheit (Strauss 1998).
Soziodemographische Schieflagen
Die Auswertung zeigt, dass zwar in keinem der drei von der Vorarlberger Rechtsordnung selbst gesetzten Merkmale Repräsentativität erreicht werden konnte, hinsichtlich Geschlecht (Abbildung1) und Region (Abbildung 2) aber zumindest Diversität. Ein auffälliges Manko gab es beim Charakteristikum Alter (Abbildung 3); die Jugend war besonders unterrepräsentiert. Hinsichtlich der weiters für die Evaluation berücksichtigten Dimensionen Einkommen, formaler Bildungsabschluss und Migrationsgeschichte belegen die Daten, dass einerseits Menschen mit höchstem Einkommen und andererseits Menschen mit formal niedrigem Bildungsabschluss fehlten. Menschen mit Migrationshintergrund waren zwar vertreten, jedoch wiesen sie ausschließlich eine westeuropäische Migrationsgeschichte auf; Menschen mit nicht-westeuropäischer Migrationsgeschichte – in Vorarlberg vor allem aus der Türkei – waren nicht Teil des Bürgerrats.
Merkmal formaler Bildungsabschluss
Die Analyse von Repräsentativität und Diversität des Bürgerrats Klima – Zukunft Vorarlberg bestätigt die bekannte soziale Schieflage in der politischen Beteiligung durch eine starke Teilnahmetendenz von politisch interessierten und formal höher gebildeten Bürger:innen. Der Rekrutierungsprozess eines Vorarlberger Bürgerrats begünstigt jene (Bildungs-)Schicht, die sich ohnehin beteiligen möchte und dies auch in anderen Formaten rege tut. Sozioökonomisch Benachteiligte wurden durch den Einladungsprozess nicht gesondert angesprochen. Beinahe die Hälfte der Teilnehmer:innen verfügte über einen Hochschulabschluss, während in Vorarlberg lediglich 15,4 Prozent einen solchen Abschluss innehaben.
Merkmal Alter
Eine ähnliche Schieflage zeigte sich beim Alter: Während vor allem die jüngste ausgeloste Alterskohorte (15–35) kaum zusagte, nahm die älteste Kohorte (56–75) die Einladung überproportional an. Der Mangel an jungen Menschen trotz des insbesondere für zukünftige Generationen wichtigen Themas bildete in den Kleingruppen des Bürgerrats den ersten Diskussionspunkt.
Merkmal Migrationsgeschichte
Allein auf Grundlage der Ex-ante-Fragebögen, die lediglich erhoben, ob die befragte Person im Ausland geboren sei, beziehungsweise wie lange sie schon in Vorarlberg lebt, schien es beim Merkmal Migrationsgeschichte zunächst eine Überrepräsentation zu geben. Die teilnehmende Beobachtung und die qualitativen Interviews offenbarten jedoch, dass die Migrant:innen unter den Teilnehmer:innen vor allem aus dem deutschsprachigen Ausland (Deutschland, Schweiz) stammten. Obgleich Vorarlberg einen sehr hohen Anteil von Menschen mit türkischer und südosteuropäischer Migrationsgeschichte aufweist, fand sich kein:e Teilnehmer:in dieser Herkunft, wie schließlich auch viele Interviewpartner:innen kritisch anmerkten. Die größten Gruppen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft in Vorarlberg sind Deutsche, gefolgt von Türk:innen und mit einigem Abstand Personen mit einem bosnischen, serbischen, syrischen, rumänischen, kroatischen, ungarischen, italienischen, schweizerischen, russischen oder afghanischen Pass. 34 Prozent der Vorarlberger Jugendlichen im Alter von 15 bis 24 Jahren haben Migrationsgeschichte, das heißt sie selbst oder ein Elternteil sind zugewandert.
Auf Grundlage jener Daten wurden qualitative Interviews durchgeführt. Sie befassten sich mit den Lebensrealitäten und Erfahrungen der Teilnehmer:innen und ließen mehr Raum für die Erzählung persönlicher Eindrücke. In Bezug auf die in diesem Forschungsartikel diskutierte Frage wurden die Interviewpartner:innen nach der von ihnen selbst im Bürgerrat aufgebrachten fehlenden Repräsentativität und Diversität gefragt. Im Folgenden sind Zitate aus den Interviews angeführt, die die erkannten sozialen Schieflagen betreffen:
Also, vom Bürgerrat hat mir die Zusammensetzung nicht gepasst, weil: Es waren zu wenig junge Leute da. Und zu viele alte. Und wenn man was verändern und bewegen will, braucht‘s einfach mehr junge Leute. Also, mir war meine Altersgruppe zu stark vertreten.
Meine Cousine ist gerade 18 geworden; sie hatte auch einen Brief gekriegt, aber sie hat sich dann gedacht, so quasi, dass sie gar nicht weiß, was sie da soll. Ich glaube, wenn man das für die Jugend noch ein bisschen attraktiver machen wollen würde, dann müsste man denen vielleicht ein bißchen einen anderen Brief schreiben, vielleicht ein bißchen altersstandardisiert.
Anwesend waren eher alle so in meiner Altersschicht, so um die 50 herum und älter – und natürlich auch eine Schicht, die es sich schon leisten könnte, quasi eineinhalb Tage dort teilzunehmen.
Neben dem Fehlen junger Menschen merkten die Teilnehmer:innen an, dass ihrer Ansicht nach auch jene Gesellschaftsschicht fehle, die die Last der Klimakrise und der notwendigen Gegenmaßnahmen vor allem tragen würde. In Bezug auf diese Aspekte ist die Organisationsschwäche des Bürgerrats offenkundig:
Die größte Last werden sicher die tragen, die auf der niedrigen Einkommensschiene sind, weil viele Sachen einfach auch eine Verteuerung im Leben bringen.
Die Gewinner sind, sagen wir, mal eher die intellektuelleren Schichten.
Ich glaube schon, dass man, wenn man alle Maßnahmen hart durchzieht, dass es dann die Minderheiten oder jene in ärmeren sozialen Schichten, dass es die härter treffen könnten.
Es betrifft eigentlich jeden. Nur schwerer erwischt es immer die Leute, die sowieso schon am Kämpfen sind.
Ebenso war das Fehlen von Menschen mit nicht-westeuropäischer Migrationsgeschichte Thema:
Ich glaub, von der Vorarlberger Bevölkerung her: Das war nicht ganz ausgeglichen. Weil wer vertreten war, es sind ja mittlerweile im Rheintal viele Deutsche, die da leben und arbeiten, die waren sehr gut vertreten.
Es fehlen halt schon ein bisschen die Minderheiten, hatte ich das Gefühl. Leute mit Migrationshintergrund waren eigentlich gar keine da.
Andere Nicht-Österreicher, die vielleicht nicht so gut Deutsch können, fehlten. Also, dass da vielleicht eine Hemmung da war teilzunehmen. Aber prinzipiell find ich‘s toll, dass man nicht Staatsbürgerin sein muss, um daran teilzunehmen.
Es waren halt so ziemlich Gleichgesinnte bei dem Ganzen dabei und, ich glaube, da hat schon ein bisschen gefehlt, dass zum Beispiel die mit Migrationshintergrund oder, ja, halt verschiedenste Bürgerstufen mit dabei sind. Also, da fand ich, das war ein bisschen schade. Also, da hätt‘ ich mir noch mehr erwartet.
Aufgrund der Nichtbeachtung von Einstellungen zum Klimawandel bei der Teilnehmer:innenauswahl war aus Sicht der Interviewten nicht das gesamte mögliche Meinungsspektrum vertreten, sondern hauptsächlich jene, die ohnehin von der Dringlichkeit klimapolitischer Anpassungen überzeugt sind:
Es sind alle in die gleiche Richtung, Denkweise gegangen. Das heißt, die da eingeladen worden waren und gekommen sind, die haben natürlich in die Richtung gedacht: „Da wollen wir wirklich verändern und das ist gut.“ Leider sind keine Gegenmeinungen dagewesen. […] Also, von einer Ausgeglichenheit kann man nicht reden, muss ich ganz ehrlich sagen.
Es war niemand da, der gesagt hat: „Das ist alles ein Blödsinn!“ Sondern jeder wusste, was er tut, und viele radeln zur Arbeit. […] Also, viele machen etwas und leisten ihren persönlichen Teil und jedem war es eigentlich zu wenig, was die Politik macht.
Die Interviews bestätigen, was bereits die Auswertung der quantitativen Daten gezeigt hatte, nämlich dass die Teilnehmer:innen stärker als die Personen aus der Kontrollgruppe politisch aktiv sind. Somit fungierte der Bürgerrat als weiteres Vehikel, sich (umwelt-)politisch einzubringen, erreichte aber jene nur unterdurchschnittlich, die nicht politisch aktiv sind. In den Worten der Interviewten:
Es waren auch mehr dabei, die vielleicht immer schon eher in so Bürgerprotestbewegungen dabei sind oder im Umweltschutz schon aktiv sind. Also, so die neutrale Gruppe war für mich jetzt schlechter vertreten.
Ich bin selbst schon im Gemeinderat tätig und im Umweltausschuss und so. Das war natürlich naheliegend, dass ich durch das im ganzen Thema drinnen bin und dass ich das natürlich auch weitergeben will.
Da demnach hauptsächlich Vorarlberger:innen teilnahmen, die formal höher gebildet sind und meist schon zuvor politisch aktiv waren, fielen einige Effekte sozialen Lernens geringer aus als sie bei einer höheren soziodemographischen Ausgeglichenheit hätten sein können.
- Auf der kognitiven Ebene war bei den Teilnehmer:innen kaum Wissenszuwachs erkennbar, außer, dass sie nach dem Bürgerrat wussten, dass das Thema Verkehr der bedeutendste Treiber der Klimakrise in Vorarlberg ist.
- Auf der normativen Ebene war auffällig, dass sich durch die Teilnahme am Bürgerrat immerhin bei 57 Prozent die Einstellung zum Thema Klimakrise veränderte. Bezüglich der Relevanz des Klimawandels im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Herausforderungen waren die Zustimmungswerte beim Punkt Umwelt- und Klimaschutz insgesamt am höchsten, jedoch wies der Zustimmungswert beim Thema soziale Gerechtigkeit nach dem Bürgerrat die meiste Steigerung auf.
- Die Analyse der beziehungsorientierten Ebene belegt, dass in der Kontrollgruppe 32 Prozent anderen Menschen misstrauten, wohingegen unter den Teilnehmer:innen des Bürgerrats mit Ausnahme einer Person alle sowohl vor als auch nach dem Bürgerrat angaben, dass man Menschen normalerweise vertrauen könne. In den übrigen erhobenen Daten zeigten sich keine signifikanten Auffälligkeiten hinsichtlich sozialen Lernens auf der beziehungsorientierten Ebene.
Teilnehmendenauswahl als Gelingensbedingung
Mit jener Repräsentativität, die mini publics durch die Bürgerlotterie idealerweise erreichen, sind Hoffnungen auf eine höhere Inklusivität und schließlich bessere Responsivität des politischen Systems für alle Bevölkerungsgruppen verbunden. Die Analyse zeigte, dass der Bürgerrat Klima-Zukunft Vorarlberg in Fragen von Repräsentativität und auch zumindest Diversität sowohl hinter den OECD-Richtlinien als auch hinter den eigenen Vorgaben zurückblieb. Während er Repräsentativität weder in der Kategorie Geschlecht noch beim Wohnort, in diesen beiden Bereichen aber wenigstens Diversität erreichte, verpasste er beides beim Kriterium Alter. Die Unterrepräsentation der Jugend war für die Teilnehmer:innen offensichtlich und wurde kritisch bemerkt. Die Teilnehmer:innen wiesen außerdem darauf hin, dass ihrer Ansicht nach die Last der Klimakrise und der notwendigen Gegenmaßnahmen vor allem jene sozioökonomisch benachteiligte Gesellschaftsschicht tragen würde, die im Bürgerrat fehlte. Diese Leerstelle ist darauf zurück zu führen, dass Charakteristika wie formale Bildung und Einkommen bei der Rekrutierung der Teilnehmer:innen nicht berücksichtigt sind. Jene Auslassung läuft der Zielsetzung von mini publics mit Blick auf sozial ausgeglichene Partizipation entgegen. Wenn Bürgerräte erst recht wieder nur sozioökonomische Eliten einbinden, mindert dies die Legitimität des Prozesses und der daraufhin getroffenen politischen Entscheidungen.
Unter Berücksichtigung der sozialen Frage insbesondere bei Klimaräten ist daher der Rekrutierung der Teilnehmer:innen höhere Aufmerksamkeit zu widmen. Wenn vorrangig jene miteinander diskutieren, die ohnehin von der Dringlichkeit klimapolitischer Anpassungen überzeugt sind, und sie noch dazu eine soziodemographisch ziemlich homogene Gruppe bilden, verlieren sich die positiven Effekte eines Bürgerrats, wie sie in Ansätzen festgestellt werden konnten. Für den Einsatz von Bürgerräten in Planungsprozessen zog die Evaluation folgende Schlüsse und sprach sie als Empfehlung ans Amt der Vorarlberger Landesregierung aus:
- Erweiterung der Rekrutierungsmethode um aufsuchende Beteiligung:
Das Ziel, durch die Zufallsauswahl des Losverfahrens Meinungen von Menschen in den politischen Diskurs zu tragen, die ansonsten kaum abgebildet sind, wurde nicht erreicht. Die Studie Die Übergangenen belegte jüngst, dass für sozioökonomisch Benachteiligte die Klimakrise zwar ein großes Problem darstelle, allerdings soziale Nöte dringender seien (Fröhlich et al. 2022). Um gesellschaftliche Mehrheiten und Akzeptanz für eine ambitionierte Klimapolitik zu erreichen, muss auch die soziale Frage beantwortet werden. Organisatorisch bedarf es statt der bloßen Versendung von Einladungsbriefen einer hybriden Rekrutierungsstrategie, die zusätzlich telefonisch und/oder mit aufsuchender Beteiligung die Selbstselektion entlang sozialer Klassen eindämmt (Strothmann 2020). - Erweiterung der Auswahlkriterien um unterrepräsentierte Gruppen:
Partizipation und Vertrauen in die Demokratie sind eine Frage der sozialen Lage. Deshalb ist es unerlässlich, sozioökonomische Merkmale wie formale Bildung und Einkommen für die Teilnehmer:innenauswahl heranzuziehen. Wie nicht zuletzt aus der soziologischen Frauenforschung bekannt ist, kommt der Repräsentativität einer politisch wirkenden Gruppe auch Symbolkraft zu. Bärbel Schöler-Macher prägte einst den Ausdruck der subjektiven Fremdheitserfahrung (Schöler-Macher 1994), die Frauen gegenüber dem politischen System verspüren, in dem sie sich nicht deskriptiv abgebildet sehen. Ebendies trifft auf ethnische Gruppen zu; schließlich gehe es darum, den politischen Diskurs durch Einbezug pluraler Perspektiven zu verbessern (Bird et al. 2011). Erfolgreiche mini publics unternehmen große Anstrengungen, jene Gruppen einzubeziehen, die in den traditionellen demokratischen Institutionen unterrepräsentiert sind. Daran müssen sich Vorarlberger Bürgerräte orientieren. - Beachtung sozial ungleicher Teilnahmehürden:
Weiters muss bei der organisatorischen Ausgestaltung der Teilnahme mehr soziale Sensibilität zum Tragen kommen. Auch hier gibt es Hürden, die sozioökonomisch ungleich wirken. Bereits die Einladungsbriefe waren sogar für formal Höhergebildete nicht vollumfänglich verständlich. Künftig müsste darauf geachtet werden, dass die schriftliche Korrespondenz in einfacher Sprache erfolgt und zumindest eine Zusammenfassung in weiteren Alltagssprachen wie Türkisch beigelegt ist. Außerdem sollten finanzielle Entschädigungen (Tagegeld) und gruppenspezifische Teilnahmeanreize geschaffen werden. Zur gezielten Ansprache von Jugendlichen und jungen Erwachsenen könnten beispielsweise Gutscheine für beliebte Freizeitaktivitäten (Saisonkarte fürs Schwimmbad oder Kinogutscheine) in Aussicht gestellt werden.
Repräsentativität in Bezug auf die soziale Lage erweist sich nicht nur bei Klimaräten, aber dort besonders als Gelingensvoraussetzung. Die Fallstudie zum Bürgerrat Klima-Zukunft Vorarlberg erörterte, inwiefern an den Rekrutierungsprozess der Teilnehmer:innen erhöhte Anforderungen gestellt werden müssen. Mini publics haben sich in den vergangenen Jahren zu einer Governance-Innovation entwickelt, die insbesondere in gesellschaftlich polarisierenden Fragen aus der Pattsituation helfen soll. Wie die jüngste wissenschaftliche Literatur darlegt (Ehs und Praprotnik 2023), können sie bei sorgsamer Organisation und Einbettung in die Planungsstruktur viele der an sie gestellten Anforderungen tatsächlich erfüllen und zum gesellschaftlich umstrittenen Thema Klimawandel einen positiven Beitrag leisten. Die unabdingbare Voraussetzung hierfür ist jedoch, der Teilnehmer:innenauswahl höchste Aufmerksamkeit zu widmen.
Offenlegung: Die Evaluation des Bürgerrats Klima-Zukunft Vorarlberg wurde vom Büro für Freiwilliges Engagement und Beteiligung in Auftrag gegeben und finanziell unterstützt. Ich bedanke mich bei Katharina Toth für die Durchführung der Onlineumfragen und der teilnehmenden Beobachtung sowie bei den studentischen Mitarbeiterinnen der Universität für Bodenkultur, Rebekka Jaros und Lydia Fischkandl, für die Durchführung der Interviews.
References
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